Was 2016 im Recht bringen wird? Der Prognose hilft ein Blick in die Vergangenheit. Wie schnell hat man sich an erstaunliche Rechtsentwicklungen gewöhnt? Martin Rath über Pranger in 2006, Richter-Komplexe 1946 und das gar nicht goldene 1926.
Was das neue Jahr im Recht bringen wird, das schlagen wir im Gesetzblatt unseres Vertrauens nach oder enträtseln es aus den Windungen der Dogmatik, der aktuell laufenden Gesetzgebung und anhängigen Verfahren.
Der europäische Einigungsprozess erzeugt offenbar nicht mehr jene Hoffnungen, die über Jahrzehnte in ihn gesetzt wurden, weltweite Migrationsbewegungen kündigen sich vielleicht eher an, als dass sie Menschen bereits in wirklich großer Zahl nach Europa und Deutschland geführt hätten. Und was ist heutzutage schon ein großer Tarifkonflikt bei der Lufthansa gegen eine ernsthafte Wirtschaftskrise in China?
In der Unübersichtlichkeit der Gegenwart und – womöglich nahen – Zukunft tut vielleicht ein Blick in die Vergangenheit, auf ihre erstaunlichen Rechtsentwicklungen und die Reaktionen der Menschen darauf gut Ein kleiner Marsch in Zehn-Jahres-Schritten zurück bis ins Jahr 1916 …
2006 – Der neue Pranger
Auf eine Trunkenheitsfahrt folgt die richterliche Anordnung, sich mit dem Schild „I am a drunken driver“ in die Öffentlichkeit zu stellen. Wall-Street-Banker finden sich nach dem Urinieren auf der Straße wieder – mit dem Befehl, sie zu reinigen.
Am bekanntesten aber ist natürlich die Pflicht sogenannter Sexualstraftäter (Sex Offenders), sich der Nachbarschaft als solche vorzustellen. Mitunter weit jenseits aller europäischen Vorstellungen von Verhältnismäßigkeit liegen dem teilweise Sexualdelikte zugrunde, die z.B. in der Verletzung rigider Altersgrenzen bestehen.
"Die Renaissance der Ehrenstrafe macht den europäischen Betrachter ratlos: Ist die amerikanische Rechtspolitik in einer anachronistischen Wendung auf eine Sanktionsart einer vergangenen Zeit gestoßen? Oder sind die shame sanctions nur ein weiteres Zeichen dafür, dass die amerikanische Gesellschaft nicht etwa einem kulturellen Standard Europas hinterher hinkt, sondern einer möglichen Entwicklung diesseits des Atlantiks voraus eilt?"
Ist das Recht der Prangerstrafe Teil nur der Gegenwart und Vergangenheit der USA – oder auch Teil unserer Zukunft? Vor zehn Jahren fragte dies Michael Kubiciel, damals Assistent, heute Strafrechtsprofessor in Köln (Shame Sanctions – Ehrenstrafen im Lichte der Straftheorie, ZStrW 2006, S. 44-75).
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft können im Recht beunruhigend nah beieinanderliegen.
Bild: Martin Rath
1996 – Gesetzgebung zur Bekämpfung von ________________
"Gesetzgebung zur Bekämpfung _____________ ____________ ist tendenziell von Unehrlichkeit geprägt. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: Zum einen werden überzogene Lageschilderungen eingesetzt, um zu untermauern, daß entsprechende Gesetze notwendig seien. Vor allem aber wird mit den dramatisierenden Gesetzesbegründungen suggeriert, daß eine auf ____________ ____________ maßgeschneiderte Problemlösung möglich sei."
Vor 20 Jahren publizierte die damals als Assistentin, heute als Strafrechtsprofessorin in Berlin lehrende Tatjana Hörnle zu den typischen Verlaufsformen strafrechtlicher Gesetzgebung in Deutschland (ZStrW 1996, 333-353). Ihr Beispiel: "Die Vermögensstrafe".
Im zeitlichen Abstand fragt man sich, mit welchen dämonischen Machenschaften der Gesellschaft die strafrechtlichen Staatsaktivitäten in den 1980-er/1990-er Jahren begründet wurden. Um es zu verraten: Damals war über den Auslassungsstrichen oben im Zitat "organisierte(r)" und "Kriminalität" zu notieren.
Heute fände sich dort wohl der internationale Terrorismus. Für Morgen wird sich schon die nächste Bedrohung finden, die der Gesetzgeber durchs mediale Dorf treiben kann.
Bild: Martin Rath
1986: Ein Ministerium für Frauen
In der Geschichte der Frauenrechtsbewegung findet sich selten etwas wirklich Neues. Über Prostitution schreibt Alice Schwarzer beispielsweise kaum anderes als ihre Vorgängerinnen zu Zeiten von Kaiser Wilhelm II. Bildungsbenachteiligte Knaben haben keine Konjunktur, weil seit 150 Jahren über die nie schwindende Chancenlosigkeit von Mädchen gesprochen wird. Lebenslustige evangelische Pastorinnen von lesbischer Konfession ereifern sich seit Jahrzehnten über die Männerwirtschaft der Papisten.
Am 6. Juni 1986 aber feierte die westdeutsche Frauenbewegung einen historisch einmaligen Sieg: Die bisher als Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit firmierende Pädagogikprofessorin Rita Süssmuth amtierte fürderhin als Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Deutschland hat seither eine Bundesministerin, die auch für Frauen zuständig ist – und niemand lacht über die merkwürdige Firmierung einer Behörde, die für rund die Hälfte der Bevölkerung zuständig sein will und die andere Hälfte als Bringschuldige ihrer rechtspolitischen Forderungen betrachtet.
Möglicherweise dem heiligen Ernst der damals erschütternd erfolgreichen Frauenbewegung etwas entgegensetzen wollte Günther Kaiser, der in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1986 ein ewig wiederkehrendes Thema der Kriminologie aufwärmte: "Das Bild der Frau im kriminologischen Schrifttum". Die Damenwelt kommt dort ja traditionell eher wenig vor.
Eine erhöhte Straffälligkeit der Frau konnte Kaiser immerhin schon feststellen. Am Gender Mainstreaming musste aber noch gearbeitet werden. Dafür, dass mit dem Wort "Verbrecher" nicht allein Männer gemeint sein dürften, musste Kaiser noch argumentieren. Gut, dass wir heute stets auch die Frau mitdenken, wenn wir von Verbrecher*innen oder VerbrecherInnen reden.
Bild: gemeinfreies Werk
1976 – Das brandneue Strafvollzugsgesetz und die Freiheit in der Therapie
Ja, was ist denn schon dabei? Seit den 1970-er Jahren haben psychologisch und psychotherapeutisch gestaltete Therapien einerseits ungeheure Konjunktur, nicht zuletzt unter Menschen, die nur ein wenig wohlstandsmüde sind – um nicht das Klischee der gelangweilten Ingenieursgattin zu bemühen, die von der reichen Technikerkrankenkasse ein "rent a friend" bezahlt erhält.
Andererseits werden bis heute erhebliche Defizite beklagt, was die seelenkundliche Versorgung der Suchtkranken und der Straffälligen, der Depressiven und der akut auto- und fremdaggressiven Menschen angeht.
Angesichts der heutigen Verteilung von Überfluss und Mangel an Therapieangeboten wirkt ein Aufsatz von Bernhard Haffke (1943–) aus dem Jahr 1976 über das Zuviel und Zuwenig im therapeutischen (Teil-) Ansatz des damals brandneuen Strafvollzugsgesetzes relativ niedlich. Grob formuliert fragt Haffke im Jahr 1976, wie sich der Gedanke von Freiheit in der Therapie mit der Realität von Freiheitsentzug in der Haft vereinbaren lasse.
Damals immerhin hat das Wenige an therapeutischer Leistung noch große Hoffnungen (und Befürchtungen) geweckt: "Über den Widerspruch von Therapie und Herrschaft exemplifiziert an grundlegenden Bestimmungen des neuen Strafvollzugsgesetzes", ZStrW 1976, S. 607-652. Heute nehmen wir Mangel und Verschwendung öffentlicher Mittel hier einfach hin.
Bild: "Klapperfeldstrasse-ffm003" von I, Dontworry. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
1966 – Landesverrat nach der Spiegel-Affäre und die Mosaiktheorie
Die "Spiegel"-Affäre hatte die Justiz und ihre Kritiker 1962 daran erinnert, dass sich auch Journalisten wegen Landesverrats verdächtig machten, wenn sie dem Feind im Osten die Arbeit dadurch erleichterten, dass sie öffentlich bekannte Details zu diskretionsbedürftigen Staatsangelegenheiten nur neu zusammenstellten und publizierten.
Walter Stree, Strafrechtsprofessor in Münster, erinnerte an die seiner Meinung nach antiquierte Rechtsprechung des Reichsgerichts, das 1893 "die Zusammentragung von Einzelheiten über die Beschaffenheit der deutschen Küste von Emden bis Kiel als Gesamtbild [als] einen geheimhaltungsbedürftigen Gegenstand" deklariert hatte. Gehandelt wird diese Konstruktion als "Mosaiktheorie" – nicht das Detail ist ein Geheimnis, sondern das aus der Verarbeitung der Daten entstehende Gesamtbild.
Das fand Professor Stree überholt: Damals hochmoderne Weltraum-Spionagegeräte wie der US-amerikanische Satellit „Samos“ machten derlei Rechtsprechung obsolet.
Eine heitere Zeit der Staatsschutzdiskussion muss das gewesen sein, abgedruckt in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1966, S. 663-694. Heute braucht das Mosaik Vertraulichkeit, das Mosaikgewimmel und erst recht den Kit zwischen den Steinchen – die Metadaten.
Bild: Freies Werk, Quelle
1956 – Zwischen Märchenland und Moderne
Wenn man sich fragt, woraus die "gute alte Zeit" wohl bestanden haben mag, von der manche Leute träumen: Das Bundeskriminalamt scheint in den 1950-er Jahren mit der Behauptung durchgekommen zu sein, dass 75 Prozent aller angezeigten Straftaten in Deutschland aufgeklärt würden. Diese amtliche Statistik referierte der hessische Justizbeamte Albert Krebs 1956 ganz ernsthaft.
Entweder waren Polizistendamals nur schwer dazu zu bewegen, Anzeigen aufzunehmen, oder das BKA konnte mit märchenhaften Statistiken aufwarten.
Trotz aller Märchenhaftigkeit brachen sich aber 1956 auch moderne kriminalwissenschaftliche Erkenntnisse Bahn: Zur Rückfallkriminalität stellte Krebs kundig fest, dass nach der Entlassung eines Inhaftierten "die gesteigerte unbefriedigte Sexualität zu strafbarer Befriedigung führt oder [der Häftling], vom Alkohol entwöhnt, durch dessen übermäßigen Genuß alsbald kriminell enthemmt" werde.
Man kann nicht behaupten, dass die Erkenntnisse des hessischen Justizbeamten Albert Krebs (1897-1992) aus der "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" von 1956 überholt sind. Die Drogen mögen andere sein. Die Probleme rückfälliger Ex-Häftlinge sind es nicht.
Bild: Beademung (Gefängnis Tongeren Belgie), via Wikimedia Commons
1946 – Richter mit Minderwertigkeitskomplex?
Der liberale Freiburger Generalstaatsanwalt Karl S. Bader (1905-1998) attestierte den deutschen Juristen im Allgemeinen, den Richtern im Besonderen, 1946 einen "Minderwertigkeitskomplex", der unter anderem darauf beruhe, dass die Justizangehörigen im Vergleich zur Verwaltung nie sonderliches Ansehen in Deutschland hätten gewinnen können.
"Minderwertigkeitskomplex", das war damals noch kein Wort, mit dem sich i-Dötze auf dem Waldorfschulhof beschimpften, sondern hatte noch den Anklang von echtem psychiatrischem Krankheitswert.
"Der wahre Richter fühlt sich auch nicht minderwertig, sondern er hat vielleicht – was etwas ganz anderes ist – ein bitteres Gefühl, zu Unrecht zurückgesetzt zu sein", erwiderte darauf ein Landgerichtsrat Schürholz: "Das liegt aber nicht an ihm, sondern hat seinen Grund in den falschen Maßnahmen und der falschen Wertung seitens des Staates."
Kaum war der Krieg vorbei und Papier für den Druck der "Deutschen Rechts-Zeitschrift" vorhanden, stritt man sich über Statusfragen des Richterstandes, dort zu finden auf den S. 33-36 und 175-176. Die einzig pragmatische Forderung, Richter wie anderenorts aus der Anwaltschaft zu rekrutieren, blieb unerhört – davon abgesehen sehen richterliche Leserbriefe bis heute selten anders aus als 1946.
Bild: Bundesarchiv, Bild 183-J03238 / CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
1936 – Nulla poena sine lege stand nicht allzu hoch im Kurs
Zwangssterilisation und Volksgerichtshof, Todesstrafe für Kleindiebstahl und Rassengesetze gegen jüdische Deutsche – die Brutalität und Absurdität des Rechts im NS-Staat lassen b sich an vielen bekannten Beispielen illustrieren. Aber manchmal tut es auch der böse Mann im Wald.
Seit dem 1. September 1935 drohte § 292 Strafgesetzbuch "gewerbs- und gewohnheitsmäßigen" Wilderern "Gefängnis nicht unter drei Monaten, in besonders schweren Fällen… Zuchthaus bis zu fünf Jahren an". Vorher kannte das StGB nur einen Strafrahmen von bis zu drei Monaten Gefängnis.
Doch was tun, wenn der böse Mann im Wald nach dem 1. September 1935 nur eine einzige Wilderei-Tat begangen hatte, in der Zeit davor aber "gewohnheitsmäßig" in fremdem Forst den Wildtieren nachgestellt hatte? Mit Urteil vom 6. Februar 1936 (Az. 3 D 23/36) bestätigte das Reichsgericht eine Verurteilung durch das Schwurgericht Hannover, die Zeiten vor dem Sommer 1935 einbezogen hatte. Nulla poena sine lege stand nicht allzu hoch im Kurs.
Hermann Göring, unter dessen zahllosen Ämtern auch die des Reichsforstmeisters und des Reichsjägermeisters waren, wird es gefallen haben, dass das Reichsgericht mit dem Verbrecher im Walde so harsch aufräumte. Seiner selbst konnte sich erst zehn Jahre später die Justiz der alliierten Siegermächte annehmen.
Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1979-145-04A / CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
1926 – Keine "Goldenen Zwanziger", aber Lustiges im Archiv der civilistischen Praxis
Im Geschichtsunterricht hören die Kinder heutzutage, dass es eine kurze Zeit gab, in der die Republik von Weimar eine Überlebenschance hatte, in der es wirtschaftlich und politisch aufwärts ging.
Allzu golden war auch diese Zeit nicht. Im "Archiv für civilistische Praxis" fragte beispielsweise der Bonner Professor Gerhart Husserl (1893-1973) nach der „Rechtskraft des sogenannten Papiermarkurteils“, also nach den zivilrechtlichen Folgen der Hyperinflation der vorangegangenen Jahre. Die wirtschaftliche Katastrophe war ein Hauptgegenstand der juristischen Diskussionen.
Golden war die Zeit also nicht, aber man durfte sogar im ehrwürdigen "Archiv" wieder launige Aufsätze veröffentlichen. Der Tübinger Professor Max (von Rümelin klärte über den "Grenzbock im Zivilrecht" (Archiv für Civilistische Praxis 1926, S. 88-94) auf, eine typische Juristenschrulle: Das Oberlandesgericht Celle hatte am 20. März 1925 zum Unwillen der Rechtswissenschaft über die Rechte an einem Rehbock befunden, der auf der Grenze zwischen zwei Jagdrevieren geschossen worden war, was dem Jägersmann eine Verurteilung wegen Jagdvergehens einbrachte – das Hinterteil des Viechs lag beim Nachbarsjäger.
Bild: Bobspicturebox (Own work) CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
1916 – Die Weltgeschichte als Weltgericht
Im Kriegsjahr 1916 wird in Deutschland zwar das Mehl knapp, an den Sieg glaubt man aber nach wie vor gern. Von den Juristenkollegen, mit denen man sich wenige Jahre zuvor noch auf Kongressen über die Erfahrungen des brandneuen Jugendstrafrechts oder das Verbot des Mädchenhandels unterhalten hatte, fühlt man sich zwar verraten.
Aber die Wehleidigkeit der Nachkriegsjahre kündigt sich erst an. In der "Deutschen Juristen-Zeitung" macht sich der Wirkliche Geheime Rat Dr. Richard Förtsch, Senatspräsident beim Reichsgericht a.D. Gedanken über die "Weltgeschichte als Weltgericht".
Angesichts der Lückenhaftigkeit und Schwäche des Völkerrechts bleibe nur die Geschichte als Instanz, vor der Staaten Rechenschaft ablegen müssten. Als betagter Mann, Förtsch wurde 1837 geboren und starb 1916, und als Experte für das rheinische, also das französische Recht in Deutschland, konnte der Reichsgerichtsrat a.D. auf überschäumenden Kriegspatriotismus verzichten. Sein lesenswertes Stück über die Metapher vom Weltgericht ist nachzulesen in der Deutschen Juristen-Zeitung 1916, Sp. 90 (PDF).
Eine bekanntere Anklageschrift zum Weltgericht lieferte bald darauf der Wiener Journalismus- und Justizkritiker Karl Kraus unter dem Titel "Die letzten Tage der Menschheit". Sie gehört noch viel mehr gelesen.
Bild: gemeinfreies Werk
Martin Rath, Für das Recht in 2016: Ein Jahrhundertrückblick . In: Legal Tribune Online, 01.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18008/ (abgerufen am: 24.09.2023 )
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