Ein EU-Beitritt ist nicht zu erwarten, böse Zungen könnten aber behaupten, es sei längst schon dabei: Vor 130 Jahren trat das Königreich Ruritanien erstmals in Erscheinung. Auch in Rechts- und Wirtschaftswissenschaften ist es prominent.
Von Schönheit und Schattenseiten des Königreichs Ruritanien erzählte erstmals im Jahr 1894 der britische Rechtsanwalt Sir Anthony Hope Hawkins (1863–1933).
Seinerzeit bevorzugt mit der Eisenbahn von Dresden aus zu erreichen, soll die Hauptstadt Strelsau rund sechzig Meilen von der deutsch-ruritanischen Grenze zu finden sein.
Hope Hawkins beschrieb Strelsau als bemerkenswerte Mischung aus alter und neuer Architektur: malerische Gassen in der Altstadt, moderne Boulevards nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts in den Außenbezirken. Prächtige Fassaden dort, wo die Angehörigen der Oberschicht residieren, die Nebenstraßen bevölkert von eher zwielichtigen Leuten.
Ruritanien wird zum romantischen Bestseller
Zu einem prominenten Ort zunächst der Literatur-, früh aber auch schon der Kino-Geschichte wurde Ruritanien durch im weitesten Sinn dynastische Vorgänge im 18. Jahrhundert: Während eines Besuchs in London lernte der ruritanische Fürst Rudolf III. im Jahr 1733 Amelia, Gräfin von Burlesdon, näher kennen. Aus ihrer adelsrechtlich illegitimen Beziehung resultierte ein Kind, das mit seiner langen Nase und dunkelroten Haaren typische Merkmale des Vaters aufwies.
Von den Abenteuern eines späteren Nachkommen, des britischen Staatsangehörigen Rudolf Rassendyll, erzählte Rechtsanwalt Hope Hawkins in seinem 1894 veröffentlichten Bestseller "The Prisoner of Zenda": Auf Urlaubsreise, damals noch eine Unart der britischen Oberschicht, durch Ruritanien macht Rudolf Rassendyll kurz vor dessen Krönung die Bekanntschaft des neuen Königs, Rudolf V.
Während der Fürst von einer Verschwörung bedroht ist, vertritt ihn Rassendyll bei der Krönungszeremonie, steht romantische Liebeshändel mit hochadligen Damen durch und wirkt an der Befreiung des Fürsten aus der Hand seiner Feinde mit.
Freiheiten in der Kinogeschichte
Im amerikanischen und britischen Kino fasste die ruritanische Liebes- und Staatsaffäre früh Fuß. Erstmals verfilmt wurde sie 1913, besonders bekannt und bis heute im gut sortierten Streaming-Dienst verfügbar ist "Im Schatten der Krone" (1952, "The Prisoner of Zenda") mit dem Schauspieler Stewart Granger (1913–1993) in der Doppelrolle als Rudolf Rassendyll und König Rudolf V., seiner Kollegin Deborah Kerr (1921–2007) in der Rolle der Prinzessin Flavia, der von Rassendyll romantisch begehrten, aber heroisch dem König überlassenen Frau. Rote Haare hat Rassendyll-Rudolf hier nicht mehr.
Im Film scheint Ruritanien seine geografische Position verändert zu haben. Nun liegt es nicht mehr an einer Bahnstrecke von Dresden nach Irgendwo, sondern ist zwischen Wien und Bukarest zu finden. Gleichwohl zählt zur Dienstbekleidung der Fremdenpolizei die primär deutsche Pickelhaube, die pompösen Uniformen der höheren Hofschranzen anlässlich der Krönung von Fürst Rudolf, vertreten durch Rassendyll, sehen aus wie aus dem Fundus der vormaligen Kaiser in Berlin und Wien gegriffen.
Eine präzise Ironie zur europäischen Staatstradition leistet sich der Film aus dem Jahr 1952 musikalisch: Zum Auftritt des vermeintlichen Fürsten erklingt das Lied "See the conq'ring hero comes", das Georg Friedrich Händel 1750 prominent für sein Oratorium "Judas Maccabaeus" verwendete. Bekanntlich kopierten die europäischen Herrscher im 19. Jahrhundert fleißig die britische Königshymne "God Save the Queen/King" – damals Ausdruck der potentesten Corporate Identity eines modernen Fürstenstaates.
Obskure kontinentaleuropäische Staaten haben eine Konjunktur
Auf der Landkarte nicht verzeichnete, also utopische Länder zu erfinden, hat zwar spätestens seit Thomas Morus Staatsroman "Utopia" (1516) Tradition. Seinem Landsmann Hope Hawkins gelang aber 1894 eine erfolgreiche Modernisierung – viele farbenfrohe Fantasiekönigreiche und -republiken haben ihr Vorbild in Ruritanien.
Bekannt sind etwa das Königreich Syldavien aus "König Ottokars Zepter" ("Le Sceptre d'Ottokar", 1938/39) des belgischen Comic-Künstlers Hergé (1907–1983) oder das 2004 multimedial in Szene gesetzte "Molwanîen. Land des schadhaften Lächelns" ("Molvanîa: a Land Untouched by Modern Dentistry").
Auch im Reich der Fantasie haben jedoch Sitte und Anstand gewahrt zu bleiben.
Nachdem der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said (1935–2003) im Jahr 1978 mit seinem Werk "Orientalismus" postuliert hatte, ein westliches Überlegenheitsgefühl entstehe aus der Abgrenzung von einem fremd gemachten Orient, der Westen benötige ein solches Konstrukt des schlechthin Anderen, gerieten auch Fantasiestaaten vom Typ Ruritanien in die Kritik – es werde nicht nur ein teils witzig gemeintes Bild vom Balkan als Region gezeichnet, in der bestimmte Institutionen des modernen Staates nicht recht Fuß gefasst hätten ("Balkanismus"), vielmehr werde auf diese Weise die Vorstellung von einer Rückständigkeit ganzer Regionen und Ethnien auf irgendeine Weise normativ gemacht.
Ob und wie dieser Umschlag ins Normative oder sogar "Ontologische" stattfindet, ist Gegenstand anhaltender akademischer und feuilletonistischer, oft aber auch schlicht alberner Kontroversen.
Ruritanien bleibt in Rechts- und Wirtschaftswissenschaften gängig
Bevor derartige Anfechtungen aufkamen, hatte sich Ruritanien ("Ruritania") im juristischen Diskurs der englischsprachigen Länder bereits etabliert, wenn es darum ging, fremde Rechtsordnungen zu umschreiben.
Ein Beispiel unter vielen gibt etwa Stanley B. Steins Auseinandersetzung zur Rechtswahl im Internationalen Privatrecht, insbesondere zur Möglichkeit der Gesamtverweisung aus dem Jahr 1971 ("Choice of Law and the Doctrine of Renvoi"). Ihm dienten die fiktiven Länder "Utopia" und "Ruritania" als Platzhalter für zwei Rechtsordnungen im Konkurrenzverhältnis von Geltungsregeln.
In einem Wettbewerb unter juristischen Fakultäten des afrikanischen Kontinents wurde 1997 den Finalisten die Aufgabe gestellt, sich mit der Geltung völkerrechtlicher Regelungen in einem fiktiven Ruritanien zu befassen – inzwischen weder Nachbarstaat Deutschlands noch obskures Balkanfürstentum, sondern ein föderaler Staat in Afrika, der zugleich der Jurisdiktion des Afrikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie der gerichtlichen Abteilung des Londoner Privy Council unterworfen sei.
Die Beliebtheit Ruritaniens erklärt sich leicht mit Blick auf einen Aufsatz von Nathan B. Oman aus dem Jahr 2023. Unter dem Titel "Restructuring Ruritania: Bankruptcy, Sovereign Debt, and the Equity Receivership" diskutiert der amerikanische Juraprofessor einige Möglichkeiten bankrotter Staaten, sich gegen Gläubiger durchzusetzen, die mit ihrer Vetooption eine sonst weitgehend konsentierte Insolvenzlösung verhindern können. Ein akademischer Text dieses Typs nähme sich natürlich selbst die Reichweite, würde er reale Staaten allzu undiplomatisch konkret benennen.
Zu den ersten, die Ruritanien in diesem Stil verwendeten, zählte der kakanisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises (1881–1973), dessen Werk heute leider außerhalb verschroben libertärer Kreise nicht mehr allzu breit rezipiert wird. In der englischen Ausgabe seiner zuerst 1912 publizierten "Theorie des Geldes und der Umlaufmittel" stellte er am Beispiel Ruritaniens ausführlich die negativen Konsequenzen dar, die es habe, wenn ein Staat die Deckung seiner Währung durch Goldreserven aufgibt.
Ruritanien als Reservat unbeliebter juristischer Figuren?
Sowohl in der juristischen wie der wirtschaftswissenschaftlichen Welt neigt man dazu, Ruritanien als negatives Gegenbild zu einer modernen Gesellschaft mit tüchtigem Staatsapparat zu zeichnen. Vielleicht ist Ruritanien deshalb hierzulande weniger geläufig als in den englischsprachigen Ländern – obwohl Sir Anthony Hope Hawkins es 1894 als ein deutsches Fürstentum zwischen Sachsen und der k.u.k Monarchie einrichtete.
Auf einer künftigen Landkarte juristischer Weltbilder ließe sich Ruritanien damit gut als Reservat für altbackene Denkmuster umnutzen.
An der Hohen Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Strelsau könnte sich, wer das für sinnvoll hält, weiterhin mit Zivilrechtsvorlesungen befassen, die unter dem Titel "Das besondere Verhältnis der Frau zu ihrer Einbauküche" stehen. Der ruritanische Juristennachwuchs mag dann seine Subsumtionskünste auch weiter mit Fällen vom Typ üben, über die Luise Morgenthal (gest. 2007) bereits 1983 die Nase rümpfte: "Herr Lüstlein stellt sich dauernd als Blutspender zur Verfügung, um einer Dirne den Lohn für die Vornahme sadomasochistischer Handlungen zahlen zu können …"
Ein literarisch oder multimedial aufbereitetes Ruritanien würde dann als Museum für derart hässlich gewordene oder immer schon abstruse Antiquitäten dienen, die sich dort im Zusammenhang ausstellen ließen. Der edle Kitsch, wie er zum romantischen Abenteuer zu Ruritanien erzählt wird, hat vielleicht nicht verdient, mit solchen Ausstellungsstücken zusammengerückt zu werden. Aber im einen wie im anderen Fall wird künftig kaum jemand glauben wollen, dass es derlei jemals gab.
Literatur: Alberto Manguel & Gianni Guadalupi: Von Atlantis bis Utopia. Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur. Dritter Band. Frankfurt/Main u.a. (Ullstein) 1984.
Ein deutsches Land, das ein englischer Anwalt erfand: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56170 (abgerufen am: 15.01.2025 )
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