Am 10. Dezember 1948 einigte sich die UN-Generalversammlung auf "allgemeine" Menschenrechte. Inwiefern die Deklaration durchsetzbare Versprechen enthält, war lange unklar. Auch heute lässt sich über ihre Funktion streiten.
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Ein Blick in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sowie die übrigen 29 Artikel mag Menschen ohne größere Rechtskenntnisse dazu verleiten, sich in ein juristisches Dokument zu verlieben – vorausgesetzt natürlich, man ist anfällig für Pathos.
Die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossene AEMR beruht auf der Erinnerung, dass "die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt" hatten, wie es in der Präambel heißt. Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, "die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen". Und so einigte sich die Generalversammlung auf einen Katalog von Rechten ohne Wenn und Aber, also ohne rechtsdogmatische Restriktionen und Abwägungen, die meist schon auf hergebrachte Bedürfnisse der regionalen Staatsgewalt viel Rücksicht nehmen.
Einige der postulierten Rechte zählen zu den Klassikern, die vor allem in der amerikanischen Bill of Rights, schwächer in der französischen Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, beide aus dem Jahr 1789, bereits formuliert worden waren. Beispiele sind das Verbot grausamer und rückwirkender Strafen, der Schutz vor willkürlicher Inhaftierung und die Garantie des Eigentums.
Andere Rechte waren bis zum 10. Dezember 1948 selten so nachdrücklich festgehalten worden, z. B. Artikel 6 AEMR: "Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden." Oder Artikel 15 Nr. 1 AEMR: "Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit." Oder Artikel 20 Nr. 2 AEMR: "Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören." Oder Artikel 21 Nr. 2 AEMR: "Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande."
Es schadet nicht, sich dem ganzen Pathos der Allgemeinen Erklärung der Menschenrecht einmal durch vollständige Lektüre in deutscher oder in einer Amtssprache der Vereinten Nationen auszusetzen. Denn dass die Sache einen Haken hat, kommt noch früh genug heraus.
Keine Beschwerde gegen Menschenrechtsverletzungen
Im rechtswissenschaftlichen Studium spielt die AEMR meist keine größere Rolle. Warum das so ist, wird dem rechtsuchenden Publikum selten erläutert. Es bleibt oft beim Hinweis, dass diese Resolution der UN-Generalversammlung rechtlich nicht bindend sei. Eine schöne Ausnahme findet sich in einem Beschluss des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen vom 10. September 1975 (Az. P.St. 774 und 775) im Fall eines Mannes, dem die Fahrerlaubnis entzogen worden war. Weil die Behörde zunächst nicht ganz umsichtig vorgegangen war, wurde erst in einem zweiten Durchgang ein Pfleger bestellt, um seine Verfahrensrechte zu wahren.
Offenbar ohne anwaltliche Beratung hatte der Antragsteller, bei dem wiederholt eine erhebliche psychische Erkrankung diagnostiziert worden war, den Staatsgerichtshof unter anderem aufgefordert, das "Gutachten der Nervenklinik [sic!] … insoweit für nichtig zu erklären, als es seine Geschäftsunfähigkeit, Prozessunfähigkeit oder eine andere Diskriminierung enthalte".
Dabei berief er sich nicht zuletzt darauf, dass die AEMR in Artikel 4 neben der Sklaverei in allen Formen auch die Leibeigenschaft verbietet. Die Pflegschaft über psychisch kranke Menschen sei aber nichts anderes als eine "juristisch umgeschriebene Form der Leibeigenschaft".
Der Staatsgerichtshof des Landes Hessen legte dem Antragsteller geduldig dar, was es nach juristischer Lehre mit der AEMR auf sich hat: Es sei zweifelhaft, dass ihr eine bindende rechtliche Wirkung überhaupt zukommt und selbst für die nicht eben herrschende Auffassung, dass die in ihr formulierten Menschenrechte als allgemeine Regeln des Völkerrechts zu gelten haben sollten, würden diese Regeln nach Artikel 25 Grundgesetz (GG) keinen Grundrechtscharakter haben, könnten also nicht analog zu den inländisch garantierten Menschen- und Bürgerrechten eingefordert werden, etwa im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde. Dem psychisch kranken Mann aus Hessen war nicht hinreichend klar, dass er sich stattdessen auf die Grund- und Menschenrechte berufen konnte, die ihm das Grundgesetz, die Verfassung des Landes Hessen und die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten.
Ist das Recht von höchstem Rang oder kann das weg?
An solchen Irrtümern ist die pathetische Sprache der AEMR nicht unschuldig. Gar nicht wenige Menschen glauben, die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen müsse im Rang über deutschem Verfassungsrecht stehen, auch weil sie doch für die ganze Welt gelte. Auch ist die Idee nicht abwegig, dass die AEMR mehr sein könnte als ein bloßer Appell der UN-Generalversammlung an ihre Mitgliedstaaten, für die Umsetzung des in der AEMR normierten Programms zu sorgen.
Denn in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland war auch Behörden und Gerichten noch unklar, was sie von dem internationalen Grundrechtskatalog halten sollten. Es war eine Zeit, als die inländische Grundrechtsdogmatik noch in den Kinderschuhen steckte, Grundgesetzkommentare handlich waren und das Bundesverfassungsgericht noch nicht auf endlose Selbstzitate zurückgreifen konnte.
Anfang der 1950er Jahre stritt beispielsweise eine Reihe von Eltern vor dem Bundesverwaltungsgericht (Az. II C 104/56 u.a.) für das Recht ihrer Kinder, statt einer mittleren Schule das Gymnasium besuchen zu dürfen. Die Schulbehörde hatte die Auswahlprinzipien strikt angewendet, musste sich aber auch fragen lassen, worin sich die rigide Auslese von Mittelschule und Gymnasium überhaupt unterschied. Die Anwälte der Eltern argumentierten, dass selbst dann, wenn die Kinder die Kriterien für den Besuch des Gymnasiums nicht positiv erfüllten, sie doch auch nicht so negativ auffielen, dass sie die Mitschüler in ihrer Lernentwicklung empfindlich hemmen würden.
Die Entscheidungen sind vor allem deshalb bemerkenswert, weil das Gericht den staatlichen Zwang, Kinder der Schule auszuliefern, nicht für selbstverständlich erklärte. Interessant ist, dass sich die Klagen nicht nur auf das Elternrecht nach Art. 6 GG stützten, sondern auch auf Art. 26 Nr. 3 AEMR: "Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll."
Menschenrechtsverletzung mit individueller Sanktionswirkung?
In einer weiteren, heikleren Sache, in der das Bundesverwaltungsgericht 1964 entschied (Urt. v. 30.06.1964, Az. I C 102.63), argumentierte umgekehrt eine Behörde damit, der Verfahrensgegner habe auf Grundlage der AEMR seinen Anspruch auf Schutz verloren. Ein nach dem deutschen Angriffskrieg gegen die Republik Polen zur Arbeit in Deutschland genötigter, sehr junger Mann hatte hier nach dem Krieg ein Raub- und Sexualdelikt begangen und war von einem US-Militärgericht 1946 für zehn Jahre in Haft gebracht worden.
Seinem Anspruch, als heimatloser Ausländer einen Reiseausweis als "Flüchtling nach der Genfer Konvention" zu erhalten, wurde vom Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen entgegengehalten, dass er 1946 durch das Raub- und Sexualverbrechen gegen Artikel 3 AEMR verstoßen habe, der das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person verbrieft. Damit falle er nicht in die Kategorie der "gewöhnlichen" Verbrecher, für die das damalige Flüchtlingsrecht es ins Ermessen des Aufnahmestaats stellte, wie es mit ihm umgehen wolle. Vielmehr sei er wegen der Verletzung von Artikel 3 AEMR als Verbrecher, der die Ziele der Vereinten Nationen missachtet habe, zu behandeln.
Diese Kategorie schloss das Recht auf Asyl geradewegs aus – eine das Individuum scharf sanktionierende Rechtsfolge. Kann sie aus einem Verstoß gegen die AEMR folgen? Kann eine Individualperson überhaupt gegen die AEMR verstoßen oder sind die "allgemeinen" Menschenrechte – wie die Grundrechte – primär Abwehrrechte gegen den Staat? Das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls hatte Gnade mit dem Soldaten. Nach Auffassung des Gerichts blieb die Konsequenz einer Verweigerung des Flüchtlingsstatus solchen Personen vorbehalten, die Kriegs- oder politische Verbrechen begangen haben.
Auch wenn die UN-Resolution vom 10. Dezember 1948 auf die Auslegung und Durchsetzung subjektiver Rechte kaum je einen wesentlichen Einfluss hatte, spielte sie doch immer wieder eine Rolle, wenn es galt, das positive Recht abzusichern oder zu hinterfragen.
Kopplung zwischen geltendem Recht und Naturrecht
In einem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (v. 29.11.1967, Az. GS 1/67) zur tarifvertraglichen Differenzierung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und gewerkschaftsfreien Arbeitnehmern referierte etwa der Große Senat, dass die deutsche Arbeitsrechtstradition immer schon sehr von der Freiheit ausgegangen sei, nicht zur Mitgliedschaft in einem Verband genötigt zu werden. Artikel 20 Nr. 2 AEMR ("Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören") sei daher vom Parlamentarischen Rat beifällig zur Kenntnis genommen worden.
Auch der Bundesgerichtshof honorierte die AEMR in einem wegen SED-Justizwillkür geführten Strafverfahren (Urt. v. 06.10.1994, Az. 4 StR 23/94): Nach dem Ende der SED-Diktatur mussten sich in den 1990er Jahren frühere DDR-Richter und -Staatsanwälte wegen Freiheitsberaubung oder Rechtsbeugung verantworten. Ihre nach positivem DDR-Recht ergangenen Entscheidungen wurden nachträglich am "überpositiven" Recht gemessen. Dabei nahm der Bundesgerichtshof auf das Naturrecht bzw. die AEMR Bezug, in der "bestimmte als unantastbar anzusehende Grundsätze menschlichen Verhaltens" dokumentiert seien, "die sich bei allen Kulturvölkern im Lauf der Zeit herausgebildet" hätten.
Wenn die AEMR die Staatsorgane der Mitgliedstaaten also nicht unmittelbar bindet, dient sie doch immer wieder dazu, das geltende Recht an naturrechtliche Essentialia des kultivierten Zusammenlebens rückzubinden.
Diese Kopplungsleistung erbringen in Teilen allerdings auch Menschenrechtskataloge, die zudem einklagbare Rechte gewähren. Mit Blick auf die gut ausgebaute Dogmatik und Kommentarliteratur zum Grundgesetz und zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist daher nachvollziehbar, wenn professionelle Rechtsanwender mit der pathetischen Erklärung vom 10. Dezember 1948 nicht mehr allzu viel anzufangen wissen.
75. Geburtstag: . In: Legal Tribune Online, 10.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53375 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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