Der SPD-Ortsvereinsvorsitzende hatte beim Begräbnis eines Genossen einen Kranz mit roter Schleife getragen. Am 4. Juli 1911 bestätigte das Reichsgericht seine Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1908, seine Vor- und Nachgeschichte lassen lose Vergleiche zu heutigen Fragen zu. Eine hemdsärmelige Exegese von Martin Rath.
Es kommt sicher selten vor, dass der Tod eine ziemlich lustige Seite zeigt. Insbesondere, wenn Verstorbene dringend zur Befriedigung von Herrschafts- oder Repräsentationsbedürfnissen herangezogen werden. In einer Anekdote aus den Anfangsjahren des Kaiserreichs, die der Berliner Historiker Olaf B. Rader erzählt, liegen Tod und Witz allerdings nah beieinander.
Das Deutsche Reich, das mit viel Pomp und uniformierter Staatselite am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles ausgerufen worden war, litt bei geschichtsverliebten Zeitgenossen unter einem Mangel an historischer Legitimität. Deshalb baute man seinerzeit mit Begeisterung neoromanische oder neobarocke Staatsgebäude, manches davon steht ja noch heute. Und den mehr ideellen Staatsschatz hätte man gerne mit der Überführung alter Kaiserknochen angereichert, in den Dom zu Köln etwa. Das Reichskanzleramt unter Otto von Bismarck soll zu diesem Zweck 1874 zwei Historiker auf Reisen geschickt haben, die unten – in der Türkei – die Überreste von Kaiser Barbarossa finden sollten, der einst auf seiner bewaffneten Wallfahrt ins Heilige Land verschollen war.
Leider fanden die Historiker keine Knochen des kreuzfahrenden Kaisers, so dass das amtliche Deutschland seine erste große Trauerfeier mit historischem Pomp erst 1888 begehen konnte, als Kaiser Wilhelm I., einst von schwäbischen Revolutionären als "Kartätschenprinz" geschmäht, in ein anderes Reich überging. Dass tote Helden dazu dienen, die Würde des Staates zu mehren, wussten die Landgerichts- und Reichsgerichtsräte der preußisch-deutschen Majestäten aber gewiss auch schon vom humanistischen Gymnasium. Gelegenheit, die weniger gebildeten Proletarier an der Bildung einer heldenverehrenden Parallelkultur zu hindern, bot sich von Rechts wegen – dank des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908.
Trauerzug für Bergarbeiter durch rote Schleife umgewidmet
Im Oktober 1910 fand nach den Feststellungen des Landgerichts Bochum in einer Gemeinde des Ruhrgebiets, im Gebiet der preußischen Provinz Westfalen, die Beerdigung des Bergmanns R. statt. Der Bergmann hatte einer politischen Gruppierung angehört, der staatsfeindliche Aktivitäten nachgesagt worden waren – zumindest bis 1890, als das sogenannte Sozialistengesetz – das fast jede öffentliche Meinungsäußerung sozialdemokratischen Inhalts pönalisiert hatte – auslief.
Die SPD-Genossen des Bergmanns beteiligten sich an der Trauerfeier. Das war wohl bisher schon so üblich gewesen. Der Vorsitzende des Ortsvereins fragte die Witwe, ob er darüber hinaus den verzierten Grabkranz der Genossen tragen dürfe, was im Wortlaut des Landgerichts Bochum, zitiert vom Reichsgericht in Leipzig zu dem folgenden kriminellen Vorgang führte:
"Die Witwe des Bergmanns R. bejahte aber die Frage und so wurde ein Kranz angeschafft, der mit einer handbreiten, lang herunterhängenden, also weithin sichtbaren roten Schleife versehen war. Der Angeklagte B., der den Kranz zu tragen hatte, ging mit diesem im Leichenzug an der Spitze des Vereins. Er hielt den Kranz in der einen Hand, während er mit der andern Hand die Schleife faßte, sodaß sie in der ganzen Länge und Breite zu sehen war." (Zitiert nach: Reichsgericht in Strafsachen Band 45, Seiten 85-88, Aktenzeichen V 474/11.)
Gewöhnliche und nicht gewöhnliche Leichenzüge
Damit hatte der Genosse Ortsvereinsvorsitzende eine Straftat nach § 9 Absatz 2 in Verbindung mit § 18 Nr. 2 des Vereinsgesetzes vom 19. April 1908 begangen. Die juristische Normenkette, die hier um den kranztragenden Trauerzugführer geschlungen wurde, sah so aus: Nach § 7 des Vereinsgesetzes bedurften "(ö)ffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge auf öffentlichen Straßen und Plätzen" einer Genehmigung durch die Polizeibehörde, die spätestens 24 Stunden vorher zu beantragen war – die aber nur versagt werden durfte, wenn von der Versammlung Gefahren für die öffentliche Sicherheit zu befürchten waren.
Als Ausnahme von der Genehmigungspflicht sah § 9 Absatz 2 vor: "Gewöhnliche Leichenbegräbnisse sowie Züge von Hochzeitsgesellschaften, wo sie hergebracht sind, bedürfen der Anzeige oder Genehmigung nicht." Die Strafvorschrift des § 18 Vereinsgesetz bedrohte Verstöße mit einer Geldstrafe zwischen 1 und 150 Mark, also rund einem sehr guten Monatslohn eines qualifizierten Arbeiters (die vorbereitende "Kommission" hatte übrigens 600 Mark vorgeschlagen, musste dem Protest des aufmüpfigen Parlaments aber Tribut zollen).
In der Revisionsschrift gegen das Urteil des Landgerichts Bochum hatte der Verteidiger behauptet, dass das Mitführen eines Kranzes mit "roter Schleife" im Ruhrgebiet nichts ungewöhnliches sei. Das Reichsgericht wählte hier die vornehmste Abkürzung eines Revisionsgerichts und erklärte, dies sei eine Tatfrage, die es als Revisionsinstanz nicht zu kritisieren habe. Die Reichsgerichtsräte konnten sich damit auf einer Linie mit dem "Geheimen Wirklichen Kriegsrat" Dr. iur. Anton Romen sehen, der 1907/08 in der dem Reichstag zuarbeitenden Kommission den Entwurf zum Vereinsgesetz mit entworfen hatte – und noch in der vierten Auflage seines Kommentars zum Vereinsgesetz (Berlin 1916) keine abstrakt-generelle Abgrenzung zwischen "gewöhnlichen" und "nicht gewöhnlichen" Leichenzügen darstellen konnte.
Wohl aber konnte Romen 1916 auf eine Rechtsprechung von Reichsgericht und "Vordergerichten" verweisen, wonach alles, was auch nur entfernt nach einer politischen Äußerung aussah – genauer gesagt: nach einem Lebenszeichen der sozialdemokratischen Partei – aus einer genehmigungsfreien Bestattungsfeier sogleich eine genehmigungspflichtige Demonstration machte. Waren etwa vor Ort konfessionsfreie Grabredner zugelassen, genügte ein politisches Wort. Eine rote Schleife reichte, eine Feier mit trauernden Genossen in eine Demonstration von potenziell staatsfeindlichen Elementen zu wandeln.
Fruchtlos blieb die Revision des Strafverteidigers auch beim Argument, nicht der lokale SPD-Chef, sondern die Witwe sei eigentlich Veranstalter der öffentlichen Versammlung gewesen. Sie habe Glück gehabt, erklärten die Reichsgerichtsräte sinngemäß, nicht als Mitveranstalterin angeklagt worden zu sein – die strafrechtliche Verantwortung des Ortsvereinsvorsitzenden konstruierten sie allein aus seiner faktischen Rolle als Träger des rot garnierten Kranzes, nicht aus der Bestattungspflicht.
Versammlungsrecht heute – Rückkehrpfade in die Provinzialität?
Mit dem Jahr 1911 ist die Gegenwart nicht nur durch die merkwürdige Koinzidenz verbunden, dass italienische Streitkräfte in jedem Jahr erstmals Bomben aus Flugzeugen warfen – zur Eroberung Libyens. Auch beim Blättern durch den 45. Band der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen finden sich juristische Inhalte, die erstaunlich modern anmuten. So richtete der 4. Strafsenat 1911 über Bauersleute, die Milch von ihrem verseuchten Hof verkauft hatten, der 3. Senat bekräftigte mit für Juristen wohl beglückender Haarspalterei die Einkommensteuerpflichtigkeit eines preußischen Bordellwirtes und die Verfolgung von Winzern aus der südlichen Rheinprovinz, die ihren Wein mit Zucker versetzt oder allzu nobel etikettiert hatten, beschäftigte gleich zwei Strafsenate.
Auch das Vereinsgesetz von 1908 enthielt juristische Konstrukte, die heute noch im Gebrauch sind. So nimmt auch das heutige Bundesversammlungsgesetz – das neuerdings in einem Anfall von Föderalismusliebe durch Landesgesetze abgelöst werden kann – "gewöhnliche Leichenzüge" von der Anmeldepflicht aus (§§ 14 und 17 Versammlungsgesetz, Textstand 2008). Die Meldefristen allerdings sind seit 1911 mit 48 Stunden vor Veranstaltungsbeginn ebenso verschärft worden wie die Strafandrohung bei Verstößen – ein Jahr Freiheitsstrafe oder entsprechende Tagessätze, also von einem guten Monatslohn auf bis zu zwölf Monatsgehälter Geldstrafe.
Mit einigem bösen Willen könnten die Landesgesetzgeber bei der Re-Föderalisierung des Versammlungsrechts seit 2006 und könnten die Polizeibehörden bei der Exekution dieses Willens heute wieder an die haarspalterische Unterscheidung von "gewöhnlichen" und "ungewöhnlichen" Leichenzügen anknüpfen. Zu vermuten wäre allerdings, dass nicht die vielerorts (trotz inzwischen wieder schwächelnder Wahlergebnisse mit-) regierenden Genossen dann Gegenstand feinsinniger Interpretationen der politischen Bedeutung der farblichen Ausgestaltung von Kranzschleifen wären – aber für behördliche Trennschärfenübungen gäbe der Unterschied zwischen "islamisch" und "islamistisch" gewiss einiges her.
Eine großzügige Umbewertung, wie sie das Reichsgericht damals dank des Auftritts des SPD-Ortsvereinschefs zuließ, dürfte indes heute vor Gericht keine Gnade finden, de lege lata wie de lege ferrenda: Dass eine Person, die mit einem entfernt als politisch erkennbaren Symbol an einer nicht-politischen Veranstaltung – damals wie heute dem "gewöhnlichen Leichenzug" – teilnimmt, ohne Weiteres zum strafrechtlich verantwortlichen "Veranstalter" der gesamten Versammlung umetikettiert wird, sollte nach der "Brokdorf"-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls nicht mehr von leichter Hand möglich sein.
Im Versammlungsrecht hat die sogenannte "Föderalismusreform" also glücklicherweise nur Schleichpfade zurück in die juristische Provinz des Jahres 1908 (und davor) geöffnet. Von Königswegen spricht bei dieser Reform ohnehin niemand mehr.
Lehren aus der Zeit um 1908
Scharfe Kritik erfuhr das Vereinsgesetz von 1908 übrigens auch nicht so sehr wegen seiner versammlungsrechtlichen Teile. Gegen die Überwachung von Versammlungen unter freiem Himmel hatte selbst die linke und liberale Seite des Reichstags keine starken Einwände. Scharfe Kritik, auch im Namen seiner linksliberalen und sozialdemokratischen Abgeordnetenkollegen, äußerte bei der dritten Lesung des Vereinsgesetzes am 8. April 1908 Adolf Gröber, einer der führenden Männer der katholischen Zentrumspartei. Gröber (1854-1919) war vor seiner politischen Karriere Verwaltungsrichter in Württemberg gewesen, einige provinzjuristische Längen seiner Rede – später im Druck unter dem Titel "Das neue Vereinsgesetz, ein Schlag gegen Recht, Gerechtigkeit und Freiheit" erschienen – verzeiht ihm der heutige Leser gerne, nicht nur, weil er die vom Blatt gelesene Meterware gegenwärtiger Reichstagsrhetoren zum Vergleich hat.
Einige von Gröbers Kritikpunkten erscheinen heute seltsam vertraut: So beklagt der gelernte Verwaltungsrichter, dass bei der Vereinheitlichung des Vereinsrechts auf Reichsebene – heute dürfte man den Übergang von der nationalen in die europäische Gesetzgebung damit gleichsetzen – eine Regelung auf möglichst freiheitsreduziertem Niveau stattfände. Damals hieß das, dass sich politische Vereine im bisher liberalen Südwestdeutschland vorläufig wieder daran gewöhnen mussten, dass uniformierte Polizisten – Pickelhaube auf dem Kopf, Degen an der Seite – ihre Versammlungen auch in geschlossenen Räumen beobachteten. Das bedeutete eine Vereinheitlichung auf höchstem "Sicherheitsniveau" – die illiberalen Preußen kannten es nicht besser.
Die Überwachung von Vereinigungen, in denen nicht von Haus aus Deutsch gesprochen wurde, spielte ebenfalls eine große Rolle in Gröbers Kritik. Manches, was der württembergische Zentrumsmann zur möglichen Willkür gegen polnischsprachige Vereine im Osten Preußens sagte, ließe sich wohl auf neuere Überwachungswünsche zulasten auch inländischer muslimischer Gruppen übertragen.
Einen derzeit sehr aktuellen Kritikpunkt äußerte Adolf Gröber, auch an seine sozialdemokratischen Reichstagskollegen gerichtet (nimmt man die dokumentierten Beifallsäußerungen als Maßstab): Das neue Vereinsgesetz ermögliche willkürliches Polizeihandeln gegen Sozialdemokraten und linke Gewerkschaftsleute und sei damit – gleichsam durch die Hintertür – ein neues "Sozialistengesetz", also jenes zwischen 1878 und 1890 immer wieder nur befristet, immer wieder aber verlängerte Sonder- und "Sicherheits"-Gesetz gegen die "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie".
Der katholische Zentrumspolitiker aus Württemberg hatte damals also ein feines Gespür dafür, dass auch befristete Sondergesetze, die der Staatssicherheit dienen sollen, den liberalen Rechtsstaat verderben können, weil sie die Polizeibehörden an rigide Vorgehensweisen gewöhnen.
An diesen "erzieherischen Aspekt" gegenüber Polizei und politischer Justiz scheint jedenfalls bei der aktuellen Diskussion um die fortwährende Verlängerung von "Anti-Terror-Gesetzen" niemand mehr zu denken.
Handapparat:
Olaf B. Rader: "Grab und Herrschaft". Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. München (Beck) 2003
Wilhelm Diess: „Das Reichs-Vereinsgesetz und das Bayerische Vereinsgesetz". Eine Vergleichung. Dissertation, München 1909
Adolf Gröber: "Das neue Vereinsgesetz, ein Schlag gegen Recht, Gerechtigkeit und Freiheit", Stuttgart (Deutsches Volksblatt) 1908
Anton Romen: "Vereinsgesetz", Kommentar, 4. Auflage Berlin 1916
René Schillings beeindruckender Aufsatz zur politischen Instrumentalisierung eines Totenkults, samt versammlungsrechtlicher Fallstricke und unter Ausschluss der "linken" Weltkriegsveteranen, beim Leichenzug für den Flieger Manfred von Richthofen, 1925, konnte leider nicht berücksichtigt werden;
ders.: "Reichswehr, Wehrmacht und nationale republikfeindliche Rechte", in: Michael Epkenhaus (Hg.): "Die Suche nach Orientierung in deutschen Streitkräften 1871-1990", Schriften des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Sollte unter Beobachtung bleiben.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
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Martin Rath, Leichenzug als sozialdemokratische Propaganda: . In: Legal Tribune Online, 02.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3649 (abgerufen am: 08.10.2024 )
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