Der nach abendländischem Kalender tickende Teil der Menschheit beglückwünscht sich zum neuen Jahr. Die variantenmäßig überschaubaren Textbausteine enthalten üblicherweise "Gesundheit", "Glück", gern auch "Wunsch/Wünsche" sowie "Erfolg". Im juristischen Smalltalk können das sehr heikle Vokabeln sein. Schwerlich ernstgemeinte Hinweise für Silvesterfeier oder Neujahrsburnout von Martin Rath.
Wer sich gerne etwas sarkastisch durch das Zeitfenster zwischen dem 31. Dezember und dem 1. Januar hangelt und sich dabei juristensprachlicher Stricke bedient, kann seinem Gegenüber kaum ernsthaft ein "Glückliches neues Jahr wünschen, viel Erfolg – und vor allem natürlich: Gesundheit" wünschen.
Der außer Dienst gestellte Berliner Zivilrechtsprofessor Uwe Wesel definierte einst in einem populären Buch „Recht“ als das, was ein Krimineller zu spüren bekomme, wenn er den Schlagstock des Polizisten bereits vergessen habe: "There is a plenty of law in the end of a nickstick." Selbst wenn die wenigsten Menschen hierzulande in den zweifelhaften Genuss eines solchen Examinatoriums juristischer Begriffe kommen, empfiehlt es sich, die Worte zu wägen. Beginnen wir mit:
"Gesundheit", was soll das denn heißen?
"Gesundheit" wünschen gut erzogene Menschen ihren niesenden Landsleuten an 365 Tagen im Jahr. Rhinoviren sind allzeit bereit, zunehmender Beliebtheit erfreut sich auch allergisches Husten. Als wenig manierlicher Mensch gilt daher, wer das magische Wort "Gesundheit" selbst dann nicht ausspricht, wenn sein Nächster röchelt wie ein Grubenpony mit Staublunge im Steinkohlenbergwerk. Doch ist es vielleicht nicht mangelnde Höflichkeitserziehung, sondern juristische Sensibilität, die ein eifrig ausgerufenes "Gesundheit!" ebenso verbietet wie Gesundheitswünsche zum Jahreswechsel.
Für die Definition von "Gesundheit" sind nicht Ärzte, sondern Juristen kompetent. Das erkennt man am einschlägigen juristischen Dokument, das ärztliche Kunst weit hinter sich lässt. Dort heißt es: "Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen." Dieser heikle Satz findet sich in der Präambel zur "Verfassung der Weltgesundheitsorganisation" (World Health Organization, WHO), mithin einer zentralen Quelle des Völkerrechts, unterzeichnet zu New York am 22. Juli 1946.
Es bedarf keiner besonderen Allergie gegenüber dem Vorrang von Kollektiv- gegenüber Individualrechten, um es heikel zu finden, wenn Artikel 1 der WHO-Verfassung formuliert: "Der Zweck der Weltgesundheitsorganisation (im Folgenden Organisation genannt) besteht darin, allen Völkern zur Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen." In den Jahren der WHO-Gründung verstand man als primären Zweck von Gesundheitspolitik also offensichtlich die Förderung der Gesundheit "aller Völker". Im Deutschen sprach man davor schon und danach noch lange von "Volksgesundheit". Das Konzept der „Volksgesundheit“ ist bekanntlich mit dem des gesunden "Volkskörpers" verwandt. Bildlich gesprochen: Wer zu viel hustet, wird vom Schlitten gestoßen – Hauptsache, der schlittenfahrende Volkskörper kann seine Reise durch Schnee und Eis der kalten Welt unverschnupft fortsetzen.
Als normativen Befehl, für einen "Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens" zu sorgen, möchte man sich diese Gesundheitsphrase auch nicht an der Spitze einer Normhierarchie vorstellen. Stünde derlei im Grundgesetz, man müsste in Karlsruhe weiße Kittel statt roter Roben tragen.
Ein entsprechend vorgebildeter Zeitgenosse kann folglich beim magischen Höflichkeitsausruf "Gesundheit!" oder beim Gesundheitswunsch zum Jahreswechsel leicht auf den Gedanken kommen, dass es um eine hässliche Sache geht, die man einander lieber nicht wünschen sollte. Lieber mal selbst etwas für die eigene Gesundheit tun oder lassen, als sich auf Gesundheitsbegriffe mit juristischer Prägung einzulassen.
2/3: "Glück", das ist bloß eine Sache für Streber
Der kontinentaleuropäisch gebildete Jurist weiß, dass er kein Glück braucht. Es wird ihm von Staats wegen gestellt.
Das ist natürlich in den seltensten Fällen eine Anspielung aufs staatliche Glücksspiel. Denn mit Glücksspielen ernährt der Bürger bekanntlich den Staat, gerne in Gestalt ganz besonders parteipolitisch besetzter Lotterie-Gesellschaften, für deren Management es aber keines Staatsexamens bedarf. Lotterie, das ist hierzulande so wichtig, dass man den Kindern in der Schule möglichst wenig Statistik beibringt, damit sie nicht auf den Gedanken kommen, dass Glücksspiel dummes Zeug ist.
Das juristische Glücksverständnis, zumal das kontinentaleuropäische ist selbstverständlich subtiler: Ungeachtet aller begrifflichen und philosophischen Deutungskünste versteht man unter dem Staat eine Veranstaltung, die das Allgemeinwohl zum Ziel hat. In der guten alten Zeit, als Staatsoberhäupter noch gekrönt wurden und sich die Verfassung nicht mit evangelischen Pastoren als Ersatzmonarchen begnügte, kannte man den Begriff des "Allgemeinwohls" noch unter der Bezeichnung "Glück" – gemeint war in barock-absolutistischen Zeiten damit die allgemeine Wohlfahrt. Wohlfahrt, nicht im Sinn allseitiger Zwangsversicherungen und hochprozentiger Staatsquoten: Glücklich war ein Staat, frei nach dem französischen König Heinrich IV. (1553-1610), wenn noch der einfache Bauer sonntags sein Hühnchen im Eintopf hatte.
Hinter allen dogmatischen Wendungen des Staatsrechts erkennt der historisch denkende Jurist ein Stück von diesem Glück. Ein gut regierter Staat schafft, staatsrechtlich gesehen: Glück durch Verteilung von Huhn und Ei.
Mit Monarchen hatten insbesondere jene nordamerikanischen Juristen wenig am Hut (modisch betrachtet war es meist ein Dreispitz), die sich in den 1770er-Jahren zum Hochverrat gegen die englische Verwandtschaft des hierzulande so beliebten Ernst-August von Hannover verschworen. Die Ablehnung von Monarchen, die ihren Bauern ein Sonntagssuppenhuhn als Ziel des Staatsglücks versprachen, wurzelt bekanntlich im hochverräterischen Projekt namens USA so tief, dass man die Bürgerschaft zur Abwehr von Ernst-Augusts Verwandtschaft noch heute privat bis unter die Zähne bewaffnen darf.
Gegen die Verführung eines monarchistisch-absolutistischen Glücksversprechens in Gestalt von Suppenhühnern setzten die Gründungsväter der USA bekanntlich das "pursuit of happiness".
"Pursuit of happiness" wird meist als "Streben" übersetzt. Man kann es auch als ein "Nachjagen nach dem Glück" bezeichnen. Selbst wenn man es bei der freundlichen Übersetzungsvariante belässt, bleibt etwas Unfreundliches über: Wer einem anderen Glück wünscht, hält ihn für einen "Glücksstreber".
Nach kontinentaleuropäischem Verständnis braucht jedenfalls der Jurist im Staatsdienst nicht mehr nach dem Glück zu streben. Er verkörpert es längst selbst als Vertreter einer suppenhuhnverteilenden Staatsidee.
Ein "neues Jahr" wünschen – das geht 2012/2013 mal gar nicht
In Rechtsfragen sensiblen Zeitgenossen mag man zum Jahreswechsel 2012/13 ein "neues Jahr" eigentlich gar nicht wünschen, verweist das doch auf den bösesten rechtspolitischen Streit der zurückliegenden Monate. Gute Katholiken sind bei dieser Anspielung klar im Vorteil, weil sie wissen, was die heilige Katharina von Siena in getrockneter Form am Finger trug, alle anderen müssen sich vorstellen, was mit dem Christkind nach jüdischem Brauch am achten Tag nach seiner Geburt geschah.
Nein, man möchte sich nicht wirklich daran zurück erinnern, dass in den vergangenen Monaten liberale Strafverteidiger den Staatsanwälten viel Glück bei der Fahndung nach jüdischen und muslimischen Brauchtumsverbrechern wünschten, während den Verteidigern archaischer Religionspraktiken nichts besseres einfiel als davon zu sprechen, dass Deutschland sich mit ihrem Verbot nicht vor anderen Nationen lächerlich machen solle.
Der antike römische Kalender begann mit dem 1. März, das Kirchenjahr beginnt mit dem 1. Advent. In der global vernetzten Gesellschaft zunehmend präsent sind das chinesische Neujahrsfest, weil dann die "Werkbank der Welt" ziemlich stillsteht, und auch der muslimische Mondkalender mit seinen beweglichen Neujahrsdaten erfreut sich wachsender Aufmerksamkeit nicht nur, weil seine Anhänger einmal im Jahr wochenlang hungrig durchs Land schleichen.
Die Übung, den Jahresbeginn auf den 1. Januar zu legen, also auf den achten Tag nach Christi Geburt, nennen Historiker nach dem, was dem Jesusknaben widerfuhr: "Circumcisionsstil".
In diesen frischen Wunden der rechtspolitischen Diskussion will man nicht wühlen. Fraglich nur, ob der 1. Januar in den Augen aller Beteiligten einen glücklichen Schnitt repräsentiert. Glücklich zweifellos war er nur für die heilige Katharina, die den Hautring am Finger trug.
3/3: "Erfolg" erinnert Juristen schmerzlich an ihre Entbindung
Der Begriff "Erfolg" hat in den Wünschen für ein neues Jahr, soweit an einen sprachsensiblen Juristen adressiert, nichts zu suchen, erinnert das Wort doch an einen schmerzhaften Prozess der Entbindung.
Damit ist nicht etwa die Entbindung mittels zweier "erfolgreicher" Staatsexamen gemeint. Denn ein "Jurist" ist hierzulande begriffsnotwendig "erfolgreich" aus seiner Alma Mater hervorgetreten, wobei Vater Staat tokologische Funktionen übernimmt.
Um zu wissen, was "Erfolg" ist, verbringen junge Menschen Semester auf Semester an einer juristischen Fakultät und müssen dabei nicht zwingend klüger werden. Ein großes "Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil" braucht beispielsweise sechs engbedruckte Seiten, um etwas Grundsätzliches zum "Erfolg" zu sagen. Definiert wird er aber trotz der sechs Seiten nicht. Hängen bleibt erst einmal fürs Leben, dass ein "Erfolg" das ist, was der Verdächtige einer Straftat entweder bewirkt oder beabsichtigt.
Mithin kommt es nur beim Kriminellen auf Erfolg oder Nichterfolg an. Der mit dem Erfolg befasste Jurist schätzt sich schon dann glücklich, wenn er die Akte vom Tisch oder die Kosten der notwendigen Verteidigung liquidiert bekommt. Es hat schon ein "Geschmäckle", dem Juristen selbst "Erfolg" zu wünschen.
Sprachsensible Strafrechtler jedenfalls könnten sich beleidigt sehen. Alle anderen Juristen fühlen sich nur an die bittere Zeit ihrer ersten Hochschulsemester erinnert. Eines Tages sprachen sie von "Erfolg" und alle anderen Menschen verstanden nicht mehr, dass sie damit böses Handeln meinten.
Man sollte niemandem ein "erfolgreiches" Jahr wünschen, wenn ihn dies schmerzen könnte.
"Wünschen", ist das nicht überhaupt ein Wahnsystem?
Schmerzhaft erinnert sich der Verfasser dieser Zeilen an ein erstes Jurasemester. Vorne turnte ein Professor die Begriffe des "StGB, Allgemeiner Teil" vor. Nicht, weil der "Prof." sich als Anthroposoph aufs Vortanzen von Wörtern verstanden hätte, sondern weil der Hörsaal so voll war, dass sich manch evangelischer Landpastor beim Anblick solcher Menschenmassen wie der Papst in Polen fühlen müsste.
Hinten, da saßen junge Fräuleins, gut frisiert mit Perlenkettchen, und unterhielten sich über die seinerzeit populären TV-Serien: "Buffy – im Bann der Dämonen" oder "Akte X".
Vor 300 Jahren lernten die Strafrichter von aufgeklärten Professoren, dass sie in ihrem Berufsalltag Zeit verschwendeten, wollten sie weiterhin nach Art von "Buffy" oder "Akte X" auf Verbrecherinnenjagd gehen. Rechtshistorischer Erfolg der professoralen Bemühungen war damals: Man beendete die Hexenverfolgungen. In die Lehrbücher zum "StGB, Allgemeiner Teil" fanden feinsinnige Unterscheidungen zwischen psychischen Wahnkonstrukten und "psychischer Kausalität" Einzug. Eine Frau, die fremde Menschen mit Schadenszauber belegt, wird hierzulande vermutlich nicht mehr wegen Köperverletzung oder Mord belangt. Männer vom Sirus sind hier die Ausnahme von der Regel.
Einem fremden oder vertrauten "Wunschnehmer" etwas zu wünschen, worauf der "Wunschgeber" im Sinn naturwissenschaftlicher Kausalität entweder keinen Einfluss hat ("Gesundheit? – Studier‘ Medizin!" – "Glück? – Schenk‘ mir ‚6 Richtige‘!") oder im Sinn sozialer Bestimmung nicht haben will ("Erfolg? – Ich bleibe legal!"), changiert deshalb zwischen Wahnkonstrukt und psychischer Kausalität.
Die Wünscherei hält man also nur durch, weil einem die Welt der schwatzhaften Perlenkettchenträgerinnen im Zweifel doch näher bleibt als die intellektuelle Hochakrobatik eines "Allgemeinen Teils".
In diesem Sinn: Schönes Neues!
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Auslegungssache Neujahrsgruß: Ein semijuristischer Interpretationsversuch . In: Legal Tribune Online, 31.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7875/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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