Am 14. Mai 1610 wurde in Paris der französische König Henri IV. ermordet, 1757 entging sein Nachfolger Louis XV. einem Anschlag. Die nachfolgenden Strafverfahren gehören zum Furchtbarsten, was sich Juristen je ausgedacht haben.
Waren es Spanier und Niederländer, die im 16. und 17. Jahrhundert die Grundlagen des modernen Völkerrechts schufen, geboren aus der Begegnung mit den heidnischen Fürsten in Übersee und den Kriegen untereinander, gilt das Frankreich jener Jahre als der Ort, an dem wesentliche Elemente des neuzeitlichen Staates erfunden wurden. Modern insbesondere darin, dass sich die politische Organisation allmählich von religiöser Rechtfertigung löste.
Zu den Vordenkern eines starken, mitunter neutral gedachten Staates, der den auch in Frankreich wütenden Konflikten zwischen Katholiken und Protestanten ein Ende bereiten könnte, zählten Michel de L'Hospital (1505–1573), Jean Bodin (1529/30–1596) oder Étienne de La Boétie (1530–1563). Alle drei waren Angehöri-ge eines juristisch ausgebildeten Dienstadels, der beispielsweise mit dem neuen Konzept der Souveränität zu operieren verstand und als dessen ersten politischen Erfolg man die Thronbesteigung von Henri IV. sehen kann. Henri IV., seit 1572 König von Navarra, seit 1589 König von Frankreich – ein zwar katholisch getaufter, aber doch hugenottisch erzogener Fürst: Sein Edikt von Nantes garantierte den protestantischen Untertanen mal recht, mal schlecht weitgehende Rechte zu.
Die Ermordung Henris IV. durch François Ravaillac, einen katholischen Fanatiker, nach heutigem Verständnis möglicherweise psychisch kranken Attentäter, am 14. Mai 1610 hatte ein furchtbares strafprozessuales Ritual zur Folge, das – neben dem Strafvollzug an seinem nachgeborenen "Kollegen" Robert François Damiens (1715–1757) – zu den bedrückendsten Verfahren in der europäischen Rechtsgeschichte zählt.
Religiös verrückter Attentäter
Ravaillac, überzeugt davon, dass Henri trotz seines äußeren Bekenntnisses weiter-hin die Sache der Protestanten betrieb – seine Indizien-Auswertung in dieser Richtung erinnert stark an heutige Aluhut-Träger in Online-Foren – stach seinen konfessionell ambivalenten König am 14. Mai 1610 nieder. Die Verletzungen führten nahezu unverzüglich zum Tod des französischen Monarchen.
Der Gerichtshof von Paris, die Grand'chambre des Parlements, verurteilte Ravaillac mit Urteil, das am 27. Mai 1610 vollstreckt wurde, wegen des Verbrechens der Majestätsbeleidigung dazu, vor dem Hauptportal von Notre Dame Reue zu bekunden, um im Anschluss öffentlich vom Henker ausführlich gemartert – von den Details nehmen wir hier Abstand, Neugierige mögen hier nachlesen – und schließlich durch vier Pferde zerrissen zu werden, woraufhin die Reste seines Körpers zu verbrennen waren.
Das Eigentum Ravaillacs verfiel der Krone, sein Haus war dem Erdboden gleichzu-machen, binnen 14 Tagen hatten seine Verwandten Frankreich zu verlassen und bei Androhung der Todesstrafe fernzubleiben.
Noch berühmter: der Fall Robert François Damiens
Knapp 147 Jahre später erlitt Robert François Damiens, der es vergeblich unter-nommen hatte, König Louis XV. zu töten, das nahezu exakt gleiche strafrechtlich choreografierte Schicksal.
Während Ravaillacs Tat und ihre rechtspolitischen Konsequenzen – die Hugenot-tenverfolgungen unter Henris Nachfolgern – den englischen Rechtsphilosophen Jeremy Bentham in seiner die europäische Kriminalwissenschaft revolutionierenden "Introduction to the Principles of Morals And Legislation" (1789) spekulieren ließen, wie vermögend Frankreich unter einem atheistischen König hätte bleiben können – solcherart geführte Königreiche seien gegen den seltenen Irrsinn von Attentätern und überschäumende Reaktionen besser gefeit –, ist die Hinrichtung Damiens' bis heute, insbesondere unter Sozialwissenschaftlern und (post-)modernen Intellektuellen, zu einer Art akademischen Splatter-Geschichte geworden.
Verantwortlich dafür ist französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984), der 1977 meinte, zwei Systeme des Strafvollzugs plastisch gegenüberstellen zu müssen: Die Vierteilung Damiens' im Jahr 1757 und die im Jahr 1837 – wiederum von Bentham – vorgeschlagene Haft im "idealen Gefängnis", einer auf Vereinzelung und panoptischer Überwachung beruhenden Freiheitsstrafe.
Foucault und seine Anhänger aus den Splatter-Geisteswissenschaften sind bis heute den Verdacht nicht losgeworden, dass sie am brutalen körperlichen Strafritual weniger auszusetzen hatten (und haben) als an dem die menschliche Seele zurichtenden modernen Freiheitsentzug. Juristen haben es hier leichter: Seit 1837 versuchten es die westlichen Gesellschaften auf diesem Feld bekanntlich immer wieder mit vermittelnden Ansätzen.
2/2: Vormodernes Strafritual gleitet ins Absurde ab
Ein auch unabhängig von der Brutalität des Justizbetriebs alter Zeiten erschrecken-des und die Augen öffnendes Buch zum Fall Damiens hat Horst Karasek (1939–1995) unter dem Titel "Die Vierteilung" vorgelegt (Berlin, 1994). Er lässt in seiner dokumentarischen Darstellung Zeitzeugen zu Wort kommen.
Die Familie Sanson beispielsweise, die über sechs Generationen prominente französische Henker stellte, hinterließ Beobachtungen von der handwerklichen, aber auch von der öffentlichen Wirkung des grauenhaften Schauspiels: Der König habe sich über das Tötungsritual am meisten bestürzt gezeigt, so der Justizvollzugsbedienstete. Ein Mensch lässt sich nicht so leicht von Pferden zerreißen. Damit das Publikum noch bei Tageslicht etwas zu sehen bekam, wurde mit dem Beil nachgeholfen. Karasek dementiert den Henker von Paris: Später habe der König durchaus damit geprahlt, was seinem Feind hier widerfahren sei.
Waren öffentliche Exekutionen sonst eher ein beliebter Ort für Diebstähle – was Todesstrafen-Gegner damals an ihrer abschreckenden Wirkung zweifeln ließ –, erweiterte ein Gefährte des berühmten Intellektuellen und Erotikers Giacomo Casanova (1725–1798) das Repertoire hinrichtungsbezogener Kriminalität: Im dicht gedrängten Publikum verging sich sein Freund an einer Frau, nach Begriffen der Zeit sodomitisch, wie Casanova nicht zu überliefern vergaß.
François-Marie Arouet (1694–1778), bekannt unter dem Namen Voltaire, spielte keine Ruhmesrolle. In vorangegangenen, etwas weniger scheußlichen Strafritualen der französischen Justiz hatte der aufgeklärte Philosoph beredt interveniert. Der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch sollte ihn später dafür gar zum Urahn des modernen Justiz-Journalismus adeln. An der Hinrichtung des – nicht erfolgreichen – "Vatermörders" Damiens hatte Voltaire aber wenig auszusetzen, wohl um sein nach heutigen Begriffen millionenschweres Medienimperium nicht zu gefährden. Ob Voltaires Opportunismus seinen Ahnen-Status eher bestätigte oder desavouierte, lässt sich schwer beantworten.
Für beide Hinrichtungen, Ravaillac und Damiens, sind kannibalistische Übergriffe bzw. Versuche des Publikums überliefert, sich nicht verbrannte Leichenteile anzu-eignen. Ihnen wurde pharmakologisches Potenzial zugesprochen. Für das eigentlich im Rahmen der "damnatio memoriae" vorgesehene Ganzbrandopfer fehlte der notorisch sparsamen Justiz auch bei solch prominenten Fällen am Ende doch das Holz.
Spurenelemente dieses Rechts heute
Während die Hinrichtung Damiens' den Studierenden postmoderner Fächer nach wie vor recht bekannt sein dürfte, sind ihre juristischen Umstände bei Menschen vom Fach doch einigermaßen verblasst.
Dabei wirkt in den Straftatbeständen zum Schutz des Staatsoberhaupts – sieht man von § 90 Strafgesetzbuch ab, der seinen Grund wohl in den Schmutzkampagnen besorgter Bürger gegen Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) hatte – noch etwas von der strafrechtlichen Konstruktion des vormodernen Monarchen-Schutzrechts nach: Die Taten Ravaillacs und Damiens' wurden nicht im Sinn einer modernen Rechtsgutslehre als (versuchte) Tötungsdelikte verstanden, sondern als Angriffe böser Kinder auf die gleichsam geheiligte Person des väterlichen Souveräns, als Anschlag auf seine Ehre – und diese Vorstellungswelt wurde gleichsam im "Majestätsbeleidigungsparagraphen" konserviert – glücklicherweise zivilisiert.
Eine weitere, etwas unverhoffte Relevanz für das positive Recht haben die grausamen Hinrichtungsmethoden in der rechtstheoretischen Diskussion der USA: Der achte Zusatzartikel zur US-Verfassung, der seit 1791 überhöhte Kautionen und Geldstrafen sowie grausame und ungewöhnliche Strafen verbietet, wurde vor dem Hintergrund der im Vergleich zum zivilisierten angelsächsischen Galgen so barbarischen kontinentaleuropäischen Strafrituale geschrieben.
Aus der Sicht einer am Zeitverständnis des späten 18. Jahrhunderts orientierten Verfassungsinterpretation lässt sich damit "maiore ad minus" für die Todesstrafe argumentieren – eine nicht nur für paläokonservative Juristen schlüssige Logik.
Wer kann wen verraten?
"Da könnte ja jeder kommen!" – "Das wäre ja noch schöner!" Nach einer halb im Scherz geäußerten Ansicht des in Deutschland einst weltberühmten Zivilrechtslehrers Martin Wolff (1872–1953) lässt sich jede Rechtsordnung auf diese zwei Sätze zurückführen. Mit der Frage: "Wer ist schuld?" könnte man weite Teile des Zivilrechts ihrer historischen und dogmatischen Willkür entkleiden, Staatsrecht- und Staatslehre, die von der rechtlichen Regulierung der Macht handeln, laufen wohl oft auf Antworten zur Frage hinaus: "Wer kann wen verraten?"
Dass die Rechtsordnung auf die Frage nach dem Verrat historisch äußerst scheußliche Antworten fand, sollte nicht daran hindern, ihr analytisches Potenzial zu reanimieren: Wo wird vom Volk kindliche Liebe zur Staatsführung verlangt, ihre Verweigerung als Verrat pönalisiert? Sollte das Ausscheiden aus einer "res publica" wie der Europäischen Union als Verrat behandelt werden? Was ließe sich z.B. aus dem konstruktiven Misstrauensvotum (Art. 67 GG) für den Brexit lernen, wenn man beides einmal als Sonderformen von Verrat betrachtet?
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Strafe für Königsmord: Nicht nur tot, sondern ausgelöscht . In: Legal Tribune Online, 14.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22913/ (abgerufen am: 29.09.2023 )
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