Militärstrafjustiz vor dem BSG: 1991 – Ein anderer 11. September, ein anderer Krieg

von Martin Rath

11.09.2011

Es war keine leichte Übung, in den letzten Wochen nicht Augen und Ohren zu verschließen, wenn das Schlagwort "11. September" fiel. Doch jährt sich auf diesen Tag genau zum 20. Mal ein aufsehenerregendes Urteil des BSG. Opfer der Wehrmachtsjustiz wurden 1991 zumindest sozialrechtlich rehabilitiert. An ein unrühmliches Kapitel der Rechtsgeschichte erinnert Martin Rath.

Wenige Tage, bevor der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende war, wurden im April 1945 in einem Wald unweit der badischen Stadt Waldkirch fünf junge Soldaten erschossen. In dem Glauben, dass der Krieg bald vorbei sein würde, hatten sie die Truppe verlassen. Feldgendarmen griffen sie auf, ein Standgericht des in der Stadt stationierten Oberkommandos der 19. Armee verurteilte sie wegen Fahnenflucht zum Tode.

Im Januar 1942 besorgt der Gefreite Julius S. für sich und seine frierenden Kameraden acht Paar Wollsocken und einen Schal. Damit verstößt er gegen die "Verordnung des Führers zum Schutz der Sammlung von Wintersachen für die Front". Das Todesurteil spricht von "seiner asozialen Haltung, seinem minderwertigen Charakter und seiner niedrigen Gesinnung".

Ein Panzergrenadier, gerade 16 Jahre alt und seit vier Wochen Soldat, wird – zwei Wochen bevor die Rote Armee in Wien einmarschiert – wegen Fahnenflucht abgeurteilt. Fahnenflüchtig ist nach dem Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich, in Kraft seit 1872, wer "seine Truppe oder Dienststelle" verlässt, um "sich der Wehrmacht auf Dauer zu entziehen". Der junge Soldat hatte nur laut mit Fluchtgedanken gespielt. Er wurde verraten. Ein Todesurteil gegen den Wortlaut des Gesetzes ergeht in seinem Fall.

Mindestens 40.000 Todesurteile

In der historischen Forschung war die Wehrmachtsjustiz lange ein wenig aufgeklärter Abschnitt der Zeitgeschichte. Ändern sollte sich das erst im Lauf der 1980er-Jahre. Bis dahin galt das Buch des Marburger Juraprofessors Erich Schwinge "Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus" als brauchbares Werk. Die offizielle, lückenhafte Kriminalstatistik der Wehrmacht kannte 10.000 bis 12.000 Todesurteile.

Das Bild änderte sich, wofür zwei Männer verantwortlich sind. Im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. September 1991 sollten sie ausführlich zitiert werden: Fritz Wüllner, ein Manager aus dem Münsterland, begann in den militärhistorischen Archiven zu forschen, weil er wissen wollte, wie sein Bruder Heinrich 1941 zu Tode gebracht worden war. Professor Schwinge sollte ihn später in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" (NJW) als "Hobby-Historiker" abkanzeln. Die wissenschaftliche Aufbereitung des Materials besorgte schließlich auch Manfred Messerschmidt, seinerzeit Direktor des Militärhistorischen Forschungsamts, das zugleich eine militärische Dienststelle der Bundeswehr und das größte geschichtswissenschaftliche Institut in Deutschland ist.

Ihre Zahlen gaben ein bisher kaum gesehenes Bild ab: Vor den deutschen Kriegsgerichten liefen zwischen 1939 und 1945 rund drei Millionen Verfahren. Wegen der Kriegsschäden in den Archiven war die Zahl der Todesurteile nur zu schätzen: Die Richter der Wehrmacht verurteilten demzufolge mindestens 40.000, wahrscheinlich sogar rund 50.000 Menschen zum Tode – wegen Fahnenflucht, regimekritischer Äußerungen, kleiner Diebstähle. Vollstreckt wurden nach dem Erkenntnisstand von Wüllner und Messerschmidt gegen Kriegsbeginn rund 90 Prozent, später rund 70 Prozent der Urteile.

Es gab rund 3.000 Wehrmachtsjuristen. Der heute bekannteste Kriegsgerichtsrat, Heinrich Schönfelder, fiel 1944 wahrscheinlich italienischen Partisanen zum Opfer. Andere konnten ihre Laufbahn nach dem Krieg fortsetzen, beispielsweise Erich Schwinge (1903-1994), der zwischen 1941 und 1945 als Kriegsrichter tätig und an mehreren Todesurteilen beteiligt war.

Wehrmachtsjustiz im Urteil des BSG

Mit Urteil vom 11. September 1991 (Aktenzeichen 9 a RV 11/90) sprach das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel der Witwe eines 1945 in Breslau hingerichteten Soldaten eine Kriegsopferentschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu. Das Gericht stellte fest, dass ihr Ehemann "an den Folgen einer militärdienstlichen Schädigung gestorben" ist.

In dieser Grundsatzentscheidung befanden die Kasseler Richter, dass Hinrichtungen auf der Grundlage von Kriegsgerichtsurteilen regelmäßig unter eine Vorschrift des BVG subsumiert werden könnten. Mit einer sehr unglücklichen Formulierung wollte der Gesetzgeber 1950 mit den typischen gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Schäden, die Soldaten im Krieg üblicherweise erleiden, einen Schaden gleichstellen, der durch "eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme" entstanden ist, "wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist".

Gestützt auf die militärhistorischen Forschungen von Fritz Wüllner und Manfred Messerschmidt, die in der Urteilsbegründung ausführlich zitiert werden, stellt das BSG fest, dass die Urteile der Kriegsgerichte grundsätzlich als "offensichtliches Unrecht" im Sinne von § 1 Absatz 2 lit. d) BVG gelten. Im Fall der klagenden Witwe brachte das Urteil eine Beweiserleichterung: Ihr Mann war zwischen 1942 und 1945 im besetzten Dänemark stationiert gewesen, das für deutsche Soldaten als angenehmer Aufenthaltsort galt. Von einem Heimaturlaub war er nicht zur Einheit zurückgekehrt und unter ungeklärten Umständen als Fahnenflüchtiger hingerichtet worden.

Mit ihrem Verdikt, die Urteilspraxis ihrer 'Kollegen' von der Wehrmachtsjustiz als grundsätzlich unrechtmäßig zu bewerten, befreiten die obersten Sozialrichter deren Opfer beziehungsweise die Hinterbliebenen der Opfer von der Pflicht, im Einzelfall zu belegen, dass das Kriegsgerichtsurteil Unrecht war. Das Bundesarbeitsministerium unter Norbert Blüm schloss sich dem nun an, entgegen der zuvor im Prozess vertretenen Position. Am 11. September 1991 lag der Kriegsbeginn in Europa gut 52 Jahre zurück. Viele Menschen werden nicht in den Genuss der neuen Rechtslage gekommen sein.

Nachspiel in der "Neuen Juristischen Wochenschrift"

Aufsätze und Urteilsbesprechungen in der NJW, einer der führenden Zeitschriften der deutschen Juristen, zeichnen sich regelmäßig durch Nüchternheit, Sachlichkeit und den Kammerton der Kollegialität aus. Der Tonfall trifft eher die Stimmlage der Kirchenzeitung als jene der "Titanic". In ganz ungewohnter Heftigkeit kreuzten nun aber zwei Anmerkungen zum BSG-Urteil vom 11. September 1991 in der sonst so braven Wochenschrift die Klingen.

Der inzwischen 90-jährige Professor Dr. Erich Schwinge spricht in seiner Urteilskritik (NJW 1993, Seiten 368-369)  den militärhistorischen Untersuchungen von Wüllner und Messerschmidt die Qualität ab, das Verdikt über die Wehrmachtsjustiz zu begründen. Dem BSG wirft er vor, die ehrbare Wehrmachtsjustiz mit dem Volksgerichtshof gleichgesetzt zu haben. Den Sozialrichtern fehle es auch an Urteilsvermögen: "Von ihnen dürfte, ihrem Alter entsprechend, keiner noch persönlich einen Blick in sie [die Kriegsgerichtsbarkeit] haben werfen können, sie haben sich offenbar aber auch nicht darum bemüht, über 'Zeitzeugen' – ehemalige Richter oder Offiziere – sich ein Bild zu verschaffen, wie es darin aussah."

Die anschließende Urteilskritik des Münchener Rechtsanwalts Dr. Otto Gritschneder (NJW 1993, 369-372) zieht die Rechtsprechung des BSG vor dem 11. September 1991 in Zweifel: Er verweist darauf, dass das BSG bis dahin die Verhängung der Todesstrafe wegen Fahnenflucht  für rechtens gehalten und auch sonst den Urteilen der Militärjustiz das Odium der Rechtmäßigkeit zugebilligt hatte. Gritschneders Kritik setzt aber noch tiefer an – und trifft damit natürlich auch den Kriegsgerichtsrat a.D. Erich Schwinge: Man müsse nunmehr fragen, "ob man die unter dem Namen 'Kriegsgerichte' tätigen Institutionen als wirkliche Gerichte anerkennen kann. Nicht jeder, der einen Geigenkasten unter dem Arm trägt, ist ein Paganini. Nicht jeder, der damals eine Richterrobe oder eine (hakenkreuzverzierte) Kriegsgerichtsuniform anhatte und sich 'Richter' nannte, war auch Richter."

Otto Gritschneder (1914-2005), der sich in rechtshistorischen Arbeiten unter anderem mit dem – in Verfahrensführung und Urteil abwegigen – Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler und Genossen, der 1923 vor dem Volksgericht München stattfand, befasst hat, setzt also in seiner Kritik tiefer an: "Die unerläßliche Vorfrage, ob die NS-Kriegsrichter überhaupt in einer verbindlichen Weise berufen wurden, prüfte das BSG nicht, sonst hätte es folgende Erkenntnis gewonnen: Eine Ernennung von Kriegsrichtern durch den 'Führer' oder in seinem Namen konnte keine rechtsverbindliche und das Gewissen der Gewaltunterworfenen bindende Wirkung haben. Der 'Führer' war selbst eine rechtswidrige Institution. Schon bei der Ernennung zum Reichskanzler am 30.1.1933 beging der erklärte Feind der Weimarer Verfassung eine Art Anstellungsbetrug."

Schon wieder dieser Nazi-Quark?

Lästermäuler unken, dass ein großes Nachrichtenmagazin aus Hamburg seine Auflage stets ein wenig steigern kann, wenn es auf dem Titelblatt entweder nackte Brüste oder ein Hitlerporträt bringt. Moralisch feinfühlige Menschen wie der Publizist Henryk M. Broder behaupten, Medienleute befassten sich viel lieber mit zurückliegenden "Nazithemen" als mit dem Unrecht der Gegenwart.
Daran mag etwas sein. Aus der Geschichte, die mit dem Urteil der Bundessozialrichter am 11. September 1991 einen Abschluss fand, lassen sich aber einige vielleicht allzu profane, womöglich aber auch feinfühlige Lehren ziehen.

Erstens: Das BSG-Urteil könnte dafür sensibilisieren, welches Elend ein entscheidungsunlustiger Bundestag produziert. Die Sozialrichter halten mit Messerschmidt/Wüllner fest, dass die US-Streitkräfte während des Zweiten Weltkriegs 763 Todesurteile verhängten, von denen 146 vollstreckt wurden – nur eines davon wegen Fahnenflucht, die übrigen wegen Vergewaltigung und Mord. Das konnte auch ein denkender Bundestagsabgeordneter 1949/50 in Erfahrung bringen. Die Erkenntnis, dass an den tausenden Hinrichtungen durch die Wehrmachtsjustiz etwas faul gewesen ist, hatten die Bundestagsabgeordneten durchaus – die Beurteilung delegierten sie aber, offenbar aus Bequemlichkeit, an die Versorgungsämter und die Gerichte.

Zweitens: Juristen finden in dieser Geschichte Hinweise darauf, dass sie sich nicht zu abhängig machen sollten von vermeintlichen Standardkommentaren. Den Standardkommentar zum Militärstrafgesetzbuch lieferte der junge Strafrechtsprofessor Erich Schwinge. Er unterwarf ein Gesetz, dessen Normen sich so oder so ähnlich in liberaleren, westlichen Staaten wohl auch finden ließen, den politischen Maximen von "Manneszucht", also bedingungslosem Gehorsam, und der "Abschreckung", also totaler Generalprävention.

Drittens: Nach einem schlichten Gerechtigkeitsgefühl unhaltbare Entscheidungen des Justizapparates bleiben der Welt erhalten, bis diejenigen, die sie zu verantworten hätten – hätten sie sich denn zu verantworten –, tot oder in vorgerücktem Greisenalter sind. Überall dort, wo gegenwärtig Zeitgeschichte auf Gerechtigkeitsansprüche trifft – von der juristischen Aufbereitung des Mubarak-Regimes in Ägypten, beim Massaker von Beijing 1989 bis zu den Umständen und Konsequenzen des bekannteren "9/11" ist das vermutlich keine sehr befriedigende Lehre.

Zum Weiterlesen:

"Ein Menschenleben gilt für nix", SPIEGEL-Report über die Militärjustiz im Dritten Reich, Folge 1, in: DER SPIEGEL Nr. 43 vom 19.10.1987 (PDF)

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Militärstrafjustiz vor dem BSG: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4255 (abgerufen am: 12.11.2024 )

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