Typologie des Unmuts: Nörgler und Que­ru­lanten aus Sicht der Justiz

von Martin Rath

19.05.2024

Wer noch glaubt, er habe Einfluss, übt Kritik. Wer sich ohnmächtig fühlt, wird eher nörgeln. Nicht besonders geglückt erscheint eine europäische Legaldefinition des Nörgelns. Und worin unterscheidet sich Nörgeln von Querulanz?

Der Bundesgerichtshof (BGH) verstand einmal sichtlich die Welt nicht, der im leichtfüßig lebenslustigen Köln ansässige Richterinnen und Richter ausgesetzt waren. 

Es ging um den Scheidungsprozess von Eheleuten aus der Domstadt, die wenige Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geheiratet und bald darauf einen Sohn bekommen hatten. Damals waren beide 26 Jahre alt. 

Spätestens nach seiner Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft mussten sie, Ende 30, bald Anfang 40 Jahre alt, gründlich feststellen, wie wenig sie zueinander passten. Eine erste Klage auf Scheidung wurde abgewiesen. Mit einer zweiten Klage begehrte er später erneut die Scheidung wegen Verschuldens der Beklagten. 

Seiner Gattin warf der Kläger vor, sie "habe ihn ständig unfreundlich behandelt und mit Ausdrücken wie 'Idiot' und 'Pharisäer' beschimpft", sogar die Hoffnung ausgedrückt, dass er aus dem Krieg nicht zurückkehre. Dass er bereits ein Jahr nach dem ersten, gescheiterten Scheidungsprozess ein neues Verfahren begann, begründete er damit, dass ihm erst jetzt ehebrecherische Beziehungen seiner Gattin zu Ohren gekommen waren, die bis zu zehn Jahre zurücklagen – unter anderem mit Angehörigen der US-Besatzungsmacht, während er in Gefangenschaft war. 

Vor allem wegen der "Unsauberkeit und Liederlichkeit" seiner Gattin habe aber von jeher "Unfrieden in der Ehe geherrscht, und die unbeschreibliche Vernachlässigung des Haushalts durch die Beklagte sei der letztlich entscheidende Grund für die Zerstörung der Ehe gewesen". 

Nicht nur, dass der Mann nach der Berufsarbeit noch das Aufräumen und Reinigen der Wohnung habe erledigen müssen, sondern "sogar Flickarbeiten", also das Ausbessern von Textilien, sah er als Zumutung. Auf seine Vorhaltungen, dass sie ihren Teil der Hausarbeit zu leisten habe, soll sie ihn als "Reinlichkeitsapostel" und "Lumpen" beschimpft haben – und, last but not least, als "Nörgler". 

Ordnung und Sauberkeit in der Ehe – in Köln und in Karlsruhe 

Die Eheleute seien "gegensätzliche Charaktere" hatte das Oberlandesgericht (OLG) Köln treffsicher festgestellt. Während der Gatte hier "ein ernster, überaus korrekter Mann" sei, nehme seine Gattin "das Leben leichter, sie mache es sich gern etwas bequem und halte nicht viel von Äußerlichkeiten". 

Das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe sahen die Kölner Richter darin, dass es dem Mann nicht gelungen sei, sich auf das Niveau seiner Gattin einzustellen: "Denn wenn sich zwei Menschen mit so unterschiedlicher Auffassung zu Fragen der Sauberkeit und Sorgfalt im täglichen Leben in einer Ehe verbänden, sei es in erster Linie die Aufgabe dessen, der besondere Anforderungen an Sauberkeit, Genauigkeit und Sorgfalt zu stellen gewohnt sei, die für eine erfolgreiche Ehe notwendige Anpassung zu vollziehen." 

Der BGH sah hingegen in einer "erheblichen Unsauberkeit und nachlässigen Haushaltsführung durch die Ehefrau" eine mögliche schuldhafte Verletzung ihrer ehelichen Pflichten, solange diese nicht auf "Unerfahrenheit oder Unfähigkeit" der Frau beruhten, sondern auf ihrer Neigung zur Bequemlichkeit. Es sei "geradezu eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten, wenn der Ehefrau das Beharren auf einer pflichtvergessenen Einstellung zugebilligt und von dem Ehemann bei Vermeidung eines Schuldvorwurfs verlangt wird, sich mit dieser Wesensart abzufinden" (BGH, Urt. v. 07.12.1960, Az. IV ZR 122/60). 

Nörgeln – vom Justiz- zum Privatproblem 

Dank der Reform des Scheidungsrechts, in deren Rahmen unter anderem das Verschuldens- vom reinen Zerrüttungsprinzip abgelöst wurde, haben die Gerichte seit 1977 nicht mehr im Detail zu untersuchen, aus welchen moralischen Gründen ein Gatte über den anderen zu schimpfen oder zu nörgeln beginnt – Verhaltensweisen, die nur unter Umständen das rechtliche Ende einer Ehe rechtfertigten. 

Was die Gerichte entlastete, veränderte auch den medialen Umgang mit menschlichem Verhalten, z. B. der Unlust oder dem Unmut. Wenn kein Gericht mehr konkret und mit Blick auf über die Personen hinausgehende Prinzipien entscheidet, wann etwa unzulässiges Nörgeln eine Ehe scheidungswürdig zerrüttet hat, müssen eben die Gattinnen und Gatten den Sachverhalt selbst rationalisieren und sich mitunter kulturelle Orientierung suchen. 

Kaum zufällig boomt seit den 1970er Jahren die populär-psychologische Literatur – inzwischen soll sogar ein "Jammerfasten" zu höherer Selbstzufriedenheit führen. Das ist ein bewusster Verzicht auf das Nörgeln bzw. eine Art egozentrische Meditation über die Nörgelei-Motive. Auch die sogenannte Gewaltfreie Kommunikation (GFK) des amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg (1934–2015), die keine sittlichen, sondern offenkundig nur kommunikative Prinzipien anbietet, wird als Mittel gegen Nörgelei empfohlen. 

Gewitzter ist dagegen die Beobachtung des amerikanischen Satirikers und Journalisten Eric T. Hansen (1960–), der zu den Motiven des Nörgelns ein "Genießen der wohligen inneren Hilflosigkeit" zählt, es sei "das dem eigenen, herrlich winselnden Unterton Hinterherlauschen; es ist die erhebende Empörung, dass man es doch hätte besser machen können", wenn die benörgelte Partei nur zugehört hätte.  

Wer Verantwortung scheut, nörgelt statt zu kritisieren 

Wo genörgelt wird, wird im Zweifel daher gern ein "unberechtigtes Herumkritisieren" gesehen, keine auf Gründe und Prinzipien gestützte, also sachliche Kritik, wobei dies auf wesenhaftes Unvermögen gestützt sein kann, also die "nörgelnde Art" eines Menschen (vgl. BGH, Urt. v. 26.11.1965, Az. IV ZR 298/64). 

Während das Nörgeln in der Ehe mit dem Jahr 1977 rechtlich privatisiert wurde, bleibt es unter Staatsbediensteten ein öffentliches Problem. 

Nach Max Weber (1864–1920) ist Bürokratie der Idealtypus einer legalen und rationalen Herrschaft. Es dient die Verwaltung der Pflege von Interessen nach Rechtsregeln und allgemein angebbaren Prinzipien. Diese Idee zu prüfen, lohnt sich nicht nur, wenn wieder einmal die populistische Phrase vom Bürokratieabbau die Runde macht. Sie gibt auch etwas zur Nörgelei her. 

Denn wer in der Verwaltung dient, befolgt Weisungen oder hat das Rückgrat aufzubringen, ihnen um der höheren Prinzipien der Verwaltung willen zu widersprechen – mit dem Anspruch, dass für das formal vernünftig vorgebrachte Argument bei der höheren Stelle auch die widerlegbare Vermutung gilt, der Vortrag des Untergebenen sei inhaltlich rational. 

Zu pflegen ist in einer tüchtigen und rationalen Bürokratie also der Habitus einer formgerechten Kritik, die jedenfalls zarte Aussichten auf Erfolg haben sollte. Nach den Worten eines Personalrats, die heute so deutlich wohl nicht mehr formuliert würden, war es daher  unerwünscht, dass sich in einer Dienststelle "Unruhestifter, Nörgler, Minderleistungsfähige und Kranke" wohlfühlen. Gegen den Verbleib einer solchen Bewertung seiner Person in der Personalakte wehrte sich in den 1960er Jahren ein Beamter energisch (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.01.1972, Az. VI C 96.67).  

Diese Gegenwehr war zwingend. Denn der Vorwurf, ein Mensch in einer Bürokratie sei ein Nörgler, trifft ihn geradewegs in seiner Ehre: Wer nörgelt, leistet keinen Beitrag dazu, dass die Gesamtheit der hierarchischen Organisation von seiner Leistung profitiert, die er in Form sachbezogener Kritik erbringen könnte. Im schlimmsten Fall gilt er sogar als Störenfried. 

Abgrenzung von Nörgelei und Querulanz 

Während ein bürokratischer Prozess oder Apparat durch Nörgelei schlimmstenfalls um den Nutzwert einer vernünftigen Kritik gebracht wird, die der Nörgler weiter auszuarbeiten zu faul, ungebildet oder unvermögend ist, gilt Querulanz mitunter als Gefährdung eines geordneten Betriebs und des "Arbeitsfriedens". 

Unter den "Typ des Querulanten" wurde ein Mensch gefasst, "der in egozentrischer Einstellung stets glaubt, allein im Recht zu sein, während alle anderen Unrecht tun. Er sieht immer und überall jeden auch noch so kleinen Mangel, wertet ihn auf und greift ihn mit kämpferischem Fanatismus und unter Benutzung abseitiger und herbeigeholter Argumente an. Er ist in dieser Art eine abnorme psychopathische Persönlichkeit, ohne daß diese charakterologische Abartigkeit Krankheitswert hat oder sich als Geistesschwäche werten läßt. Weder Einsichts- noch Willensfähigkeit sind bei ihm beeinträchtigt. Auch die Querulanten vermögen sich zu steuern." 

An dieser sprachlich rustikalen Definition, die der Bundesdisziplinarhof in einem Urteil vom 7. Juli 1961 (Az. I D 92/60) zur Beurteilung eines Postbeamten nutzte, ist vieles heikel. Einen anderen zu pathologisieren, ohne dass sich etwas mit der Krankenkasse abrechnen ließe, gilt heute als unfein – erst recht, wenn es ein Gericht ohne zwingenden rechtlichen Grund tut. 

Wirklich heikel ist aber, dass der Eindruck vermittelt wird, es gebe Argumente, die schlechthin "abseitig" oder "herbeigeholt" seien. Auch das sollte im Zweifel immer noch argumentativ begründet werden können. Während jedoch der Nörgler nicht motiviert ist, ein reifes Argument zu formulieren, weil er in der Hoffnung meckert, es würde sich jemand anderes um sein Anliegen kümmern – einschließlich einer rational anschlussfähigen Vervollständigung seines Gedankens –, geht der Querulant davon aus, seine Lösung eines Problems sei einzig richtig, ohne sie hinreichend der argumentativen Kritik auszusetzen. 

Wenig hilfreiche europarechtliche Nörgelei-Legaldefinition 

Behauptungen, die ohne Begründung und argumentativ verwendetes Beispiel auskommen sollen, finden dank Social Media und ungepflegter Online-Kommentarforen seit rund 15 bis 20 Jahren eine extrem reichweitenstarke Verbreitung. 

Ob feinsinnige Unterscheidungen, etwa zwischen "Nörgelei" und "Querulanz", überhaupt eine Zukunft haben, mag darum fraglich sein. Neuere Kategorisierungen, die für die digitale Kommunikation vorgeschlagen werden, wirken aber mitunter noch kaum belastbar. 

Unter dem barocken Titel "Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien zur Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt" erklärt die Europäische Kommission beispielsweise, dass "wiederholte Eingriffe in normale Interaktionen, um den Verbraucher dazu zu bewegen, etwas zu tun oder zu unterlassen (d. h. 'Nörgeln')", möglicherweise als ein "Dark Pattern" in bestimmten Feldern digitalen Geschäftsverkehrs verboten bzw. ausdrücklich verbotenen "Dark Patterns" gleichzustellen seien. 

Bedenkt man, dass vor 60 Jahren noch nicht einmal zwischen dem OLG Köln und dem BGH klar war, ob lebenslustige Frauen aus dem Rheinland ihren Gatten die Socken zu stopfen hatten bzw. wie nachhaltig letztere nörgeln durften, wenn sie es unterließen, ist es schon ambitioniert, dass der europäische Gesetzgeber "Nörgeln" als "wiederholte Eingriffe in normale Interaktionen" definieren möchte. 

Aber darüber nur zu meckern, hilft gewiss auch nicht weiter.

Zitiervorschlag

Typologie des Unmuts: . In: Legal Tribune Online, 19.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54572 (abgerufen am: 11.12.2024 )

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