Im März 1933 wurden jüdische Juristen schikaniert, misshandelt und verfolgt. Tillmann Krach, Georg D. Falk und Sebastian Felz erinnern an diese Wochen und an den "Boykotttag" jüdischer Kaufleute, Ärzte und Juristen am 1. April 1933.
Im historischen Gedächtnis wird der 1. April 1933 gemeinhin an den von den Nationalsozialisten für jenen Samstag – zwei Monate nach ihrer Machtübernahme – ausgerufenen "Boykotttag" erinnern. Mit dem Slogan "Deutsche wehrt Euch! Kauft nicht beim Juden" positionierten sich SA-Männer ab 10 Uhr in bedrohlicher Haltung vor jüdischen Kaufhäusern und Einzelhandelsgeschäften. Der Davidstern wurde über tausenden von Hauseingängen und Fenstern zusammen mit antisemitischen Parolen angebracht.
In ganz Deutschland kam es zu Misshandlungen und willkürlichen Verhaftungen jüdischer Mitmenschen und der Zerstörung ihres Eigentums. Die Polizei griff nur selten ein. In Bonn forderte die NSDAP-Kreisleitung: "Keinen Pfennig jüdischen Geschäften, jüdischen Anwälten und Ärzten. Wer es dennoch tut, fällt uns und damit dem deutschen Volk in den Rücken."
"Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!"
Auch Ärzte und andere freiberuflich Tätige mussten an diesem Tag ihre Berufsausübung zwangsweise einstellen. Eine der ausgegebenen Parolen lautete: "Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!". Unerwähnt bleibt oft, dass sich der Terror – definitionsgemäß die Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt – schon in den Wochen zuvor gegen jüdische Geschäfte richtete, aber sich auch an vielen deutschen Gerichten ausgetobt hatte: Gebäudebesetzungen sowie Verhaftungen und Misshandlungen einzelner Richter und Anwälte gab es am 9. März 1933 in Chemnitz, am 18. März in Oels, am 24. März in Gleiwitz, am 28. März in Frankfurt/Main, Duisburg, Dortmund und Hagen am 29. März in Görlitz und Münster.
Der "Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" forderte auf einer Tagung in Leipzig am 14. März, alle deutschen Gerichte "einschließlich des Reichsgerichts" von jüdischen Richtern und Beamten unverzüglich zu "säubern", jüdischen Rechtsanwälten die Ausübung ihres Berufs an allen Gerichten zu sperren und denen, die Mitglieder der SPD oder KPD waren, die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft überhaupt zu entziehen.
"Juden raus"!
Am 11. März 1933 überfiel die SA das Amts- und Landgericht in Breslau. Die gleichgeschaltete Polizei griff nicht ein, während rund 25 SA-Männer durch das Gericht tobten, "Juden raus! " schrien und Richter, Staatsanwälte und Anwälte jüdischer Abstammung aus dem Gebäude jagten, einige von ihnen unter schweren Misshandlungen. Einige Richter versuchten, ihre jüdischen Kollegen zu schützen.
Einer der Betroffenen war der Rechtsanwalt Ludwig Foerder. Er berichtete in seinen Erinnerungen, wie das Auftauchen der SA ihn paralysierte. Er versuchte dann, einen Angreifer, der ihn am Arm packte, abzuschütteln, worauf dieser einen Totschläger hervorholte und Foerder zwei heftige Hiebe auf den Kopf gab. Unter starken Schmerzen erreichte Foerder das Dienstzimmer des aufsichtführenden Richters. Dort wurde die Polizei alarmiert, die aber nicht einschritt.
Im selben Moment erschien der Anführer des SA-Trupps und meldete, er sei gekommen, um auf "Befehl von oben [...] das Gericht von Juden zu säubern". Der SA-Mann fragte den anwesenden Richter, ob der Anwalt ein Jude sei, was dieser zu Foerders Entsetzen bejahte. Dank seines Widerstandes gelang es Foerder, das Gebäude ohne weitere Verletzungen zu verlassen. Am Ausgang erhielt er einen letzten Fußtritt in den Rücken.
Nicht-jüdische Rechtsanwälte in Breslau streikten nach Überfall
Zu gleicher Zeit erreichten die nicht-jüdischen Rechtsanwälte nach längeren Verhandlungen, dass sie sich am Nachmittag unter Aufsicht der SA und unter Ausschluss der jüdischen Kollegen besprechen konnten. Bei dieser Versammlung, an der auch einige Richter und Staatsanwälte teilnahmen, erklärte man mit 125 Stimmen bei zwölf Gegenstimmen, dass der SA-Überfall zu einem Stillstand der Rechtspflege geführt habe. Deshalb seien alle für den 13., 14. und 15. März 1933 bei Land-, Amts- und Arbeitsgericht anstehenden Termine aufzuheben seien.
Der damalige Präsident des Oberlandesgerichts (OLG), Max Witte, folgte diesem spontanen Beschluss aber nicht. Dennoch berichteten die Zeitungen über dieses dreitägige "Justitium" und in der Tat fanden nur wenige Verhandlungen statt. Allerdings fügten sich auch in Breslau die nicht-jüdischen Richter, Staatsanwälte und Richter dem NS-Regime: Der "Einfluss jüdischer Rechtspflegeorgane" müsse eingedämmt werden. Von über 200 jüdischen Anwälten sollten nun nur 17 vor den Gerichten der Stadt auftreten dürfen, so dass der Gehalt der Widerständigkeit des Justizstreiks umstritten ist.
Demütigungen und Schikanen
Nicht nur in Breslau, sondern reichsweit übte die SA Rache an verhassten Anwälten der Linken: Am 12. März wurde in Kiel Rechtsanwalt Spiegel erschossen, am 29. März Rechtsanwalt Joachim in Berlin zu Tode geprügelt. Zwei Tage später spitzte sich die Lage zu: In Köln stürmten Angehörige der SA und SS das OLG, zwangen jüdische Richter und Anwälte, einen Müllwagen zu besteigen und fuhren mit ihnen durch die Stadt.
Der OLG-Präsident kommentierte entsprechend, der Abtransport sei "in Robe" erfolgt, obwohl diese doch das "Amts- und Ehrengewand auch der deutschstämmigen Richter und Rechtsanwälte" sei. Am 31. März 1933 wurden 60 jüdische Richter und Anwälte am OLG Köln für einige Stunden in Schutzhaft genommen. Am gleichen Tagen wurde jüdischen Anwälten der Zugang zum OLG Hamm versperrt. Auch in Königsberg wurden sie gar nicht erst in die Gerichtsgebäude hereingelassen.
Am selben Abend wurden alle OLG-Präsidenten per Erlass angewiesen, "allen amtierenden jüdischen Richtern nahezulegen, sofort ihr Urlaubsgesuch einzureichen und diesem sofort stattzugeben". Bei Weigerung sollte ihnen das Betreten der Gerichtsgebäude "kraft Hausrechts" verboten werden. Darüber hinaus sollten "ab morgen früh 10 Uhr nur noch bestimmte jüdische Rechtsanwälte" vor Gericht auftreten dürfen.
"Sind Sie arisch?"
In Berlin waren schon vor dem 1. April zahlreiche jüdische Richter umgesetzt worden, nachdem der "Völkische Beobachter" gegen Moabit (Sitz des Kammergerichts) als "Neu-Jerusalem" gehetzt hatte. Auch am Reichsgericht hatte es schon Beurlaubungen gegeben. Dennoch besetzte die SA die Gebäude des Landgerichts I und des Amtsgerichts Mitte. Adolf Arndt, später einer der wichtigsten Rechtspolitiker der jungen Bundesrepublik, setzte sich über das ausgesprochene Hausverbot hinweg, fand aber nach Passieren der bewaffneten SA-Posten seinen Platz in der Strafkammer durch einen vom Präsidium bestellten „arischen“ Ersatzrichter besetzt.
Die Nationalsozialisten drangen auch ins Kammergericht ein und zwangen jüdische Richter und Anwälte zum Verlassen des Gebäudes, wie es der spätere Publizist Sebastian Haffner – damals Referendar – eindrücklich geschildert hat. In seiner "Geschichte eines Deutschen" schreibt Haffner, wie in der Arbeitsstille der Bibliothek der Lärm des Rollkommandos der SA immer deutlich vernehmbar wurde. Jemand bemerkte: "Die schmeißen die Juden raus", woraufhin einige Referendare lachten. Andere schlugen ihre Bücher zu, stellten sie sorgfältig in die Regale, verstauten ihre Akten und gingen hinaus.
Ein Bediensteter des Kammergerichts rief: "Die SA ist im Haus. Die jüdischen Herren tun besser, für heute das Haus zu verlassen". Sitzungen mit jüdischen Richtern, Staatsanwälten oder Anwälten wurden unterbrochen, die Betreffenden zogen ihre Roben aus und mussten eine mit SA-Männern flankierte Treppe zum Ausgang nehmen. Im Anwaltszimmer wurde ein ehemaliger Hauptmann der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg misshandelt und verprügelt, da er sich "gewehrt" hatte.
Auch in die Bibliothek stürmte ein SA-Mann ("Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen") und kam auf Haffner zu: "Sind Sie arisch?“, "Ja", antwortete Haffner und schreibt in seinen Erinnerungen weiter: "Ich hatte ‚ja‘ gesagt! […] Welche Demütigung, Unbefugten auf Befragen pünktlich zu erklären, ich sei arisch – worauf ich übrigens keinen Wert legte. Welche Schande, damit zu erkaufen, dass ich hier hinter meinem Aktenstück in Frieden gelassen würde! Überrumpelt auch jetzt noch! Versagt in der ersten Prüfung! Ich hätte mich ohrfeigen können."
"Tag der deutschen Schande"
Der Berliner Rechtsanwalt und Journalist Rudolf Olden resümierte ein Jahr später, mit dieser Aktion – also dem "Boykott" am 1. April 1933 – habe sich das offizielle Deutschland nicht nur gegen die Juden, sondern gleichzeitig auch gegen die "Gesetze der Zivilisation" gewendet. Hier sei ein "Trennungsstrich gezogen" worden.
Aber es war nicht nur das offizielle Deutschland. Der frühere Frankfurter Richter Ernst E. Hirsch, der die Zeit in der Türkei überlebt hatte, beklagte: "Nicht die sog. 'Kristallnacht' vom November 1938, sondern der 'Judenboykotttag' am 1. April war der 'Tag der deutschen Schande', der den mangelnden Widerstandswillen der Bevölkerung gegen Willkür der NSDAP deutlich machte und diese zu weiteren Willkürmaßnahmen ermutigte."
Der Autor Dr. Tillmann Krach ist Rechtsanwalt in Mainz und Vorsitzender des Vereins "Forum Anwaltsgeschichte" e. V.
Der Autor und ehemalige Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main Dr. h. c. Georg D. Falk ist Mitglied des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen und Mitautor der Studie "Willige Vollstrecker oder standhafte Richter? Die Rechtsprechung des Oberlandesgericht Frankfurt am Main in Zivilsachen von 1933 bis 1945" (Marburg 2020)
Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte e. V.
NS-Terror gegen Richter und Rechtsanwälte: . In: Legal Tribune Online, 25.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51397 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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