Übersichten, Pläne, Aufzeichnungen: Kar­to­grafie des Rechts

von Martin Rath

03.12.2023

Die bekannten Stolpersteine, Stadtforschungsprojekte oder die neuen "Medieval Murder Maps": Recht und Unrecht füllen Karten. Letztere verraten eine ganze Menge über unsere Geschichte, sofern man sich die Zeit nimmt, sie zu studieren.

Karten erzählen einiges von Recht, Staat und Ordnung, wenn man sich die Mühe macht, einen Moment innezuhalten.

Eine kleine Metallplatte vor der Haustüre erinnert an eine junge Frau, später ermordet, die 1935, im Alter von 20 Jahren zwangssterilisiert wurde. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933 ermächtigte den Staat zum Eingriff. Weil das, mit Blick auf das Eugenikrecht in Skandinavien oder den USA, nicht als spezifisch nationalsozialistisch galt, blieben die Opfer dieser medizinisch-juristischen Routine meist ohne Entschädigung. Der sogenannte Stolperstein macht dies, wie anderenorts, nur dem bewusst, der innehält und sich überhaupt interessiert.

Während es noch kein allgemeiner pädagogischer Brauch ist, den vielerorts samt Geodaten erfassten kleinen Metallplatten mit dem Finger auf der elektronischen Landkarte zu folgen, sind die geographischen Strukturen von Sozial- und Staatsordnung ein fast selbstverständlicher Teil jeder höheren Bildung. Ob es der Blick auf die Karte der über 300 Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation ist oder der Vergleich zwischen den landwirtschaftlichen Grundstücken in Nord- und in Süddeutschland – auch wer nichts oder nichts mehr sonst darüber weiß, erkennt die Muster, die hier etwa vom Verfassungs- und Erbrecht in die Karten eingeschrieben wurden.

"Medieval Murder Maps": Freundlichere Erinnerungen an wenig rosige Zeiten

Aus dem Vereinigten Königreich, das – wie seine Kronjuwelen und deren Träger zeigen – einen durchaus humoristischen Zugriff auf die eigene Verfassungs- und sonstige Rechtsgeschichte kennt, liegt nun ein neues Projekt vor, um alte Fälle von Raub, Mord und Totschlag kartographisch sichtbar zu machten.  

Ein Team aus Historikern, Kriminologen, Soziologen und anderen interessierten Berufen erschließt mit den "Medieval Murder Maps" die amtlichen Aufzeichnungen zu Verbrechen beispielsweise im mittelalterlichen London – eine gefährliche Großstadt von 80.000 bis 100.000 Einwohnern.

Die aus dem 14. Jahrhundert überlieferten Akten erlauben es, die Straftaten und ihre Untersuchung durch die Obrigkeit geographisch einzuordnen – und das sogar noch unter dem Vorbehalt, dass in London der große Brand des Jahres 1666 vier Fünftel der mittelalterlichen Stadt zerstörte, denn auf Straßenzüge oder Kirchengrundstücke wird auch nach solchen Katastrophen oft wieder zurückgegriffen.  

Mit einem Klick in die elektronische Karte ist beispielsweise zu erfahren, dass am Montag vor dem Fest des Heiligen Laurentius, am 10. August 1339, der Coroner und die Sheriffs darüber unterrichtet wurden, dass in der Straße gegenüber der Kirche von St. Michael Cornhill ein Herr namens Richard of Bulkeley tot aufgefunden wurde.

Im Rahmen der üblichen Untersuchung wurden Geschworene hinzugezogen und ermittelt, dass Richard of Bulkeley am Sonntag bei einem Kampf mit einem William of Northampton verletzt worden sei. William suchte, von Richard verfolgt, sogleich Asyl in besagter Kirche, der Streit der beiden Herren nahm aber schon deshalb ein Ende, weil Richard of Bulkeley das Zeitliche segnete. Obzwar geständig, weigerte sich William of Northampton, sich der Gerichtsbarkeit auszuliefern. Den Sheriffs, die angewiesen waren, ihn zu inhaftieren, sobald er das Gebäude der Kirche verlassen würde, entkam William in der Nacht, im Schutze der Dunkelheit.

Deodand: Gegenstände, die zum Tod führen, haben ihren Preis

Ergänzt werden solche kleinen Erzählungen aus der mittelalterlichen Justizpraxis Englands, die bereits etwas über solche archaischen Rechtsinstitute wie das Asyl auf geweihtem Boden vermitteln, durch explizite rechtshistorische Erklärungen.

Beispielsweise erklärt das "Murder Maps Team", was es mit seltsamen Preisangaben in den alten Urkunden auf sich hatte: War ein Mensch von der Leiter gefallen, von einem Fuhrwerk totgefahren, ein Kind vom Schwein gefressen worden, vermerkten die mittelalterlichen Schreiber den Wert der Leiter, des Fuhrwerks oder des Schweins. Urkunden aus Oxford oder York dokumentierten den Preis des Tötungswerkzeugs, der Armbrust oder des Messers, mit dem ein Geschädigter ums Leben gebracht worden war.

Grund für diese Praxis gab das Rechtsinstitut des Deodand, das – so die Darstellung von "Murder Maps" – möglicherweise auf einer magischen Idee beruhte, der jeweilige Gegenstand trage Mitschuld an der Rechtsgutverletzung durch Unfall oder Totschlag. Zudem diente die Bewertung der todbringenden Sache, eine Geldbuße zu taxieren, die von ihrem Eigentümer zu entrichten war. – Heute neigt man dazu, nur diese rationale Seite eines solchen Rechtsinstituts zu sehen. Das Kartenprojekt aus dem Vereinigten Königreich erinnert hier daran, dass der utilitaristischen Vernunft magisch-animistisches Denken vorausging.

Sechs Pence kosteten, nach amtlicher Bewertung, beispielsweise die morschen Bretter einer Latrine, die im August 1325 unter dem Straßenreiniger Richard Rankier zusammenbrachen, sodass er in der Senkgrube ertrank. Derlei zu taxieren, muss man wohl als eine Wurzel des Steuer- und Gerichtskostenrechts würdigen.

Kartographie als Instrument des Sozialstaats

Dient diese moderne Verknüpfung der mittelalterlichen Verbrechensgeschichte mit der digitalen Landkarte der Bildung und unserem Vergnügen, ist die kartographische Erfassung von Devianz – sozial unerwünschtem Verhalten – oft weit weniger unschuldig.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert erfasste etwa der englische Philanthrop Charles Booth (1840–1916) in einer nachgerade manisch wirkenden Fleißarbeit sozial relevante Daten der Menschen in London, publiziert unter dem Titel "Life and Labour of the People in London" (1902). Wer ein Gefühl für das Zeitalter des Positivismus gewinnen möchte, das nicht nur Fantasien wie Arthur Conan Doyles "Sherlock Holmes"-Geschichten (1887–1917/27) hervorbrachte, sondern auch Kartographien der sozialen Ordnung, wird bei Booth fündig – ein etwas paranoid-detaillierter Blick auf die Welt ist ihnen dabei gemeinsam.

Booth klassifizierte und kartographierte die Armut in London, wobei er noch innerhalb von Straßenzügen differenzierte. In einer Straße von Battersea sind beispielsweise einige Häuser schwarz markiert. Wer heute dort lebt, war, wie moderne Maklerkarten zeigen, im Jahr 2003 fähig und bereit, rund 100.000 britische Pfund für eine kleine Apartment-Wohnung zu bezahlen, heute circa 300.000 Pfund. Booth indes fand in der gleichen Straße noch Menschen vor, die er als "Niedrigste Klasse, bösartig, halbkriminell" qualifizierte. In der Nachbarschaft lebten immerhin "sehr arme" und "chronisch bedürftige" Leute, ein paar Häuser weiter schon etwas aussichtsreichere Kandidaten.

In der Geschichte des britischen Wohlfahrtsstaats genießt Booth einiges Ansehen, weil seine statistisch-kartographische Arbeit dazu beitrug, soziale Transferleistungen politisch zu begründen. Das Lob ist jedoch nicht einhellig, denn als taugliche Kandidaten für Maßnahmen der öffentlichen Hand, durch Arbeit, Bildung oder Sozialarbeit der Armut zu entgehen, sah Booth die Bewohner der schwarz kartographieren Gebiete – "Lowest Class. Vicious, semi-criminal" wohl nicht.

Virulenz der Kartenmacherei

Kritische Kriminologen und kritische Geographen sehen daher in der Kartenmacherei, wie sie in der positivistischen Wissenschafts-, Rechts- und Verwaltungskultur des 19. Jahrhunderts aufkam, auch einen Beginn einer üblen, übergriffigen, mitunter staatsterroristischen Ordnung der sozialen Verhältnisse.

Der in Frankfurt am Main lehrende Geograph Bernd Belina (1972–) soll hier exemplarisch als ein beredter Gegner einer staatlichen Praxis angeführt werden, die das kriminalstatistische Zeichnen von Karten mit einer sozialwissenschaftlich belastbaren Diagnose verwechselt – und beispielsweise polizeiliches Eingreifen aus der Definition von "Brennpunkten" ableitet.

Dieser Denkungsart wirft Belina vor, geographische Raumausschnitte unter unzulässiger Abstraktion von der deutlich breiter ausgefächerten sozialen Praxis der Menschen, die dort leben oder sich aufhalten, als Gefahrenorte zu verstehen. Abweichendes werde als räumliches Phänomen verstanden, die Raumausschnitte würden kriminalisiert: Auf diesem Weg konstruierte "kriminelle Räume" erlaubten etwa polizeiliche "(Kontroll-)Praxen, die von den kriminalisierten Raumausschnitten ausgehend notwendig wieder Personen in den Blick nehmen, deren Motive, Praxen und 'tatsächliche Gefährlichkeit' dann gleichgültig" seien.

Statt sozialpolitisch dicke Bretter zu bohren, steht am Ende wieder einmal ein neuer Container für Polizeibeamte vor dem Hauptbahnhof – mit einem ganzen Rattenschwanz von menschlichen Interessen, samt juristischem Überbau und sozialwissenschaftlicher Analyse. Abzuwägen sind dann meist das "subjektive Sicherheitsgefühl" der zahlenden Fahrgäste einerseits, andererseits das, was Menschen in ihrer Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen einander, wenn auch unter freiem Himmel, an familialer Solidarität leisten.

Sicher ist hier nur, dass Presse, Politik und Polizei jedes Mal in Aufruhr geraten, wenn jemand von der Presse, aus der Politik oder von der Polizei damit beginnt, die Verhältnisse vor Ort kartographisch zu fixieren.

Geographische Orte durch die Brille des Verbrechers und des Polizisten studieren

Für Menschen, die keinen besseren Aufenthaltsort kennen oder suchen, dürfte die Frage, ob die Sitzgelegenheit in einer Fußgängerzone geeignet ist, auch ein wenig zu schlafen, ohne Weiteres grundrechtsrelevant sein. Die politischen und damit letztlich auch juristischen Kontroversen neigen deshalb dazu, entweder bis zur Gestaltung von Sitzflächen die "bedrohten, wehrhaft zu machenden öffentlichen Räume" zu sehen, oder das "Narrativ der feindseligen, von defensiver Architektur geprägten öffentlichen Räume" zu pflegen.

Einen entspannten Ausweg aus dieser Kontroverse, wenn auch nicht aus ihren Gegensätzen, bietet der "Burglar’s Guide to the City" von Geoff Manaugh (New York, 2016). Manaugh erzählt nicht nur, wie Polizisten die geographischen Räume und ihre Kartographien "lesen" – warum sich etwa die Geographie von Autobahnauffahrten, die Kosten für Sicherheitspersonal von Bankfilialen und die Verfügbarkeit von Polizeihubschraubern auf die Zahl der Banküberfälle im Los Angeles der 1990er Jahre auswirkte –, sondern man erfährt auch, wie der Architekt George Leonidas Leslie (1842–1878) ein besonders fachmännischer, weil räumlich denkender Krimineller wurde.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Übersichten, Pläne, Aufzeichnungen: . In: Legal Tribune Online, 03.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53313 (abgerufen am: 13.11.2024 )

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