Das preußische Dreiklassenwahlrecht: "Ein Hoch­verrat von oben"

30.05.2019

Ein Abgeordneter, der seinen Kollegen nahelegt, schon einmal den Weg zur Hinrichtungsstätte ins Auge zu fassen? Im Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht war dem Berliner Anwalt Karl Liebknecht jedes rhetorische Mittel recht.

Konrad Adenauer (1876–1967) hatte über seinen nur fünf Jahre älteren Kollegen, wie er ein studierter Jurist und Berufspolitiker, nichts Freundliches zu sagen. Dessen „aggressive Beredsamkeit“ habe kaum verborgen, dass „er eigentlich wenig zu sagen hatte. Ich hielt ihn – und halte ihn – für wenig begabt, da er sich nur in überkommenen und schematischen Denk- und Wortformen bewegte. Vielleicht war ein hysterischer Zug in ihm.“

Noch gut 40 Jahre nach dem Tod des Berliner Anwalts und Politikers Karl Liebknecht (1871–1919) rief der inzwischen in den Ruhestand verabschiedete Bundeskanzler und Memoiren-Autor seinem Generationsgenossen 1963 nach: „(D)ie scheußliche Art seiner Ermordung im Januar 1919 schenkte ihm den Märtyrerruhm und ersparte ihm den Untergang ins Namenlose – dem ein Versager sonst verfällt.“

Dreiklassenwahlrecht abschaffen oder untergehen

Berufspolitiker sind gern nachtragend. Die bösen Worte Adenauers über den seinerzeit im sozialistischen Staatskult der DDR stark verehrten Liebknecht lagen aber nahe.
Ein Beispiel für die „aggressive Beredsamkeit“, die der rhetorisch selbst eher eigenwillige Adenauer dem alten politischen Gegner noch 1963 attestierte, gab Liebknecht unter anderem am 24. Juni 1909 mit seiner Rede im Abgeordnetenhaus zu einer Petition, die dem Parlament des Königreichs Preußen von der feministischen Journalistin Minna Cauer (1841–1922) zur Abschaffung des sogenannten Dreiklassenwahlrechts vorgelegt worden war.

Durch die Blume eines Zitats, das er sich beim humanistischen Philosophen Gerolamo Cardano (1501–1576) borgte, teilte Liebknecht die Menschheit in drei Gruppen auf: Eine erste Klasse derer, die betrügen, eine zweite Klasse derer, die als betrogene Betrüger gleichzeitig betrügen und gleichzeitig betrogen werden, und schließlich eine dritte Klasse, die nur betrogen werde. Seine mehrheitlich konservativen und liberalen Abgeordnetenkollegen sah Liebknecht naturgemäß als Vertreter der ersten beiden Klassen.
Damit nicht genug. Das 60 Jahre zuvor, durch Verordnung vom 30. Mai 1849, eingeführte preußische Dreiklassenwahlrecht bezeichnete Liebknecht als Ergebnis eines Verfassungsbruchs, ja eines „Hochverrats von oben“.

Konservative und liberale Abgeordnete sollten bedenken, dass die Vorherrschaft, die ihnen das Dreiklassenwahlrecht nicht nur im preußischen Abgeordnetenhaus, sondern auch in den Volksvertretungen der Städte und Gemeinden des Königreichs garantierte, nicht von Dauer sein müsse: „Vom Kapitol zum Tarpejischen Felsen ist nicht weit. Meine Herren, beherzigen Sie das!“
Unter humanistisch gebildeten Abgeordneten war dies der recht unverblümte Hinweis darauf, wohin der Redner die Herren Kollegen wünschte: Bis ins erste nachchristliche Jahrhundert stürzten die antiken Römer von besagtem Felsen Meineid- und Inzesttäter sowie Verräter in den Tod.


Dreiklassenwahlrecht – mehr als „Geschi“-Unterrichtsstoff


Hinter der scharfen Rhetorik verbarg sich eine langjährige Auseinandersetzung um die Grundsätze des Wahlrechts in Deutschland.
Bis zu seiner Abschaffung im Zuge der Revolution von 1918/19 hatte das preußische Dreiklassenwahlrecht immerhin knapp 70 Jahre die Rekrutierung der Abgeordneten im wichtigsten deutschen Königreich einschließlich seiner kommunalen Gliederungen geprägt – also über einen Zeitraum, der dem bisherigen Bestand der Bundesrepublik Deutschland gleichkommt.

Während für die Reichstagswahlen ein im Wesentlichen gleiches Männerwahlrecht galt, wurde das Stimmgewicht der wahlberechtigten über 24 Jahre alten Männer eines Wahlkreises zur Wahl der Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses sowie der parlamentarischen Gremien der kommunalen Selbstverwaltung nach ihrem Steueraufkommen dreigeteilt – wobei die Wahl zudem nicht direkt erfolgte.
Die Historikerin Hedwig Richter (1973–) beschreibt die Ungleichheit dieses Dreiklassenwahlrechts in ihrem Werk „Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert“ folgendermaßen:

„Der ersten Klasse gehörten – relativ stabil bis zum Ende der Kaiserzeit – nur etwa 3 bis 5 Prozent der Wähler an, der zweiten etwa 12 bis 15 und der dritten Klasse 80 bis 83 Prozent. Zur Hierarchisierung trug die Indirektheit bei: Die Urwähler durften nur die Wahlmänner wählen; die stimmten dann einige Tage oder Wochen später in einer zweiten Wahlversammlung über die Abgeordneten ab. Das Gesetz sah vor, dass die Wähler bei den Wahlen einzeln aufgerufen wurden, dann an den Wahltisch der Kommission traten und laut den von ihnen gewählten Kandidaten zu Protokoll gaben, der neben den Namen des Wählers notiert oder vom Wähler selbst eingetragen wurde.“

Wahlgeheimnis und -gleichheit waren nicht die Regel

Weder das fehlende Wahlgeheimnis noch die Gewichtung der Stimmkraft nach dem Vermögen oder Steueraufkommen waren dabei Besonderheiten eines spezifisch preußisch-deutschen Untertanengeists – Richter zitiert z.B. den „radikal-republikanischen“ US-Senator Lyman Trumbull, der 1867 abschätzig vor seiner Parlamentskammer erklärte: „Ich möchte in jedem Mann einen unabhängigen Wähler sehen, der sich nicht heimlich zur Wahl schleicht und seine Entscheidung hinter einem geheimen Stimmzettel versteckt.“ Dieser Vorstellung vom freien Mann, der zu seiner politischen Stimme zu stehen habe, folgten auch in Deutschland konservative wie liberale Beamte und Intellektuelle aller Schattierungen.

Das Stimmgewicht vom Vermögen bzw. vom Steueraufkommen unabhängig jedem freien Mann zuzuweisen – soweit er nicht durch Zuchthaus, Militärdienst oder Sozialfürsorge-Abhängigkeit gehindert war – blieb weltweit selten. Dass die Abgeordneten des deutschen Reichstags vergleichsweise frei und gleich gewählt wurden, stand einsam in der Tradition der Frankfurter Nationalversammlung. Dort hatte die demokratisch-liberale Linke der konservativ-liberalen Seite im Gegenzug zum gleichen Männerwahlrecht das Zugeständnis machen müssen, ein Erbkaisertum in die – 1849 jedoch insgesamt gescheiterte – sogenannte Paulskirchenverfassung aufzunehmen. Hinter den Stand fiel beim Reichstag trotzdem nicht zurück. 

Wählen war weniger beliebt als man denken möchte

In ihrer Geschichte moderner Wahlen zeigt Richter viele Gelegenheiten, die heute oft stark ritualisierte Würdigung dieses demokratischen Prozesses in Frage zu stellen. Zu denken ist etwa an das Lob der europäischen Wählerschaft, sich vergleichsweise fleißig an der jüngsten Europawahl beteiligt zu haben.

Das zum 30. Mai 1849 verordnete, im Jahr darauf auch in der Verfassung des Königreichs ratifizierte preußische Dreiklassenwahlrecht – in anderen deutschen Staaten ging es derweil nicht unbedingt ‚demokratischer‘ zu – stieß z. B. auf eine Bevölkerung, die in den 40 Jahren zuvor vielfach sehr zurückhaltend auf das neumodische Wahlrecht reagiert hatte.
Vereinfacht und zugespitzt formuliert: Aus der amerikanischen Parole „no taxation without representation“ würde der einfache preußische Untertan in der Provinz, soweit des Englischen mächtig, herausgehört haben: Eine Obrigkeit, die ihn zum Wählen drängte, wolle von ihm in erster Linie Steuerzahlungen sehen. Soweit in Europa, sei es nach den preußischen Reformen des Jahres 1809, sei es in Großbritannien oder anderenorts, eine demokratische Repräsentation durch Wahlen eingeführt oder ausgeweitet wurde, folgte dies tatsächlich zunächst aus der enormen Schuldenlast, die diese Staaten im Krieg gegen das revolutionäre bzw. Napoleonische Frankreich angehäuft hatten.

Manches von dem, was pommersche oder brandenburgische Provinzbürger als Argumente gegen das Unternehmen der Berliner Eliten vorbrachten, sie zum Wählen zu bringen, ist noch heute – unwesentlich verändert – gegen neuere politisch-ökonomische Modernisierungsvorhaben zu hören (nicht selten aus den gleichen geografischen Herrgottswinkeln).
Dass sich trotzdem immer größere Bevölkerungskreise für ein möglichst freies und gleiches Wahlrecht interessierten, war im Lauf des 19. Jahrhunderts von der Erwartung motiviert, auf diesem Wege Gleichberechtigung insbesondere in straf- und zivilrechtlichen sowie Kultusfragen zu erreichen – beispielsweise als Frau über den eigenen Körper, Vertragsfreiheit und Vermögen, als Arbeiter über die Früchte der Arbeitsleistung zu verfügen oder als Angehöriger einer religiösen Minderheit Ehre und Bekenntnisfreiheit zu erhalten. Mit heutigen Wahlsonntagsreden, die eine hohe Beteiligung als Selbstzweck sehen, hatte dies wenig zu tun.


„Radikalisierung“ als Feind der preußischen Verhältnisse

Wenn sich der damals noch sozialdemokratische Berliner Rechtsanwalt und Stadtverordnete Karl Liebknecht als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses 1909 so feindlich gegen das Dreiklassenwahlrecht äußerte, wie eingangs zitiert, hatte dies aber nicht allein mit rechtlichen Emanzipationsanliegen oder apokalyptischen Revolutionshoffnungen und -ängsten zu tun, die seinerzeit die politische Rhetorik prägten.

Der preußische Gesetzgeber selbst hatte das Dreiklassenwahlrecht innerhalb seiner Axiome nicht ernstgenommen: Nachdem unter Finanzminister Johannes von Miquel (1828–1901) in den 1890er Jahren die Einkommen- und Kommunalsteuern reformiert worden waren, war im Rahmen des Wahlrechts ein fiktiver Steuerbetrag für Bezieher kleiner Einkommen angesetzt worden, um eine Verschiebung der Stimmkraft zulasten der oberen Klassen zu vermeiden – auch die Ergebnisse dieser Stimmkraftschiebung zogen so viel Zorn Liebknechts auf sich, dass er seine Gegner vom römischen Felsen der Gerechtigkeit stürzen sehen wollte.

 

Tipp: Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert ist in der Hamburger Edition (2017) erschienen. 656 Seiten, 42 Euro (Buch), 33,99 Euro (eBook).
 

Zitiervorschlag

Das preußische Dreiklassenwahlrecht: "Ein Hochverrat von oben" . In: Legal Tribune Online, 30.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35687/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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