Juristen und Sprache: Nie wurde so viel gekippt wie heute

von Martin Rath

01.11.2020

Im Schienen- und Straßenverkehr kippt immer weniger um, doch fallen Satzungen, Gesetze und völkerrechtliche Verträge juristischen Kippbewegungen zum Opfer – eine kleine Sprachkritik.

Wie wäre es in einer gut geerdeten Welt anders zu erwarten: Zunächst gab es einen juristischen Kampf gegen das Umkippen – und der stand im Dienst der Sicherheit des Verkehrs. Zu einem "Kippen" von Entscheidungen und Normen kam es erst sehr viel später.

Aber immer der Reihe nach.

Die erwartbare, also physisch-tatbestandliche Gefahr des Kippens taucht in der moderneren Rechtsprechungsgeschichte, soweit erkennbar, zum ersten Mal prominent am 23. Juni 1885 mit einer Entscheidung des Reichsgerichts zum Begriff der Eisenbahn auf.

Den berühmtesten Kettensatz des deutschen Rechts, seine grundlegende Definition der "Eisenbahn", hatte das Gericht schon sechs Jahre zuvor formuliert. Nun ging es noch darum, die weiteren Details der Eisenbahn-Gefährdungshaftung nach dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 zu prüfen.

Im "Kippen"-Urteil vom 23. Juni 1885 klärte das Reichsgericht auf, dass nicht nur das Wort "Eisenbahn", sondern auch die Worte "beim Betriebe" derselben nicht allzu eng verstanden werden sollten. Nachdem in diesem Fall der Kläger beim Betrieb einer "Lowry" – einer Lore zum Transport von Schüttgut – zu Schaden gekommen war, hatte die Vorinstanz die Haftung verneint: Der Unfall sei nicht "im Betriebe" der Eisenbahn geschehen, weil die Lore zum Stillstand gebracht worden und ihre Entleerung ohne die für den Bahnverkehr damals noch typische "besondere Hast und Eile" erfolgt sei.

Das Reichsgericht war anderer Auffassung: Wenn eine Kipplore, wie hier, an einer geneigten Bahnstrecke vollständig umfalle, statt nur ihre Kippfläche zu entleeren, hänge dies durchaus mit der ganzen in der "Einrichtung des Bahnbetriebes gebotenen Art und Weise der Ausladung zusammen" (Az. III 81/85).

Der Jurist erkennt die Gefahren, der Ingenieur aber trödelt – ungefähr 80 Jahre lang

Die Reichsgerichtsräte hatten die industrielle Revolution offenbar verstanden.

Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation war es dem Reichskammergericht über gut 300 Jahre zu arbeiten möglich gewesen, ohne dass Entscheidungen zu Rittern, die vom Pferd, oder zu Postkutschen, die von der Straße gekippt waren, jemals nachhaltigen Eindruck gemacht hätten.

Mit der wissenschaftlichen und technischen Revolution im Deutschland des 19. Jahrhunderts kamen nun aber viele Geräte in den Verkehr, deren Mangel an Fahrt- und Standsicherheit die Justiz beschäftigen sollte.

Das ist zwar einerseits eine fast schmerzhaft schlichte Feststellung, andererseits verwundert es dann aber doch, mit wie viel Umkippen die Anwälte und Richter in den ersten rund 80 Jahren nach der "Lowry"-Entscheidung von 1885 befasst waren – bis es endlich weniger wurde.

In den Entscheidungssammlungen finden sich natürlich weiterhin klassische Fälle, über die sich bereits germanische Kahnführer mit römischen Kaufleuten hätten streiten können, wäre zu Zeiten von Armin dem Cherusker schon eine ordentliche Rheinschifffahrtsgerichtsbarkeit etabliert gewesen – zum Beispiel, wenn im Urteil des Reichsgerichts vom 28. Oktober 1902 (Az. I 173/02) ein Fall betrachtet wird, in dem Schiff wegen schlecht gesicherten Frachtguts umkippte.

Doch die neuartige Glätte der Straßen- und Schienenwege sowie die Kraft der auf ihnen betriebenen Maschinen stellten Herausforderungen an die Stand- und Fahrtsicherheit, denen die Ingenieure allem Anschein nach nicht recht hinterherkamen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg machte die deutsche Automobil-Industrie ihren Neuanfang beispielsweise mit dem 1,5 l Borgward, einem durchaus schweren Kraftfahrzeug, das jedoch bei der Unfallbegegnung mit einem Mercedes 170 V Diesel nicht nur schleuderte, sondern gleich auch noch umkippte – so geschehen auf der Neuen Schlossstraße in Heidelberg am 22. Mai 1951 (Bundesgerichtshof, BGH, Urt. v. 26.10.1955, Az. VI ZR 67/54).

In Wuppertal veranlasste am 7. April 1953 eine augenscheinlich verwirrte Fußgängerin einen Pkw zu scharfer Bremsung – das Fahrzeug kippte bei weniger als 60 km/h, wann würde man das heute zu sehen bekommen, an der Bordsteinkante um und tötete die 70 Jahre alte Passantin (BGH Urt. 14.01.1954, Az. 3 StR 695/53).

Der sich durch die Instanzen ziehende Mangel an Stand- und Fahrtsicherheit blieb nicht auf den Individualverkehr beschränkt. Am 29. Januar 1951 kippte etwa auf der Löwentorbrücke zu Stuttgart der Triebwagen einer Straßenbahn samt erstem Anhänger um, wobei vier Todesopfer und 58 Verletzte zu beklagen waren – nach einem Bremsmanöver, bei dem ein Umkippen heute hoffentlich nicht mehr zu befürchten wäre (BGH, Urt. 29.05.1956, Az. VI ZR 222/55).

Eine rechtswissenschaftliche Doktorarbeit zum Einfluss des Schadensersatzrechts auf das Kippverhalten im deutschen Straßen- und Schienenraum ist wohl noch nicht geschrieben worden, doch lässt sich behaupten, dass es seit Mitte der 1960er Jahre statt gewöhnlicher Kraft- meist nur noch Spezialfahrzeuge sind, beispielsweise Kräne, deren Umkippen die Justiz beschäftigt. Im Übrigen hieß es: Blechschaden ja, Umkippen nein.

Soweit es um Kipp-Sachverhalte ging, fanden Anwälte ihr Auskommen nun unter anderem in Grabsteinen, deren Standsicherheit mit neuer Sorge betrachtet wurde (BGH, Urt. v. 27.06.1963, Az. III ZR 197/61). Und was der Ingenieur durch Standsicherheit im Fahrzeugbereich nun endlich an juristischen Fällen aus der Welt schaffte, schuf er neu durch die Entwicklung des Kippfensters – einer Erfindung, deren Verbreitung seit den 1960er Jahren eine ungeheure Zahl erst an Patent-, dann an Miet-, Emissions- und Rechts- wie Tatfragen auf dem Gebiet des Strafrechts nach sich zog.

Kippen normativer Maßstäbe kommt seit den 1980er Jahren auf

Die Entdeckung, dass nicht nur physische Gegenstände, sondern auch im weitesten Sinn normative Konzepte kippen könnten, fand spätestens mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Mai 1979 (Az. 4 C 23.76) Eingang in die Rechtsprechung. Noch distanziert in Anführungszeichen gesetzt bezeichnet das Kippen hier die Gefahr, dass ein Grundstück durch den Zubau einer Garage seinen definierten Charakter verändern könnte.

Als Metapher für einen Wandel fort vom bauplanungsrechtlich Gewünschten hat diese Sorte des "Kippens" seither eine gewisse Karriere erlebt – beispielsweise, wenn die Erweiterung eines Bordellbetriebs eine Straße zur "Roten Meile" zu machen droht (Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urt. v. 27.10.2009, Az. 5 K 782/09).

Seit den 2000er Jahren beginnt zudem eine Konjunktur des Kippens in der journalistischen Berichterstattung über Rechtsangelegenheiten. Eine sonst gerne Fraktur schreibende Tageszeitung aus Frankfurt am Main erklärte bereits im Jahr 2007 poppig: "EU-Gericht kippt VW-Gesetz".

Seither geht es in diesem Stil weiter: "Gericht kippt Post-Mindestlohn", "Gericht kippt Entlastung der Commerzbank", "EU-Gericht kippt Apples Steuernachzahlung", "Gericht kippt den Protest gegen den Mitgliedschaftszwang von Genossenschaften", "Gericht kippt Burkini-Verbot", "Gericht kippt Auflagen für Taubentöten durch Falkner" oder "Gericht kippt Netzgebühr-Befreiung".

Gar kein Halten mehr kennt das laufende Jahr 2020: "Gericht kippt Beherbergungsverbot", "Gericht kippt Demonstrationsverbot" oder "Gericht kippt Sperrstunde" und viele Regelungen mehr, die nicht länger aufgehoben oder für unwirksam erklärt werden – alles wird fröhlich gekippt.

Wie sehr sich dabei das "Kippen"-Gerede inzwischen vom physischen Vorgang entfremdet hat, verraten abgründige Aussagen wie: "Gericht kippt Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul", so die Frankfurter Allgemeine im Jahr 2013, oder die am 18. September 2002 von der Bild-Zeitung zu einem Stuttgarter Bauprojekt gestellte Frage: "Kippt jetzt der Trump Tower?" – für Ortsunkundige stellte sich ja jeweils die Frage, ob neben einem bloß als normatives Gedankenbild beschworenen auch echte Baukörper zum Einsturz gebracht wurden.

Aus der journalistischen Sprache schleicht sich die Rede vom "Kippen" über den Parteivortrag wieder ein in die Entscheidungen des Justizwesens, beispielsweise mit dem Vorbringen, das Bundessozialgericht habe bei der Berechnung der Sozialhilfe den "Aktualitätsgrundsatz 'gekippt'" (Landessozialgericht NRW, Beschl. v. 28.01.2011, Az. L 20 AY 85/10 B).

Bisher noch selten findet die Rede vom Kippen ganz eigenständigen Gebrauch in der Sprache der Richterschaft, wenn etwa das Amtsgericht Kempen dem BGH wacker attestierte, eine seiner Entscheidungen kippe "ins Unverständliche" (Beschl. v. 13.06.2012, Az. 104 C 84/12). In Anwaltsschriftsätzen, soweit von gerichtlichen Entscheidungen zitiert, lässt sich das "Kippen" hingegen öfter entdecken.

Wohin soll das ganze "Kippen"-Gerede noch führen?

In den Geisteswissenschaften – außerhalb der Juristerei – ist das Kippen schon als ein Vorgang entdeckt worden, der scharfsinniger Überlegungen wert ist. Der Philosoph Philipp Wüschner (1981–) will beispielsweise in den Texten seiner Berufsgenossen "Schreckmomente" entdeckt haben, die sich in "Kippfiguren" ausdrückten – an Stellen, an denen sich ein Perspektivwechsel noch nicht vollzogen, ein Widerspruch aber bereits gedanklich bearbeitet werde. Das mag, von gedanklicher Bearbeitungstiefe abgesehen, auch für vieles gelten, was heutzutage vom Gesetzgeber und von der Verwaltung an Kippgut erzeugt wird.

Es könnte einen Grund haben, warum kaum weniger körpersprachliche, formal aber mit mehr Gewicht ausgestattete Begriffe der Rechtssprache wie "Aufheben" oder "Verwerfen" gemieden werden – zumindest ließe sich die Beobachtung als Einladung ins verwunschene Land der Kinderfragen und der philosophischen Spekulation verstehen: Wohin fallen eigentlich die ganzen Regelungen, sobald ein Gericht sie kippt?

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Juristen und Sprache: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43267 (abgerufen am: 10.10.2024 )

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