Juristen erinnern sich gern an Zunftgenossen, die als Künstler berühmt wurden – Goethe, Heine oder E.T.A. Hoffmann beispielsweise. Ein sehr witziges Werk scheint jedoch völlig vergessen: "Der Schöffe von Paris" erblickte 1838 die Welt. Geschaffen von einem schreibenden Schauspieler und einem komponierenden Juristen wirkt es wie ein früher Vorläufer zum grotesken Humor Monty Pythons. Von Martin Rath.
Ein gewisser Nicodemus Delorme, ein schon reiferer Herr, der unter der etwas merkwürdigen Amtsbezeichnung des "Schöffen von Paris" auftritt, wird von einem frisch promovierten Studenten namens Loriot, dessen Kommilitonen, sowie von einer Frau namens Trinette, der Tochter des Glöckners von Notre Dame, daran gehindert, die schöne und junge Therese Truiton zu heiraten, die eigentlich in den besagten Loriot verliebt ist. Zu diesem Zweck legen die Studenten dem Schöffen und seiner Braut auf ihrem Gang nach Notre Dame de Paris ein als Doktorprüfungsfeier getarntes Saufgelage in den Weg. Trinette spielt die verkleidete Zigeunerin aus Ägypten und alle singen, trinken und lügen, dass sich die Balken biegen.
Weil das an Hindernissen und Wirrnissen nicht reicht, tritt auch Karl VII., König von Frankreich, auf – allerdings inkognito, weil sich Paris noch in den Händen der englischen Besatzungsmacht und ihrer französischen Verräter-Freunde befindet. Man schreibt das Jahr 1442, die Jungfrau von Orléans hat die Franzosen siegreiche Schlachten schlagen lassen, doch Paris will für den König noch genommen werden.
Jurist wird Komponist – Karriere mit Komik
Diese knallig schräge Geschichte, bei der man sich mit gutem Gewissen die "Pythons" auf der Bühne vorstellen möchte, ging tatsächlich 1838 – mit gutem Erfolg, wie es heißt – über die Bretter der deutschen Opern- und Musiktheaterhäuser. Das Libretto schrieb ein Wilhelm August Wohlbrück (1795-1848), Schauspieler aus Hannover. Zur Oper machte es der im Jahr 1800 oder 1804 in Königsberg (Ostpreußen) geborene Heinrich Dorn (gest. 1892).
Eine Biografie wie die des Heinrich Dorn lässt sich heute, jedenfalls hierzulande, eher selten finden: Mit seinen erfolgreichen Opern machte er sich schon als junger Mann einen Namen, brachte es als noch nicht 40-Jähriger zu leitenden Funktionen im öffentlich-rechtlichen Unterhaltungsbetrieb des In- und Auslands, wurde 1829 Musikdirektor am Leipziger, 1849 am preußischen Hoftheater zu Berlin. Vor der künstlerischen Karriere stand indes die juristische Ausbildung: Sein Vormund, ein "Justiz-Commissarius" zu Königsberg, selbst ein "tüchtiger Dilettant in der Musik", hatte ihm den Abschluss eines rechtswissenschaftlichen Studiums auferlegt, bevor er Dorn in die Künste aufbrechen ließ – für das 19. und frühe 20. Jahrhundert war das gewiss keine untypische Juristenkünstlerlaufbahngestaltung.
"Noch hat der Feind das Recht die Macht: leise sacht"
Welches Werk der Hochkomik die beiden Künstler hinterließen, will ein wenig illustriert werden: "Doch stille, stille, leise sacht / Wer weiß, ob kein Verräther wacht; / Noch hat der Feind das Recht die Macht: / Nur stille, stille, leise sacht", singen die liebesblöden Studenten von Paris eingangs. Vor den Toren der Stadt trafen englische und französische Truppen zwar schon aufeinander: "Das tobt so toll, das blitzt und kracht, / Hurrah! hurrah! schallt’s dort und hier, / Bald sinket Englands Kriegspanier, / und Frankreichs Fahnen wallen / Wohin die Blicke fallen", doch in der Stadt herrscht einstweilen der "Schöffe von Paris" und es stehen noch englische Soldaten im Land, die es sich vermutlich auch nicht ausgemalt hatten, dass sie an einem "Hundertjährigen Krieg" teilnehmen müssten.
Der "Schöffe von Paris" will, wie schon notiert, in dieser Lage ausgerechnet heiraten, dummerweise die Freundin von Loriot, dem Studenten. Besagter Nicodemus Delorme tritt als eine Mischung von Bürgermeister und Polizeichef der Stadt auf: "Weiß nicht Dein Vater wer ich bin? – / Der erste Mann im Staat! / Voll Ehrfurcht blickt man nach mir hin / in Bürgerschaft und Rath / … / Ich bin’s, vor dessen Zorn man bebt: / Bin Schöffe von Paris".
An dieser Stelle sieht man übrigens, dass offenbar schon zu Zeiten von Dorn und Wohlbrück die rechtshistorischen Vorlesungen nicht ganz ernstgenommen wurden: Das mittelalterliche Paris kannte nämlich keinen "Schöffen" – in Kommunen damals meist eine Mischung aus Hilfsrichter und Hilfspolizist – in dieser exponierten Position. Gehobene polizeiliche und richterliche Funktionen bekleidete ein "Prévôt", zu Deutsch vielleicht: "Stadtvogt" oder "Generalgewaltiger". Aber das hätte wohl nicht so gut ins Versmaß gepasst wie der "Schöffe von Paris".
2/2: Wer sein Land liebt, der raubt es aus
König Karl VII. (1403-1462) ist bei Dorn/Wohlbrück ein ziemlicher Draufgänger, der sich selbst in die Stadt einschleicht, um Unruhe zu stiften, denn seine tapfersten Ritter wollten einander solange aus Bescheidenheit den Vortritt lassen, bis sich unter ihnen keiner mehr fand. Sein Mut ist hier ein schöner Zug an Karl, den wir ja sonst meist als feigen Nutznießer der kriegerischen Jungfrau von Orléans kennen.
Kaum ist der König inkognito im besetzten Paris angekommen, trifft er schon auf Matout, den Glöckner von Notre Dame, der sich beim "Schöffen von Paris" durch mangelnde Motivation beim Glockengeläut unbeliebt gemacht hat – und vergisst, in welcher Mission er sich überhaupt in die Stadt geschlichen hat. Statt im feindlichen Heer Unruhe zu stiften, geht er – hierin ganz Politiker – der Meinungsforschung nach, indem er, im Schutz seines Inkognitos, Matout provokativ nach dem Ansehen des Königs befragt: "Sein Sinn ist stets nur zugewandt / Verliebten Tändelei’n", behauptet Karl in demoskopischem Interesse von sich selbst: "Und mehr wohl liebt er als sein Land / Die Mädchen und den Wein." Als treuer Untertan antwortet der Glöckner seinem König: "Daß Frankreich Wein und Mädchen giebt, / Ist aller Welt bekannt: / Drum wenn er" – gemeint ist König Karl – "wenn er Wein und Mädchen liebt, / So liebt er ja sein Land".
An den Worten, mit denen Wohlbrück/Dorn die Liebe des Herrschers zu seinem Land reichlich pragmatisch beschreiben, ist zum einen bemerkenswert, dass sich französische Spitzenpolitiker bis in die jüngste Vergangenheit gern ganz ernsthaft nach dieser komödiantischen Erklärung verhielten.
Repräsentation und Demoskopie
Interessant scheint auch das Problem der Repräsentation und Distanz, das jede Herrschaftsordnung hat: Was weiß der Herrscher über die Meinungen des Demos und wie findet er sie heraus?
Als Wohlbrück und Dorn ihre komische Oper mit großem Erfolg auf die Bühne brachten, war in den deutschen Staaten das Politische noch weitgehend die Domäne der Monarchen. Bis zur Revolution von 1848/49 – mit dem Anspruch allgemeiner parlamentarischer Vertretung aller deutschen Männer – gingen noch zehn Jahre ins Land und die Menschen in diesem sogenannten "Vormärz" wussten nicht, dass der revolutionäre März ’48 einmal kommen würde. Parlamentarismus als Instrument der Meinungserhebung war also noch nicht etabliert. Während sich heute sogar Kommunalpolitiker gelegentlich selbst die Legitimation entziehen, indem sie demoskopische Befragungen in Auftrag geben, statt sich unters Volk zu mischen, ist bei Wohlbrück/Dorn der König selbst ein Demoskop in eigenen Angelegenheiten. Eine komische Oper zum Repräsentations- und Demoskopieproblem haben wir also schon. Die juristische Dissertation zu dieser Opernfigur sicher noch nicht.
Souveränität: Liebe als Zufallsgenerator
Im zweiten Akt der Oper kann König Karl die Stadt Paris einnehmen, weil ein Signal seine Soldaten zum Kampf ruft, obwohl es dazu nicht gegeben wurde: Es diente eigentlich dem studentischen Komplott, dem "Schöffen von Paris" die Braut zu rauben. Am Ende wird der hochverräterische Schöffe begnadigt, Loriot und Therese dürfen heiraten, was den nun offiziell auftretenden König zu folgendem Gesang veranlasst:
"Auf! Laßt der Freude Ruf erschallen! / In die verwaisten Königshallen / Zieh‘ ich von Euch begleitet ein; / Und laut verkünd‘ ich dort vom Throne: / Der schönste Stein in meiner Krone / Soll ewig Eure Liebe sein."
Nach der berühmten Carl-Schmitt-Phrase gilt als souverän, wer "über den Ausnahmezustand entscheidet". Interessant wäre es, könnte man jenem preußischen König, dem der Opern-Komponist Heinrich Dorn als Hofmusiker diente, nachträglich in den Kopf schauen: 1849 lehnte Friedrich Wilhelm IV. es ab, die deutsche Kaiserkrone anzunehmen, die ihm von den demokratischen Abgeordneten der Nationalversammlung angetragen worden war. Davon erholte sich die deutsche Verfassungsgeschichte bekanntlich erst, als sie 100 Jahre später mit dem Bundespräsidenten ein homöopathisch abgespecktes Ersatzkaiseramt schuf.
Bei Wohlbrück und Dorn "entscheidet" niemand über den "Ausnahmezustand". Die Zufälle galoppieren vielmehr fröhlich über die Bühne und ausgerechnet als Liebes-Heiler etabliert sich der semifiktive König Karl im Amt. Liebeszufälle halfen ihm überhaupt, Paris zu gewinnen, den Thron zu besteigen.
Ob die komödiantische Lächerlichkeit einer durch Liebeszufälle gewonnenen Staatsmacht dazu beigetragen hat, dass die preußischen Potentaten ihren Weg vorzugsweise auf "Blut und Eisen" stützten? Mit allen bekannten Folgen nicht nur für die deutsche Verfassungsgeschichte?
Tipp: Das Libretto zu "Der Schöffe von Paris" wird in digitalisierter Form von der Bayerischen Staatsbibliothek online gehalten. Das Werk, das sich wie eine Gemeinschaftsarbeit von Monty Python und Vicco von Bülow (alias Loriot, dem Jüngeren) liest, liegt in einer angenehmen Frakturschrift vor und bietet weit mehr als nur die zitierten komischen Reime.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Juristen in der Kunst: Loriot hörnt den Schöffen von Paris . In: Legal Tribune Online, 13.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12540/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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