Den "Borkumlied-Fall" kennen Juristen meist nur wegen eines polizeirechtlichen Details. Dabei warf das Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts 1925 auch ein Schlaglicht auf skandalöse Verhältnisse in den deutschen Tourismus-Hochburgen: Judenfeindlichkeit diente der Wirtschaftsförderung. Ein Blick auf das eingeschränkte Reiserecht in den Zeiten des Antisemitismus.
In der juristischen Überlieferung steht der "Borkumlied-Fall" neben dem ungleich harmloseren "Schaufensterpuppen-Fall". Beide illustrieren ein polizeirechtliches Problem: Wen darf die Polizei verantwortlich machen, wenn eine Störung von mehreren Personen mit verteilten Rollen ausgeht? Wenn sich vor einem außergewöhnlichen Schaufenster die Menschenmassen stauen und den Verkehr behindern, gegen wen wird eingeschritten – den Inhaber der Schaufensterpuppen oder gegen die gaffenden Fußgänger?
Solche Fragen diskutieren Juristen oft anhand von historischen Fällen. Die historischen Umstände interessieren sie dabei wenig, meist beschränken sie sich auf das dogmatische Problem. Dem Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts vom 14. Mai 1925 (Aktenzeichen III. A. 68/24 – abgedruckt in: PrOVGE 80, 176-195) ging zwar eine rund 50-jährige Skandalgeschichte voraus, diskutiert wird aber heute bestenfalls die harmlose Frage: Wenn eine Kapelle eine Melodie spielt und ihre Zuhörer dazu einen antisemitischen Text singen, gegen wen darf die Polizei vorgehen – gegen die Kapelle oder gegen den Pöbel?
Dem Hamburger Historiker Frank Bajohr ist es zu verdanken, dass die Geschichte heute in ihrer ganzen Breite erzählt werden kann.
Badeorte – Ansätze des modernen Tourismus
Dass es der Erholung dienen könnte, sich auf eine Reise zu machen, ist eine relativ neue Idee. Jahrhundertelang waren die Leute verreist, um Krieg oder Handel zu treiben, um ein Handwerk zu erlernen oder dem Seelenheil mit einer Wallfahrt zu dienen.
Das Rheintal lockte im 19. Jahrhundert mit schöner Landschaft moderne englische Reisende, Thomas Cook organisierte Touren zum Passionsspektakel von Oberammergau. Vorreiter waren die Briten auch beim Aufbau touristischer Infrastruktur. Bereits im 18. Jahrhundert entwickelten sich die britischen Seebäder zum gesellschaftlichen Treffpunkt für Adel und Bürgertum des Landes. Der Göttinger Gelehrte Georg Christoph Lichtenberg beklagte schon früh, dass Deutschland gesellschaftlich hinterherhinke.
Doch Deutschland zog nach. Beispielsweise wurde Norderney 1797 zur ersten Königlich-Preußischen Seebadeanstalt erklärt. Borkum ist seit 1830 Badeort. Die Gäste kamen aus den zahlreichen deutschen Adelshäusern sowie dem gehobenen Bürgertum. Ihr Glanz färbte auf die Kurorte ab. Sittenstreng wie die Zeit war, wurde zwar wenig gebadet; umso mehr zeigte sich das gehobene Publikum, bestens gekleidet, auf der Promenade. Die Sommerfrische diente nicht zuletzt dazu, Heiratsbeziehungen anzubahnen.
Die Reiselust wuchs immens. Von 1880 bis 1900 verzehnfachte sich die Zahl der Kurgäste in den Seebädern von rund 23.000 auf fast 240.000, die Mineralbäder im Landesinneren verdoppelten ihre Gästezahl. Bis 1905 wuchs die Zahl nochmals um das Doppelte – Bajohr schränkt aber ein: "Von einem Durchbruch zum Massentourismus konnte dennoch nicht einmal ansatzweise die Rede sein. Als die deutschen Seebäder 1911 zusammengenommen rund 800.000 Gäste zählten, verzeichnete allein das britische Seebad Blackpool vier Millionen Besucher, unter ihnen eine große Zahl von Arbeitern."
Zum Renomee zählte, dass Hotels mit dem vornehmen Charakter ihrer Gäste warben. In Kurlisten wurden neben den Namen auch Titel und Beruf neuangekommener Badegäste veröffentlicht. Selbstverständlich fanden sich Arbeiter allenfalls im Promillebereich, denn: "Vor dem Ersten Weltkrieg konnten sich nur 11 Prozent der deutschen Bevölkerung eine jährliche Urlaubsreise leisten."
Antisemitismus – touristische "Unique Selling Proposition"
Jüdische Badegäste waren etwas überrepräsentiert, arbeiteten sie doch in vergleichsweise modernen Berufszweigen von Handel und Dienstleistungen. Bürgerlicher Wohlstand und die Gelegenheit, potenzielle Ehepartner aus anderen jüdischen Gemeinden kennenzulernen, zog sie in die Kurorte.
Seebäder wie Borkum oder Zinnowitz auf Usedom entdeckten in diesen Wachstumsjahren den Antisemitismus als Wirtschaftsfaktor. Konkurrenz lässt nach Unterscheidungsmerkmalen suchen. Ältere Seebäder profitierten von ihrem Renomee, wurden von den regierenden Fürstenhäusern Deutschlands frequentiert und lebten vom Habitus weltmännischer Offenheit.
Andere Kurorte schlossen sich der verbreiteten Judenfeindlichkeit ihrer weniger gut betuchten, aber gleichwohl vermögenden Gäste an, woraus sich eine starke antisemtische Dynamik entwickelte. Judenfeindliche Lieder wurden zur "Hymne" des Kurorts, Postkarten mit ihnen bedruckt. Die Motive aus den 1890er-Jahren nehmen das NS-Blatt "Stürmer" vorweg.
War der Antisemitismus der Kurgäste erst als das Kriterium erkannt, nach dem diese ihr Ferienziel auswählten, folgte eine entsprechende Politik der Kurverwaltungen: Vitte auf Hiddensee warb etwa mit der Aussage "Kein Luxusbad, judenfrei". Der "Centralverein deutscher Staatsangehöriger jüdischen Glaubens", kurz CV, warnte reichsweit vor einzelnen Hotels, aber auch vor ganzen Ortschaften, die sich Judenfeindlichkeit zum Geschäftsprinzip gemacht hatten.
Eine politische Debatte dazu gab es vor dem Ersten Weltkrieg nur im Preußischen Herrenhaus, der ersten Kammer des Parlaments. Die konservative Seite zeigte sich belustigt, die Sache versandete im administrativen Betrieb.
Von Radikalisierung und Justizskandalen
Borkum hatte sich "bereits im Kaiserreich als antisemitisches Bad profiliert, in dem es schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Übergriffen auf jüdische Gäste gekommen war". Aber es kam, wie Bajohr weiter schreibt, noch schlimmer: "In der Weimarer Republik mutierte die Insel jedoch zeitweise zum antisemitischen Tollhaus, das reichsweit Aufsehen erregte."
Von symbolischer Bedeutung für die Republik war die Haltung der Kommunalverwaltung von Borkum zur ortsüblichen antisemitischen "Hymne". Der Gemeinderat hatte sich, der judenfeindlichen Geschäftspolitik wegen, 1919 mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, dass das "Borkum-Lied" nicht verboten würde. Der Umstand, dass die kommunale Kurkapelle dazu die Musik orchestrierte, gab ihren Gegnern aber einen Hebel in die Hand.
Zunächst sah aber der noch aus alten Zeiten übernommene Regierungspräsident von Aurich keine Rechtsgrundlage, in die kommunale Selbstverwaltung einzugreifen. Das sollte sich ändern, als der umstrittene SPD-Politiker Gustav Noske, seit 1920 Oberpräsident der preußischen Provinz Hannover, sich der Sache annahm und die Kommunalverwaltung anweisen ließ, die Kurkapelle von Borkum dürfe den "Kaisermarsch" nicht mehr intonieren – jene Melodie, zu der die Gäste des Seebades so "geistvolle" Zeilen sangen wie:
"An Borkums Strand nur Deutschtum gilt, nur deutsch ist das Panier //...// Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, / Der soll nicht deinen Strand genießen, der muß hinaus, der muß hinaus! Hinaus!"
Das Amtsgericht Emden erließ, ohne die Legitimation des Antragstellers zu prüfen, eine einstweillige Verfügung gegen den Staat Preußen, die es bei 100.000 Goldmark Strafe untersagte, das Musizierverbot durchzusetzen.
Gefeiert wurde diese skandalöse, handwerklich angreifbare Verfügung vom umtriebigen Pfarrer von Borkum, dem evangelischen Geistlichen Ludwig Münchmeyer, der später für die NSDAP in den Reichstag einziehen sollte.
Oberverwaltungsgericht hielt Musizierverbot für "unangemessen"
Auch abseits der bizarren Verfügung des Amtsgerichts konnten sich die Gegner der antisemitischen Politik Borkums nicht vor Gericht behaupten. Das Preußische Oberverwaltungsgericht, sah im Kommunalverfassungsrecht keine Handhabe, im Wege der Sachaufsicht ein Musizierverbot zu erlassen.
Auch für ein polizeirechtlich begründetes Verbot sahen die Berliner Richter keinen hinreichenden Grund. Ohne dies zu wissen, scheinen die Werftarbeiter von Emden zu dieser Ansicht beigetragen zu haben. Für eine Weile hatten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter nämlich den Fährbetrieb in Richtung Borkum behindert, um symbolisch Druck für das Verbot zu machen. Die von den Borkumern als "Judeninsel Norderney" geschmähte Nachbarschaft war nicht behindert worden.
Durch den wirtschaftlichen Druck befördert, hatte das sich Kurorchester von Borkum zeitweilig an das Musizierverbot gehalten. Das Oberverwaltungsgericht konnte daher argumentieren: Weil die Kurgäste ja auch ohne die Begleitung der passenden Marschmusik das inkriminierte "Borkum-Lied" gesungen hätten, sei die eigentliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht von der Kapelle ausgegangen. Weil der Text im Übrigen auch auf andere Melodien gesungen werden könnte, sei das Musizierverbot polizeirechtlich unangemessen.
Borkum oder: Touristengeld macht höflich
Aufschlussreich und für Juristen wohl etwas ernüchternd ist, was Frank Bajohr über Entwicklungen berichtet, die sich zeitgleich abspielten. Eine antisemitische Tourismuspolitik war nämlich nicht nur in deutschen und österreichischen Kur- und Erholungsorten anzutreffen. In den USA wurde 1877 der Öffentlichkeit erstmals das Problem des "resort antisemitism" bewusst, als der Hotelmanager Henry Hilton dem deutsch-jüdischen Bankier Joseph Seligman die Aufnahme verweigerte.
Bis in die 1960er-Jahre war es in den USA gang und gäbe, jüdischen Reisenden – von afroamerikanischen ganz zu schweigen – die Unterkunft zu verweigern. Zwar verbot schon 1913 der Staat New York allzu offensichtliche Diskriminierung, das Hotelmarketing wusste sich aber anzupassen. Dem "resort antisemitism" sollte erst die soziale, wirtschaftliche und auch moralische Dynamik der USA ein Ende bereiten.
Wirtschaftliche Dynamik ist es wohl auch, die heute im internationalen Tourismus eine archaische Geschäftspolitik im Stil des alten Borkums verbietet: Wer Geld hat, hat ein Recht höflich behandelt zu werden.
Wem das als Moral der Geschichte zu unbefriedigend erscheint, könnte bei der Auswahl seiner Urlaubsziele für 2011 den Jahresbericht von "Amnesty International" zu Rate ziehen. Wer daraus für sich selbst keine eigene Diskriminierung in fremden Ländern entnehmen kann, könnte seine Ferien ja immerhin moralisch in fremdem Interesse zu planen versuchen.
Der Autor Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln.
Literaturhinweis:
Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main (Fischer) 2003
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Angelika Nußberger im Interview: "Die Entscheidungspraxis sollte nicht politisiert werden"
Martin Rath, Lehrbuchfall "Borkum-Lied": . In: Legal Tribune Online, 01.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2249 (abgerufen am: 12.11.2024 )
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