Die Nacht, der Schlaf, das Schlafwandeln. Scheint so, als ob die Nacht als Rechtsproblem mehr Juristen nährt als die Macht. Schlafende Richter, die Gesetzgeber des "Großdeutschen Reichs" und des österreichischen Imperiums – überall Nacht- und Machtprobleme. Sogar in der Ostergeschichte findet sich ein juristisches Nacht-Problem. Von Martin Rath.
In den ersten zehn Minuten nach dem Aufwachen erreichen Menschen nur knapp zwei Drittel ihrer Leistungsfähigkeit. In einem Test, den der US-amerikanische Schlafforscher Adam Wertz 2006 vornahm, sollten die Probanden einfache Rechenaufgaben lösen. Eine Minute nach dem Aufwachen wurden nur 65 Prozent der Aufgaben richtig gelöst, gibt Peter Spork in seinem "Schlafbuch" die Ergebnisse wieder. Eine Vergleichsgruppe, die unter 26-stündigem Schlafentzug stand, schaffte 85 Prozent.
Erfreulich für die Geschädigten, wenn Richter es nicht ganz genau nehmen müssen. Erfreulich für den Leser ist es manchmal, dass rechtswissenschaftliche Fachzeitschriften keine Bilder enthalten: In seinem Urteil vom 2. Oktober 1985 (Az. 8 U 100/83) leitet das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf ein insgesamt ziemlich unappetitliches Stück juristischer Prosa ein: "Der am 17.7.1951 geborene Kläger erhielt am 12.10.1975 kurz vor 17 Uhr beim Fußballspielen einen Tritt gegen den Hodensack."
Was dann am gleichen Tag nach 21.30 Uhr im später verklagten Krankenhaus geschah sowie bei einer Anzahl von stationären Spital-Aufenthalten im späteren Verlauf, möchte man sich nicht bildlich vorstellen. Das Urteil dokumentiert unschöne Vorgänge wie "Refobacin-Injektionen" oder das "Spalten der entzündlich ödematös stark geschwollenen Hodenhüllen und Excision eines etwa daumengroßen, dunkelbraunen, gangränösen Hodenrestes".
Wer will da noch Fußball spielen.
Beim Ausdeklinieren der Rechtsfolgen braucht es glücklicherweise nicht so vieler Worte wie bei der Beschreibung des Schadens. Das OLG stellt fest: "Auch der Nacht- und Sonntagsdienst ist im Krankenhaus grundsätzlich so zu organisieren, daß für den Patienten auch in Not- und Eilfällen der Standard eines Facharztes gewährleistet wird."
Gäbe es einen "Fachanwalt für Nachtrecht", er hätte den Sachverhalt wohl noch weiter aufspalten können: Ob der möglicherweise fehldiagnostizierende Arzt frisch aus dem Schlaf geschreckt oder vom mitbeklagten Krankenhaus durch berufstypische Übermüdung geschunden wurde. Ob sich aus solch faktischen Unterschieden nicht noch haftungsrechtliche Windungen drehen ließen? Glücklicherweise wird derlei über einen einheitlichen Prüfmaßstab gemessen.
Biblisches Nachtverhandlungsverbot
Viel vom körperlichen Martyrium, dafür wenig juristische Substanz, so muss man leider erst recht die biblische Ostergeschichte einordnen. An einem Donnerstagabend wurde, so die Überlieferung, Jesus verhaftet. Es folgte, glaubt man den Jahrzehnte später entstandenen Aufzeichnungen, noch in der Nacht eine Verhandlung vor dem "Hohen Rat" des Tempels zu Jerusalem, am Freitag dann ein kurzer Prozess vor dem römischen Präfekten samt "standrechtlicher Kreuzigung". Was dabei an materiellem Strafrecht angewendet wurde, ist strittig. Eine ausführliche Abhandlung findet sich bei Gerhard Otte, Professor für Zivilrecht und Rechtsgeschichte ("Neues zum Prozeß gegen Jesus?", NJW 1992, S. 1019 ff.).
Problematisch ist auch ein Aspekt des Prozessrechts: Nach später mehrheitsfähigem jüdischem Recht (dem Recht der "Mischna"), heißt es bei Otte, "hätte z. B. nicht nachts verhandelt werden dürfen, und die Verurteilung hätte auf den Tag nach der Verhandlung verschoben werden müssen". Aus diesem Rechtsgrund wurde der Wahrheitsgehalt der biblischen Überlieferung mitunter in Zweifel gezogen: Es gab doch das Nacht-Verhandlungsverbot. Otte ist hier vorsichtiger: "Ein Jurist wird diesen Schluss vom Sollen auf das (Nicht-) Sein jedenfalls nicht so schnell wagen, wie es Theologen offenbar tun. Und: Ist nicht gerade das Alte Testament voll von Klagen über Rechtsbrüche der Richter?"
2/2: Atmung zeigt Schläfrigkeit
Ob ein Nachtverhandlungsverbot beim vielleicht folgenreichsten Prozess der Geschichte einschlägig war und dann auch angewendet wurde, kann dahinstehen, solange es Richter gibt, die doch lieber schläfrig Schicksal spielen (lassen). Jeden, nur nicht die beteiligten Richter dürfte aufschrecken lassen, was das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am 24. Januar 1986 (6 C 141/82) in ein Urteil schrieb, das einen Kriegsdienstverweigerung der Bundeswehr überantwortete: Zwar gehöre, so das BVerwG, zur vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts, dass die Richter "körperlich und geistig in der Lage sind, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen".
Auch dass "etwa tiefer Schlaf dazu" führe, dass ein "Richter der Verhandlung nicht mehr folgen" kann, räumt das oberste Verwaltungsgericht noch ein, ist danach aber nicht allzu streng mit den Kollegen: "Jedoch sind selbst Zeichen einer großen Ermüdung, Neigung zum Schlaf und das Kämpfen mit dem Schlaf noch kein hinreichendes Anzeichen dafür, daß der betr. Richter die Vorgänge in der mündlichen Verhandlung nicht mehr wahrnehmen kann."
Weil sogar noch ein langes Schließen der Augen – "selbst wenn es sich nicht nur auf wenige Minuten beschränkt, beweist noch nicht, daß der Richter schläft" – auch zur "geistigen Entspannung oder zwecks besonderer Konzentration eingenommen werden" könne, dürfe erst dann vom Schlaf oder geistiger Abwesenheit ausgegangen werden "wenn andere sichere Anzeichen hinzukommen wie etwa tiefes, hörbares und gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen, ruckartiges Aufrichten mit Anzeichen von fehlender Orientierung".
Zur Bundeswehr musste der Kläger, ob in seinem Prozess geschlafen wurde oder nicht. Auch aus den Streitkräften kamen seinerzeit düstere Fakten ans Licht des Gerichts: Ein Soldat war wegen "psychogenem Somnambulismus" für dienstunfähig erklärt worden. Unter anderem soll er "während seines ersten nächtlichen Dienstes als Unteroffizier vom Dienst … nachts in einem Krankenzimmer" erschienen sein, er "schaltete das Licht ein, gab einem Patienten ein Zwei-Mark-Stück und forderte ihn auf, bei sich Fieber zu messen".
Ob das Urteil des BVerwG vom 21. April 1982 (Az. 6 C 71.81) zur Wehrgerechtigkeit beigetragen hat, mag offen bleiben. Man kann es heute, in Zeiten von Auslandseinsätzen, vielleicht als tröstlich empfinden, dass schon in den Friedenszeiten der 1970er-Jahre Somnambulisten als nicht kriegsverwendungsfähig galten.
Zum Schluss das Elend von heute
Auf das Elend der jährlichen Umstellung von Winter- zu Sommer-, von Sommer- zu Winterzeit kommen wir zurück – am 27. Oktober 2013. Eher unwahrscheinlich, dass ein gnädiger Gesetzgeber den Unfug bis dahin abschafft. Eher macht wohl noch ein Meteorit allen Kalendern und Uhrenverdrehern ein Ende. Doch ganz kurz noch: Wer ist überhaupt schuld?
Die Uhrenverdreherei in der Nacht vom 30. auf den 31. März 2013 beruht auf der Richtlinie 2000/84, in Kraft seit dem 1. November 2001. Artikel 2 dekretiert: "Ab dem Jahr 2002 beginnt die Sommerzeit in jedem Mitgliedsstaat am letzten Sonntag im März um 1 Uhr morgens Weltzeit."
Rechtshistorisch drehte man schon anders am Zeiger. § 1 einer österreichischen Verordnung vom 21. April 1916 sah beispielsweise in elegantester Formulierung vor: "Darnach beginnt der 1. Mai 1916 am 30. April um 11 Uhr abends der bisherigen Zeitrechnung, der 30. September endet 1 Stunde nach Mitternacht der in dieser Verordnung festgesetzten Zeitrechnung". Die Einführung der Sommerzeit brauchte gerade einmal zehn Tage Vorlaufzeit, man war ja im Krieg – leider kein Grund also zu vermuten, der Kaiser von Österreich hätte damals den "Kampftag der Arbeiterklasse" um eine Stunde verlängern wollen.
Keine 25 Jahre später, im Reichsgesetzblatt vom 30. Januar 1940 (I. S. 232), findet man den nächsten Anlauf, die "Verordnung über die Einführung der Sommerzeit". Vor ihr steht im Gesetzblatt eine Verordnung über die Einrichtung von Abwesenheitspflegschaften über Vermögen aus "Feindstaaten". Das waren zu dem Zeitpunkt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland sowie Frankreich, jeweils nebst ihrer Kolonialreiche.
Ob die Richtlinie 2000/84 mit dem Hinweis hätte vermieden werden können, dass eine ihrer Vorläuferinnen von einem drogensüchtigen deutschen Generalfeldmarschall namens Göring unterzeichnet wurde, der bald die Nächte nutzte, fremde Städte bombardieren zu lassen?
Vermutlich nicht. Es gilt ja der ungeschriebene Satz des europäischen Primärrechts: Je wichtiger eine Regelung ist, desto später in der Nacht wird sie beschlossen – von umnächtigten Volks- und Regierungsvertretern bei angehaltener Uhr. Was für eine grausam unausgeschlafene Existenzform, Mitglied einer europäischen Regierung zu sein!
Den Rhythmus und das Zeigefühl von rund 500 Millionen Menschen zwei Mal im Jahr ohne Sinn durcheinanderzubringen – so gesehen ist es vielleicht nur eine schwache Rache der Regierenden an ihren Völkern.
Martin Rath, Recht verschnarcht: Schlafen für Juristen . In: Legal Tribune Online, 31.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8436/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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