Wie viel Öffentlichkeit benötigt die Justiz, wie viel verträgt sie? Aus der Kritik eines alten BGH-Richters an der Entlarvung richterlicher Routinen, publiziert vor 40 Jahren, lässt sich vielleicht eine deutlich weitere Forderung ableiten, als bloß Kameras in öffentlichen Sitzungen zuzulassen.
Claus Seibert (1902-1977), Richter am Bundesgerichtshof und seit seiner Zeit als Kriegsgerichtsrat im besetzten Tunesien und Frankreich bekannt als Verfasser harmloser feuilletonistischer Miniaturen, legt die elegante Hinrichtung einer soziologischen Studie vor. Sein Text ist voll von unterschwelligen Wertungen, die dem anständigen Juristen signalisieren: Hände weg von diesem Werk (oder wie erotische Literatur anfassen)!
Rezensionen in juristischen Fachmedien sind oft bloß Waschzettelprosa, Zitierkartellgefälligkeit oder Katzbuckelei. Eine elegante Buch-Hinrichtung weckt damit Neugier. Diese ist auch 40 Jahre nach dem Druck von Seiberts Kritik in der "Juristenzeitung" (JZ 1974, S. 39-40) noch angebracht. Denn die Kritik und das Werk, auf welches sie gemünzt ist, geben bis heute Anlass zu Gedankenspielen und Reformüberlegungen.
Die von Seibert rezensierte Studie "Justiz – die stille Gewalt" ist vorderhand die Dokumentation einer soziologischen Feldforschung. Die Methode der Feldforschung kommt ursprünglich aus der Ethnologie: Ein wissenschaftlicher Beobachter lebt und arbeitet inmitten fremder Völker, zeichnet ihr Treiben auf und interpretiert es in einem theoretischen Rahmen.
Feldforschung in den eigenen Reihen
Für den promovierten Juristen und promovierten sowie habilitierten Soziologen Rüdiger Lautmann (geb. 1935) war dieses "fremde" Volk jenes der deutschen Richterschaft. In den späten 1960er Jahren trug er rund 200 kleine Szenen aus dem Alltag von Spruchkörpern der ordentlichen Gerichtsbarkeit zusammen und interpretierte sie in einem sozialwissenschaftlichen Rahmen.
Eine dieser Interpretationen geht dahin, dass Richter durch ihre Ausbildung trainiert seien, sich die Realität mit Blick darauf zurechtzulegen, ob das Zurechtgelegte in eine normative Entscheidungsroutine passt. Hier ein Beispiel aus Lautmanns Studie:
"Einem Mann war gerichtlich verboten worden, seine frühere Verlobte zu belästigen. Da er gegen dieses Verbot verstieß, wurden Beugestrafen gegen ihn festgesetzt. Der Mann belästigte die Frau weiterhin. Drei Richter erörtern den naheliegenden Verdacht, ob er geisteskrank sei. M.: 'Soll man ihn noch untersuchen lassen? Wir haben’s damals auch nicht gemacht.' Es ist nun eine Haftstrafe beantragt. M.: 'Zunächst mal: keine Untersuchung der Schuldfähigkeit; der Mann ist nur verschroben.' Damit sind die Bedenken überwunden. Die mögliche Tatsache, daß der Mann geisteskrank (und damit schuldunfähig) ist, wurde hier wegfingiert; ohne Anhaltspunkte zu haben, unterstellt man, der Mann sei verschroben oder 'nur' Psychopath."
Lautmann, der Feldforscher, notierte sich diese anonymisierten Begebenheiten in seiner Funktion als Referendar, ohne seine soziologische Forschungstätigkeit den Kollegen offenzulegen. Diesen Umstand – und nicht etwa die durch Lautmann wiederholt dokumentierte Spielerei von Richtern mit den Freiheitsrechten der Bürger – monierte der BGH-Richter Seibert in seiner Rezension. Der Korpsgeist war verletzt worden.
2/2: Erfrischende Korps-Geistlosigkeiten
Ein studierter, gar promovierter Jurist, der sich – mit Zustimmung der Gerichtspräsidenten und gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – in Spruchkörper der ordentlichen Gerichtsbarkeit einschleicht und ihre Geheimnisse preisgibt, das hätte 1974 ohne Weiteres den Vorwurf des Linksradikalismus nach sich ziehen können. Dieser jedoch blieb bei Seibert aus.
Ein Beispiel, das für eine "Selektivität arbeitssparender Strategien" in der Justiz spricht, rechtfertigt Zurückhaltung: "Ein 39jähriger Mann ist in einer Heilanstalt untergebracht worden. Die Mutter legt hiergegen 'Einspruch' ein. Darf sie das (Ermessensfrage)? Richter F. rät: 'Die Mutter hat kein Beschwerderecht. Nur für einen Ehegatten haben wir einmal das Beschwerderecht bejaht. Am besten wir sparen uns erst einmal die Schreiberei über eine Vollmacht des Sohnes für die Mutter. Wir können also die Beschwerde zurückweisen; sie kann ja jederzeit neu erhoben werden.' Und so geschieht es."
Lautmann polemisiert nicht dagegen. Im Gegenteil, er erklärt, dass die Strategie, arbeitsökonomisch zu entscheiden, erst dann kritisch zu sehen sei, wenn sich nachweisen lasse, dass sie "etwa zu Lasten bestimmter Kategorien von Verfahrensbeteiligten" geht. Kritik an "Klassenjustiz", die Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik hoch im Kurs stand, sieht anders aus. Das ist nett, hinterlässt aber eine Leerstelle: Dass die zum Beispiel in "herbeifingierten Tatsachen" verborgene Unfairness unabdingbar zum Justizbetrieb dazugehöre möchte Lautmann zwar nicht billigen, entwickelt aber auch keine Alternative.
Erweiterte Gerichtsöffentlichkeit als Bequemlichkeitsbremse
Mehr oder weniger subtile Strategien der Arbeitsökonomie – und vielleicht ein Dutzend weiterer Routinen juristischer Entscheidungsfindung, die Lautmann beschreibt – könnten das Ansehen der Justiz beschädigen, zumal dann, wenn sie nur soziologisch aufgedeckt werden, Abhilfe aber nicht formuliert wird.
Ausgerechnet Claus Seibert, der Rezensent von 1974, scheint dieses Defizit gespürt zu haben. Denn Seibert schließt – nachdem er sich über die vermeintliche Schlüpfrigkeit einer getarnten Feldforschung im Spruchkörper ausgelassen hat – mit der überraschenden Aussage: "Wenn es bei uns einmal zur Einführung öffentlicher Beratung käme, so hätte diese Studie wenigstens e i n e n begrüßenswerten Erfolg gehabt."
Die alle Jahre wieder hochkochende Diskussion, ob Kameras und Mikrophone im Gerichtssaal zugelassen werden sollten, könnte angesichts der von Lautmann dokumentierten und interpretierten Pathologien in der "Blackbox", dem Beratungszimmer, von einer "begrüßenswerten" Innovation ablenken: der Ausweitung der Gerichtsöffentlichkeit auf die Beratungen zwischen den Richterinnen und Richtern. Nennen wir sie, spaßeshalber, die Lautmann-Seibert-Innovation.
Einzusehen ist es jedenfalls nicht, warum man heutzutage Sicherheit vor der Staatsgewalt einfordert, indem vielstimmig Polizei-Drohnen und Überwachungskameras im öffentlichen Raum abgelehnt werden, statt Kameras und Mikrophone in Rathäusern, Vergabekammern oder Beratungszimmern der Gerichte einzufordern.
Literatur: Das Gedankenspiel, zu dem am Schluss eingeladen wird, ist – je nach Geschmack – vermutlich arg utopisch oder dystopisch. 1974 schien die Aufhebung des Beratungsgeheimnisses jedenfalls nicht völlig utopisch (oder dystopisch) zu sein. Dazu gekommen ist es trotzdem nicht. Der Beratung einer gerichtlichen Entscheidung werden junge Juristinnen und Juristen daher erst im Referendariat begegnen - von normalsterblichen Bürgern ganz zu schweigen. Rüdiger Lautmanns Feldforschungsarbeit "Justiz – die stille Gewalt", die vor allem die informelle Kultur der Gerichtsarbeit decouvriert, ist daher immer noch reizvoll (ungeachtet aller Zweifel, die man sonst an ihrem Autor haben mag). 2011 erschien sie als Neuauflage (bei VS-Springer). Studierende, die insbesondere prüfen möchten, ob sie die informellen Gepflogenheiten des Justizwesens wirklich miterleben wollen, können über viele Universitätsbibliotheken auf das Werk zugreifen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtssoziologie: Übungen in Entlarvungen . In: Legal Tribune Online, 19.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10705/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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