Ist der Karpfen nur zu Weihnachten von Interesse oder generell ein Anliegen der "Volksernährung"? – 1953 erlaubte der BGH keinen Unfug mit einem bedrohten Karpfenteich, der Jahrzehnte zuvor staatlich subventioniert angelegt worden war.
Dass der Karpfen in Deutschland ein besonders beliebter Speisefisch ist, lässt sich nicht mit gutem Gewissen behaupten. Pro Kopf und Jahr werden ohnehin nur rund 14 Kilogramm Fisch konsumiert, im europäischen Durchschnitt sind es 25 Kilogramm Fanggewicht. Und dann isst man lieber Lachs.
Obwohl die Zucht von Karpfen seit über 1.200 Jahren gepflegt wird, sich der Freistaat Bayern sogar rühmt, dass dort die meisten Teiche über 400 Jahre alt seien, und die Tiere keine Fütterung durch Fischmehl benötigen, dessen Produktion die maritimen Ökosysteme schwer belastet, entfällt derzeit weniger als ein Prozent des Fischverzehrs in Deutschland auf den Cyprinus carpio.
Als Fastenspeise, daher der Verzehr am 24. Dezember, hat er zwar in katholischen Regionen Tradition. Doch der Begleitfisch eines bis zur Dampfmaschine von Wind und Wasser angetriebenen vorindustriellen Zeitalters ist längst in die Defensive geraten. Wo inzwischen oft Wohnhäuser stehen, waren bis vor 100 bis 150 Jahren noch zum Betrieb von Sägewerken oder Schleifereien mit den Fischen besetzte Mühlenteiche angelegt – die sich jüngst nicht selten durch die Starkregenereignisse des Jahres 2021 in Erinnerung brachten.
In einer Sache, über die der Bundesgerichtshof (BGH) im Jahr 1953 zu entscheiden hatte, trafen ältere Vorstellungen von einer nachhaltigen Aquakultur und der modernen Landwirtschaft, zudem weithin unbekannte Schichten der deutschen Gesetzgebungsgeschichte im Zeichen des Karpfens zusammen.
Sollen die Leute statt Karpfen doch billigen Meeresfisch essen
Gegenstand des Streits war eine rund 100 Hektar große Teichfläche, die im Zusammenhang mit einer der wichtigsten Wasserstraßen Deutschlands, dem 1899 nach sieben Jahren Bauzeit fertiggestellten Dortmund-Ems-Kanal, auf dem Gebiet der alten Marktgemeinde Geeste im Emsland angelegt worden war.
Für die Anlage der Teiche mit einer ursprünglichen Fläche von rund 375 Hektar waren zu Kaiser Wilhelms Zeiten an die Grundeigentümerin, eine zur Erschließung – zur "Melioration" – der "Ödländereien" gegründete Gesellschaft, staatliche Zuschüsse von rund 43.000 Mark und öffentliche Darlehen von rund 34.000 Mark geleistet worden. Zuzüglich privater Darlehen kamen für dieses künstliche Gewässer rund 150.000 Mark zusammen, was ungefähr dem 150-fachen des Jahresgehalts eines guten Facharbeiters entsprach.
Nachdem die Teichgrundstücke zwischen 1912 und 1933 an die Harpener Bergbau AG zur Fischzucht verpachtet gewesen waren, hielt für den Zeitraum vom 1. April 1933 bis zum 31. April 1945 der Antragsteller des späteren Verfahrens einen Pachtvertrag, der durch Beschluss des "Pachtamts in Meppen" im Jahr 1944 bis zum 31. März 1950 verlängert wurde – auf diese vielleicht befremdlich wirkende Instanz wird gleich zurückzukommen sein.
Weil der Pächter eine eigene Fischzucht auf dem Gebiet der Sowjetisch Besetzten Zone verloren hatte, betrieb er seit dem Dezember 1948 vor dem Amtsgericht (Landwirtschaftsgericht) ein Verfahren zur weiteren Verlängerung der Pacht um sechs Jahre: Er sei wegen des Verlusts seiner ostzonalen Geschäfte auf die Teiche in Geeste angewiesen und habe hier einen für die deutsche Fischwirtschaft besonders wertvollen Stamm von Karpfen gezüchtet – es sei zudem volkswirtschaftlich unvertretbar, die 50 Jahre zuvor mit erheblichem Kapitaleinsatz angelegten Teiche trockenzulegen und in Ackerflächen umzuwandeln, wie es der Grundeigentümer vorhatte.
Der Verpächter wandte gegen eine von Staats wegen betriebene Verlängerung des privaten Pachtvertrags unter anderem ein, dass ein Weiterbetrieb der Teiche für die Volksernährung nicht erforderlich sei. Karpfen sei ein Luxusartikel, wer Fisch essen wolle, könne auf die billigeren Produkte der Hochseefischerei zurückgreifen. Es sei auch ungünstig, den Boden nicht unter den Pflug zu nehmen, gingen beim Import von Ackerprodukten doch wertvolle Devisen verloren.
Der BGH erweist sich als Schutzherr des emsländischen Zuchtkarpfens
In seinem Beschluss vom 27. Januar 1953, gestützt namentlich auf die Reichspachtschutzverordnung (RPO) von 1940, setzte der BGH dem Verpächter ausführlich auseinander, welchen Wert die Karpfenerzeugung für die Volksernährung habe: Eine bedarfsdeckende Versorgung mit diesem Fisch sei ohne Importe und entsprechende Verluste an ausländischer Valuta nicht möglich, zudem bedeute – wie die ältere juristische Kommentarliteratur erkannt habe – die Leistung der im Vergleich zu den zahllosen landwirtschaftlichen Pächtern seltenen Fischzüchter "für die Ernährung des Volkes 'unendlich viel'".
Zu der vom Gesetz geforderten "gesunden Verteilung der Bodennutzung" trage der emsländische Karpfenzuchtbetrieb außerdem in besonders wertvoller Weise bei, "nachdem die süddeutschen Fischereizuchtbetriebe infolge der seit mehreren Jahren verbreiteten Bauchhöhlenwassersucht für die Lieferung von Karpfenbesatzfischen weitgehend ausgefallen seien".
Nach sehr ausführlichen Erwägungen zur Nachhaltigkeit der vom Verpächter beabsichtigten bäuerlichen Nutzung des Teichgrunds, die nach Auffassung von Gutachtern und Gerichten schon wegen der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse im Umfeld des Dortmund-Ems-Kanals schwierig sein würde, konnte der BGH an seiner Pflicht zur angemessenen Verlängerung des Pachtvertrags zunächst bis 1956 nichts aussetzen (BGH, Beschl. v. 27.01.1953, Az. V BLw 59/52).
Wie kamen die Gerichte überhaupt dazu, Karpfen gegen Ackerfrüchte abzuwägen?
Dass die Gerichte dem Verpächter nicht nur aufbürden konnten, den Pachtvertrag über die Teichflächen zu verlängern, sondern noch dazu detaillierte betriebs- und sogar volkswirtschaftliche Argumente berücksichtigten, mag ein wenig verwundern.
Als Beginn der staatlichen Intervention in Pachtverträge zunächst im Bereich der engeren Landwirtschaft lassen sich das Gesetz über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft vom 17. April 1919 – ein Ermächtigungsgesetz zu einer heute kurios revolutionär anmutenden originären Regierungs- und Ausschussgesetzgebung – und die daraus resultierende Pachtschutzordnung vom 9. Juni 1920 ausmachen.
Nach dieser Pachtschutzordnung konnten sogenannte Einigungsämter anordnen, dass Pachtverträge über landwirtschaftlich oder gewerbsmäßig gärtnerisch bewirtschaftete Grundstücke unter 2,5 Hektar um bis zu zwei Jahre zu verlängern waren. Für Grundstücke jeglicher Größe konnten die Ämter die wechselseitigen Leistungen entsprechend den "veränderten wirtschaftlichen Bedingungen" neu festsetzen.
Motiviert war diese Regelung augenscheinlich durch sozialpolitische Erwägungen: Es sollten kleine Pächter vor Ausbeutung, aber auch Verpächter vor übermäßig schlecht wirtschaftenden Kontrahenten geschützt werden.
Während die Pachtschutzordnung vom 23. Juli 1925 nur einige weitere Regelungen zu den Größenklassen der landwirtschaftlichen Betriebe und zu etwaigen Zweifelsfragen traf – etwa zum Umgang mit Wohngebäuden auf dem gepachteten Land – erweiterte der NS-Gesetzgeber den sachlichen Anwendungsbereich 1933 auf Fischereibetriebe und ermächtigte die Ämter seit 1937, ohne Rücksicht auf die bisherigen Fristen eine "angemessene" Verlängerung von Pachtverträgen anzuordnen sowie Bestimmungen in bestehenden Pachtverträgen aufzuheben bzw. zu ändern, "wenn dies zur Sicherung der Volksernährung erforderlich ist".
Durch die Reichspachtschutzverordnung (RPO) vom 30. Juli 1940, die – besatzungs- und bundesrechtlich modifiziert – im Jahr 1953 anzuwenden war, wurde das staatliche Eingreifen in Pachtverträge aus volkswirtschaftlichen Erwägungen systematisiert. Auch sollte Pächtern nach § 3 Abs. 2 Nr. 4 dann der Vertrag nicht verlängert werden, wenn dies "einer gesunden Verteilung der Bodennutzung zuwiderläuft".
Dialektische Wehmut beim Blick auf die Landkarte: Kernenergie oder Karpfen?
Es blieben, von der britischen Besatzungsmacht ein wenig entnazifiziert, etliche landwirtschaftliche Regelungen des NS-Staats vor allem für Nordwestdeutschland noch lange in Kraft.
Inzwischen werden volkswirtschaftliche und ernährungspolitische Zielsetzungen zwar weniger durch staatliche Regulierung landwirtschaftlicher Pachtverträge umzusetzen versucht, doch räumte das Landpachtverkehrsgesetz (LPachtVG) vom 8. November 1985 der zuständigen Behörde nach wie vor Eingriffsrechte gegen "eine ungesunde Verteilung der Bodennutzung" oder für den Fall ein, dass der "Pachtzins nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem Ertrag steht, der bei ordnungsgemäßer Bewirtschaftung zu erzielen ist" (§ 4 LPachtVG a.F.).
Wenngleich man die Dokumentation sozialer Realität durch juristische Datenbanken nach dem Hamann'schen Erfahrungssatz nicht überschätzen darf: Unter der Geltung des LPachtVG hat sich der BGH mit der volkswirtschaftlichen Würdigung des Werts von Ackererzeugnissen oder mit der Nachhaltigkeit von Karpfenteich-Subventionen aus der Zeit des Kaiserreichs augenscheinlich nicht mehr befasst.
So wenig man jeglicher Indienstnahme des Privatrechts durch den NS- und auch den SED-Staat nachtrauert, ein Blick auf die Landkarte löst doch ein wenig dialektische Wehmut aus: Unweit des 1953 umkämpften Karpfenteichs wurde Ende der 1980er Jahre das über 200 Hektar große Speicherbecken Geeste errichtet, ein künstlicher See, der über den Dortmund-Ems-Kanal zur Kühlwasserversorgung des Kernkraftwerks Emsland dient und der ab dem Jahr 2023 zum Freizeitbiotop herabgewirtschaftet wird.
Was immer man von Kernenergie oder Karpfen hält: Schade ist es doch, dass die Richterschaft, von Parlamentariern ganz abgesehen, heute kein so hartes Training zur Nachhaltigkeit von Entscheidungen über die Infrastruktur durchläuft, wie es der Rechtstreit zwischen Fischerei- und Landwirten im Emsland vor knapp 70 Jahren noch bot.
Was der BGH 1953 zu nachhaltiger Aquakultur zu sagen hatte: . In: Legal Tribune Online, 26.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47036 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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