Im Jahr 1516 veröffentlichte der englische Jurist und Philosoph Thomas Morus seine Schrift "Utopia", die einer ganzen Literaturgattung den Namen gab. Sein Büchlein enthält auch scharfe Kritik am Recht seiner Zeit. Von Martin Rath.
Der Humor des englischen Juristen und gelehrten Staatsmanns Thomas Morus (1478–1535) ist oft gerühmt worden. Gerne wird das angeblich letzte Bonmot seines Lebens zitiert: Als ihn der Henker zur Hinrichtung wegen Hochverrats zurecht machte, soll er diesen um die Schonung seines Barts gebeten haben, da dieser sich nicht des Verrats schuldig gemacht habe.
Die überaus rege Tätigkeit des Henkers zur Zeit des englischen Königs Heinrich VIII. von England (1491–1547) soll Morus, der diesem Fürsten in höchsten Staatsämtern diente, auch zu der Bemerkung veranlasst haben: Wenn der Dienstherr dadurch eine Festung in Frankreich eroberte, fände sich sein Kopf alsbald auf einer Stange zur Schau gestellt.
Kritik an Todesstrafe im Jahr 1516
Bei so viel Witz, was immer dieser in derart brutalen Zeiten Wert gewesen sein mag, ist nicht gut zu erkennen, für wen Thomas Morus' Herz schlug: Im literarischen Stil seiner Epoche ließ Morus in seiner Schrift "Utopia" einen namenlosen Juristen am Hof eines englischen Bischofs in einem gewitzten Dialog über die Todesstrafe streiten. Die Kontra-Argumente legte er dabei einem fiktiven Reisenden in den Mund, der das ferne Land Utopia bereist und dort andere Sitten kennengelernt hatte.
Raphael Hythlodaeus, der erfundene Utopia-Kenner, führt beispielsweise ins Feld, dass das seinerzeit im England Heinrichs VIII. fast epidemisch vollzogene Hängen von einfachen Dieben dem nicht entspreche, was wir heutzutage als Abstandgebot kennen: Wer Mördern und Dieben die gleiche Strafe angedeihen lasse, differenziere nicht hinreichend bei den Rechtsgütern und lasse damit an der Seriosität des Rechts zweifeln. Außerdem bedinge die erbärmliche Armut, dass so viele Menschen zu Dieben würden.
Dagegen lässt Morus einen namenlos bleibenden Juristen das gewitzte argumentum a fortiori sprechen: Wenn schon das fleißige Aufhängen der Diebe in der Gegenwart die Diebe zu ihrem scheußlichen Verbrechen verleite, um wie viel schlimmer würden die Verhältnisse, wollte man sie de lege ferenda verschonen? Zudem sei ein Dammbruch der Liberalisierung zu befürchten, der – Gott bewahre! – beizeiten noch zur Straflosigkeit von Notzucht, Ehebruch und Meineid führen könnte.
Utopische Manie der Deportation von Kriminellen
Menschen, die soziale Regeln gravierend verletzt haben, aus ihrer sozialen Gruppe auszuschließen, ist zwar – neben der körperlichen Züchtigung – die wohl älteste Sanktionsform. Selbst die Todesstrafe wird von manchen Theoretikern primär als höchste Steigerungsform dieses Wunsches auf Exklusion interpretiert.
Dem humanistisch hoch gebildeten Juristen Thomas Morus war selbstverständlich die antike Praxis der Verbannung, einer weiteren Variante des Ausschlusses, bestens bekannt.
Soweit erkennbar innovativ war Morus darin, dass er in der 1516 publizierten Schrift "Utopia" die Deportation von Straftätern, neben ihrer Versklavung, zur besten Idee verklärt, die einer Gesellschaft in der Strafrechtspflege kommen könne.
Vom Staat der Utopier lässt Morus seine Figur Raphael Hythlodaeus berichten, dass diese ihre Insel, geografisch irgendwo vor der Küste Amerikas gelegen (so wie heute Brexit-England) in einer Art kommunistischer Wirtschaftsform verwalteten. Wegen der fehlenden Armut existiere wenig Verbrechen, daher übernähme der Staat Utopia gerne Straftäter aus fremden Ländern, um sie als Sklaven einzusetzen.
Thomas More – so die englische Variante seines Namens - , ein sehr braver humanistischer Katholik, darf möglicherweise dafür in Haftung genommen werden, dass der Gedanke der Deportation von Straftätern in fremde Länder in den darauf folgenden rund 400 Jahren nicht nur die utopische Literatur in seinen Bann zog. Auch im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert, als sich beispielsweise die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" streckenweise las wie ein Jules-Verne-Roman, geisterte die Idee der Deportation als Mittel des Strafvollzugs durch die vornehmsten Köpfe der akademischen Juristenwelt. Diese Obsession mag auf Morus' Büchlein von 1516 zurückgeführt werden.
2/2: Recht im Staate Utopia
Vom Strafvollzug abgesehen bleibt das Utopia von Thomas More juristisch merkwürdig blass. Dieses Merkmal hat sich in der fantastischen Kunst bis heute vielfach gehalten, kaum etwas ist zum Beispiel alberner als die Prozesse, die gelegentlich in der Science Fiction verhandelt werden.
Anwälte gibt es in Morus' Utopia nicht, sie störten nur die unmittelbare Kommunikation zwischen den Parteien und dem Richter. Aus den endlosen Gerichtsverfahren um Grundeigentum, die im England Heinrichs VIII. geführt wurden, weil sein Bestand formal ungesichert und ökonomisch durch die Nachfrage nach Wolle stark unter Druck geraten war, lässt Morus seine utopische Gesellschaft in die Fantasie gemeinwirtschaftlicher Eigentumsverhältnisse fliehen.
Die Beobachtung der epidemischen Landstreicherei, mit der Heinrich VIII. und seine reizende Tochter Elisabeth I. mit drakonischen Gesetzen reagierten, spiegelt sich bei Thomas More in der Norm Utopias wieder, wonach kein Bürger das Recht auf Freizügigkeit hatte. Wer ohne Pass des Utopia-Präsidenten angetroffen wird, wird nach dem Bericht des Raphael Hythlodaeus sogleich versklavt. Fans kommunistischer Wirtschaftsordnungen haben diesen 500 Jahre alten Fingerzeig zwischenzeitlich immer wieder gerne übersehen.
Eherechtlich innovativ ließ sich More einfallen, dass künftige Eheleute einander vor der Heirat einmal nackt vorzuführen waren. Wer trotz Kenntnis seines Gatten später die Ehe bricht, wird – natürlich – wiederum zur Sklaverei verurteilt. Ist allerdings der Ehebruch für beide Beteiligten ein Ausscheren aus einer Ehe, sollen die jeweils betrogenen Ehepartner einander heiraten dürfen.
"Nur" geköpft, nicht gefoltert
Als Thomas More dies in den Druck gab, war sein Dienstherr, König Heinrich VIII., noch mit seiner ersten Gattin, Katharina von Aragón, verehelicht. Neben der Chance, sich der reichen Schätze der Klöster zu bemächtigen, waren bekanntlich die Ehesorgen des Fürsten Anlass für den 1534 vollzogenen ersten Brexit, der Loslösung von der Gerichtsbarkeit des Papstes.
Ob sich der lebenslustige Heinrich sonderlich gut an Morus Utopia erinnert hat, das neben den eherechtlichen Zwangsideen auch noch die Idee enthielt, das Jagdrecht den Metzgern zu übertragen, weil es für freie Menschen unwürdig sei, Tiere zu töten, mag dahingestellt bleiben.
Mit seiner Weigerung, den Los-von-Rom-Brexit seines Königs zu billigen und mittels Treueeids zu beschwören, hatte Thomas More 1534/35 sich auch ohne dies hinreichend an dem Fürsten vergangen.
Immerhin war der so zivil, ihn nicht foltern und vierteilen zu lassen, wie es ihm als bürgerlichem Hochverräter zugekommen wäre – auf dem Gnadenweg gewährte Heinrich VIII. seinem Mitarbeiter, nur geköpft zu werden.
Ob Juristen gut zum Heiligen taugen?
400 Jahre nach seiner Hinrichtung wurde der papsttreue Katholik Thomas More als Märtyrer heiliggesprochen. Das Bild Mores wird bis heute von der Darstellung geprägt, die ihm Fred Zinnemann 1966 im Film "Ein Mann zu jeder Jahreszeit" angedeihen ließ: Hier ringt More damit, dem König gegen sein Gewisssen die Treue zu schwören, um seiner geliebten Familie erhalten zu bleiben.
Mit dieser etwas verkitschten More-Rezeption können manche Briten bis heute wenig anfangen. Das hat viel mit der juristischen Arbeit des Thomas More zu tun. Als Kanzler war er unter anderem für die Verfolgung protestantischer Ketzer verantwortlich. Den Titel "Verteidiger des Glaubens", den die britischen Könige bis heute führen, erhielt der noch strikt katholische Heinrich seinerzeit vom Papst – nicht zuletzt dank seines fähigen Mitarbeiters Thomas More.
Dessen Eifer, Protestantinnen und -tanten auf den Scheiterhaufen zu bringen, wurde im Brexit-freundlichen Magazin "The Spectator" jüngst gar mit den mörderischen Praktiken des "Islamischen Staats" gleichgesetzt.
Das mag etwas übertrieben sein und wird dem humanistischen Gelehrten Thomas More kaum gerecht. Die bemerkenswerte Seltenheit von glaubwürdigen Rechtsfragen in der fantastischen Literatur, trotz des epochalen "Utopia"-Romans von Juristenhand, mag aber von der Erkenntnis mit geprägt worden sein, wie sehr sich Thomas Morus damals verspekuliert hat.
Der Autor Marin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Thomas Morus und sein "Utopia": Nur köpfen, nicht foltern . In: Legal Tribune Online, 25.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21579/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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