In "Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten!" wettert der Ex-Bundesarbeitsminister* gegen Richter auf hohem Ross und Anwälte, die mit viel Geld das Recht verdrehen. Zu Lasten der "kleinen Leute", selbstredend. Lorenz Leitmeier, Strafrichter an Deutschlands größtem Amtsgericht, mit Vorschlägen zur Anpassung der richterlichen Arbeitspraxis.
Tragisch, jetzt erreicht Norbert Blüm nicht einmal mehr sein eigenes Niveau. Als Amtsrichter kann man sich dieses Gedankens kaum erwehren, wenn man nach dem Artikel in der Zeit über "berufsbedingt überhebliche" Richter nun bereits im Titel seines Buches pauschal der Willkür bezichtigt wird.
In die Falle, reflexhaft Kritik abzuwehren und die Krähen in den Nachbarbüros zu verteidigen, sollte man aber nicht gehen. Vielmehr sollte man mit dem Autor, der schon im Vorwort bekennt, vom Recht "wenig bis nichts" zu verstehen, einen klaren Blick von außen einnehmen, unbelastet von Sachkenntnis – und siehe da: Man erfährt, wie man Gerichtsverfahren in Zukunft führen kann, um endlich den "kleinen Leuten" zur Gerechtigkeit zu verhelfen.
Gerechtigkeit für die "kleinen Leute"
Blüm schildert unstrukturiert viele Fälle, weitgehend anonymisiert, in denen die wirtschaftlich unterlegenen Menschen nicht zu ihrem Recht kommen. Sie werden übervorteilt von arbeitsscheuen Richtern, die auf einen schnellen Vergleich drängen, und von gerissenen Anwälten der Gegenseite, welche die prozessualen Tricks beherrschen.
Dabei wären die Lösungen immer sehr einfach, ginge man mit gesundem Menschenverstand an die Sache heran. Wer wie Blüm die Fälle richtig lösen will, muss nur seine Arbeitspraxis ein wenig anpassen:
Familienrichter lassen sich zunächst von einer Partei, der betrogenen Ehefrau, eine Audio-Datei schicken, auf der sie den wahren Sachverhalt mitteilt und schildert, wie viel Unterhalt gerecht ist. Danach bietet sich ein telefonisches oder persönliches Interview an, bei dem man Fragen stellen kann und einen sehr viel persönlicheren Eindruck erhält.
Wahrheitsfindung, wie sie richtig geht
Um die wirklich gerechte Lösung zu finden, ist ideal ein Hausbesuch, der selbstredend nur bei der Dame durchgeführt wird und ihr, sofern sie nicht in Saus und Braus lebt, umstandslos das Sorgerecht und einen hohen Unterhalt beschert.
Bei der Rechtsfindung sehr hilfreich sind klare Richtlinien und ein einfaches Weltbild: Das Umgangsrecht ist immer einem Elternteil allein zuzusprechen, schadet doch das Wechselmodell dem Kind. Beim Unterhalt sind Vergleiche zu vermeiden; die nämlich gehen zu Lasten der Frau, weil sie die Schwächere ist.
Noch leichter haben es Strafrichter: Reiche Angeklagte, die sich wie immer freikaufen wollen, müssen die Härte des Gesetzes spüren. Die Frage nach dem Tatnachweis vernebelt die Angelegenheit.
Richtiges Glück hat man, wenn man einen "Promi-Fall" auf den Tisch bekommt, über den die Presse berichtet. Kachelmann, Hoeneß, Wulff, Ecclestone, Kirch - wie so ein Verfahren zu führen und was das richtige Ergebnis ist, weiß man, ohne eine Minute in der Verhandlung zu sein oder die Akten zu kennen.
2/2: Auch das BVerfG kann irren
Auch das BVerfG ist selbstverständlich nicht vor dem ehemaligen Minister sicher: Wenn dieses Gericht, über dem bekanntlich nur der liebe Gott ist, ein Urteil erlässt zum Ehegattensplitting für homosexuelle Paare, mit dem es einen ideologischen Rechtsbegriff verfolgt, setzt zum Glück die Natur die Grenzen: "Selbst das Bundesverfassungsgericht kann nicht ändern, dass Kinder nicht gleichgeschlechtlichen Partnerschaften entspringen."
Erstaunlicherweise lässt Blüm einen Fall aus: Sollte ein Kläger neben seiner Pension als ehemaliger Bundesfinanzminister noch eine weitere Pension als ehemaliger Ministerpräsident erhalten? Diese Rechtsansicht des Bundesverwaltungsgerichts (24.11.2011, 2 C 57.09) dürfte mit dem gesunden Menschenverstand nicht unbedingt harmonieren. Möglicherweise ist Autor Blüm hier befangen, bestimmt gilt für ihn aber: Die Pension ist sicher.
Damit tut sich ein Dilemma auf, die schöne Rechtswelt wird kompliziert: Der gesunde Menschenverstand weist zwar in vielen Fällen die richtige Lösung, aber die Gesetze stehen entgegen; § 31 BVerfGG erklärt Urteile des BVerfG für verbindlich, die Versorgungsregeln gelten auch für hohe Funktionsträger.
Berufsalternative: Politiker
Auf persönlicher Ebene könnte man das ignorieren und trotzdem so urteilen, wie man es für richtig hält. Schließlich wird das Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung von den Krähen-Kollegen doch sicher eingestellt.
Sorgen macht aber das strukturelle Problem: Entscheidungen nach dem gesunden Menschenverstand sind hoch subjektiv, jeder findet eine andere schöne Lösung. Ist das nicht letztlich Willkür?
"Es könnt' alles so einfach sein – isses aber nicht." Die Fantastischen Vier wissen das seit langem.
Wem das nun doch alles zu kompliziert wird, der muss Politiker werden. Dann kann er, bei völliger Ahnungslosigkeit, über alle Themen referieren; kann, als Mitglied der oberen Kaste, Anwalt des Volkes sein und über die da oben herziehen; und kann für schönes Geld Brandschriften gegen ein System verfassen, von dem er selbst nicht nur am meisten profitiert, sondern das er selbst mit geschaffen hat. So sind sie ja alle, die Politiker; schließlich kennt man einen, der so ist.
Der Autor Dr. Lorenz Leitmeier ist Richter am Amtsgericht München.
*Anm. d. Red.: Fälschlich stand hier zunächst, Norbert Blüm sei Finanzminister gewesen. Korrektur erfolgte am Tag der Veröffentlichung um 16:28 Uhr. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Dr. Lorenz Leitmeier, "Einspruch": Fälle richtig lösen mit Norbert Blüm . In: Legal Tribune Online, 21.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13889/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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