Die ostwestfälische Ortschaft Bielefeld ist seit 20 Jahren Gegenstand einer Verschwörungstheorie. Behauptet wird, "Bielefeld" existiere nicht. Zum 800-jährigen Stadtjubiliäum stand Karl-Heinz von Halle, Verfasser einer partiell parodistischen Exzellenzcluster-Dokumentation zur Frage "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?" Martin Rath Frage und Antwort.
LTO: Herr von Halle, freundlich, dass Sie der LTO ein Interview geben. Trotzdem muss ich eine vermutlich unfreundliche Frage stellen: Ihr Verlag behauptet einerseits, dass Sie ein Professor für Soziologie seien.
Andererseits konnten wir in mühevoller nächtlicher Kleinarbeit mittels forensisch-linguistischer Analysen herausfinden, dass Ihr "Bielefeld"-Buch sprachliche Verwandtschaft zu zwei juristischen Titeln zeigt: "Agrarrecht und Strafrecht – Markteinführung neuer Brassicaceae aus strafrechtlicher Sicht" und "Die Vermarktung des Kohlkopfs – rechtliche Risiken der Verbraucherschutzpublizistik". Soziologische Arbeiten konnten wir nicht finden. Sehen Sie sich also mehr als Soziologe oder mehr als Jurist?
von Halle: Soziologen sind im Vergleich mit Juristen die besseren Beobachter und Chronisten gesellschaftlicher Entwicklungen. In gewisser Weise sind sie auch freier und in ihrem Forschungsansatz interdisziplinär, weshalb ich es mir als Jurist erlaubt habe, in diesem Buch die Rolle des Soziologen zu bemühen, da es um ein fachübergreifendes Exzellenzcluster zur Erforschung des Phänomens Bielefeld ging.
Borderline-Bielefelder und ihr Selbstverständnis
LTO: Wenn ich Ihr Buch richtig verstanden haben sollte, konnte durch exzellente wissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren ermittelt werden, dass man sich die Existenz der Stadt Bielefeld analog zu einem berühmten naturwissenschaftlichen Stubentiger vorstellen muss: Schrödingers Katze, die je nach Beobachterstandpunkt tot ist oder lebt. Um qualitätsjournalistisch zu fragen: Wie haben Sie sich gefühlt – bei dieser Forschung zur Existenz Tausender Bielefelder?
von Halle: In der Tat erinnert das Buch an Schrödingers Experiment, das mit der Ungewissheit spielt, ob die Katze in dieser Kiste noch lebt oder nicht. An einer Stelle weicht der Versuchsaufbau aber ab. Das Buch nimmt zu der Frage, ob es Bielefelder gibt, eindeutig Stellung. Es gibt sie, denn 325.000 Menschen sind der Auffassung, in Bielefeld zu leben. Sie erleben Bielefeld als Teil ihres Daseins.
Hinzu kommen 52.000 Pendler, also Menschen, die von sich meinen, Bielefeld täglich aufzusuchen, um dort zu arbeiten oder zu studieren. Diese Menschen tanzen auf der Grenze zum Bielefelder, weshalb sie in dem Buch als Borderline-Bielefelder bezeichnet werden. Entscheidend ist also das, was man grob als Selbstverständnis oder Selbstzuweisung bezeichnen kann.
Was ich damit meine, ist nicht ganz einfach zu verstehen, aber es gibt auch Westernstädte, in denen Menschen eine von ihnen selbst definierte Rolle ausfüllen. Dort spielt der Angestellte eines Discounters an den Wochenenden nicht nur den Sheriff, sondern in diesem sozialen Umfeld ist er es sogar. Alle akzeptieren ihn in dieser Rolle, auch der Vorsitzende Richter am Landgericht, der in einer Westernstadt einen Saloon betreibt und endlich einmal die harten Sachen ausschenken darf.
Wer sich im Internet eine zweite Existenz gibt, verfährt ähnlich. Neu ist das nicht, denn es gibt Menschen, die gehen nicht ins Internet, sondern seit Jahrzehnten in den Keller. Dort fahren sie als Lokomotivführer oder Schaffner durch eine selbstgeschaffene Landschaft. Solche Definitionen des eigenen Seins finde ich sehr spannend, sie faszinieren mich.
"Google hätte die Bielefeldverschwörung vorher googeln sollen"
LTO: Was ist nach Ihrer Beobachtung das schlagendste Argument für die Nicht-Existenz Bielefelds?
von Halle: Bei dieser Frage kann ich mich nicht entscheiden, denn ich halte zwei Forschungsbeiträge für schlagend. Zum einen die von den Wirtschaftswissenschaftlern entwickelte Theorie, nach der die Finanzkrise in Deutschland darauf zurückgeht, dass Hypotheken auf nicht existierende Grundstücke in Bielefeld verbrieft und als Wertpapier verkauft wurden. Das erklärt, warum die IKB und die Sachsen-LB bereits 2007 kollabierten, obwohl die Finanzkrise in den USA erst mit der Pleite Lehmans im Jahr 2008 ausbrach.
Zum anderen die investigative Forschung der Kommunikationswissenschaftler, die sehr genau beschreiben, wie Google mit seinem Projekt Google Street View in Bielefeld beinah scheiterte. Die Leute Googles hatten jeden Straßenzug akribisch gefilmt, bei Abruf der Daten in den USA war aber nichts zu sehen. Jedes Gebäude war verpixelt, alle Straßenzüge waren wie verhängt, als hätten Christo und Jeanne-Claude ihr größtes Projekt in Bielefeld realisiert.
Die Bielefelder hatten also die Macht über Googles Daten erlangt. Das tat mir für Google zwar etwas leid, aber Google hätte eben vorher googlen sollen, denn dann wären ihnen die näheren Zusammenhänge der Bielefeldverschwörung bekannt gewesen.
LTO: Sie führen daneben auch das geografische Paradox an: Die Lage Bielefelds in einer Region namens "Ostwestfalen" sei ebenso unmöglich wie es eine Ortschaft in einer fiktiven Region "Westostfalen" sein müsste, weil sich Ost und West schon in der Bezeichnung aufhöben. Übertragen auf einen juristischen Kontext: Wollen Sie weltweit verbreitete juristische Paradoxa, z.B. die nützliche "logische Sekunde", auch unmöglich machen?
von Halle: Das ist eine interessante Idee, die man zum Gegenstand eines gesonderten Forschungsprojekts machen könnte. Eine Sekunde ist natürlich nie logisch, sondern eine Zeiteinheit. Juristen benötigen die logische Sekunde aber mitunter. Es handelt sich also in der Tat um eine nützliche, aber eben nur der Außenwelt argumentativ hinzugedachte Sekunde, der wir einen bestimmten Inhalt zuweisen, um zu einem gewünschten Ergebnis zu kommen. Eine gedachte Zeit, um etwas zu erreichen.
"Fiktionen arbeitet die deutsche Justiz geduldig ab"
LTO: Man sollte annehmen, dass Menschen ungern mit der Unverbindlichkeit leben, derzufolge eine ganze Stadt entweder existiert oder nicht existiert – je nachdem, wie man hinschaut. Es gilt ja schon als ein bisschen verschroben, wenn z.B. verwitwete Menschen noch mit ihren verblichenen Liebsten sprechen. Mit Fiktionen, Paralleluniversen, dem magischen Nachleben von Gustaf Gründgens z.B. hat die deutsche Justiz aber allgemein kaum Probleme?
von Halle: Nein, denn es gibt sogar gesetzlich vorgesehene Fiktionen, die danach verlangen, Dinge als gegeben anzusehen, obwohl sie nicht vorliegen. Die deutsche Justiz arbeitet das alles geduldig ab. Im Zivilprozess ist es sogar so, dass der Richter grundsätzlich von dem Sachverhalt ausgeht, den beide Parteien übereinstimmend vortragen. Das gilt dann als unstreitiger Sachverhalt. Ob alles wirklich so war, spielt keine Rolle.
Auch der Strafprozess kennt im Beweisantragsrecht die Wahrunterstellung. Sogar am Ende einer umfassenden Beweisaufnahme muss der vom Gericht festgestellte Sachverhalt keineswegs dem wahren Sachverhalt entsprechen. Das alles gilt auch für Prozesse vor dem Landgericht Bielefeld, wenn wir einmal als wahr unterstellen, dass es dieses Gericht überhaupt gibt.
LTO: Ich wollte noch darauf hinaus, dass Juristinnen und Juristen, namentlich in den deutschen Staatsanwaltschaften, besonders verschroben sein könnten. Sabine Rückert, die BILD/ZEIT-Journalistin, will vor Jahren herausgefunden haben, dass auf jedes statistisch und prozessual erfasste Tötungsdelikt ein Opfer von Kapitalverbrechen komme, das ohne staatsanwaltliche Aufmerksamkeit ins Grab geschafft wird. Die Hälfte aller – untechnisch gesprochen – Mordopfer in Deutschland existiert damit so wenig oder so gut wie Bielefeld?
von Halle: Vieles existiert so wenig oder so gut wie Bielefeld. Es kommt darauf an, was wir unter dem Begriff Existenz verstehen. Mal existiert etwas, dann aber auch nicht. Anhand Ihrer Frage lässt sich das erläutern. Eigentlich existieren gar keine Mordopfer, was aber nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Das klingt nun widersprüchlich, aber das bekannte Mordopfer, in dessen Fall ermittelt wird, existiert eben nicht mehr, denn es ist tot. Das nicht bekannte Mordopfer ist auch tot. Mordopfer existieren also nicht. Der Begriff Existenz meint hier das Mordopfer als Verfahrensgegenstand. Man kann den Begriff Existenz eben unterschiedlich belegen. Mal ist etwas da, dann ist es weg.
"Bielefelder Urkunden? Da könnte ja jeder seine Existenz bescheinigen"
LTO: Eine Frage zum Schluss, die eine – vielleicht – beruhigendere Antwort erlaubt: Akademische Abschlüsse der Bielefelder Hochschulen, Eheschließungen vor dem Standesamt zu Bielefeld und dergleichen – muss man sich um Dokumente, Urkunden, Titel Bielefelder Provenienz von Rechts wegen Sorgen machen?
von Halle: Nun, wir konnten uns bei unseren Forschungen natürlich nicht irritieren lassen, wenn uns eine Person ihre Geburtsurkunde zeigte und unter Berufung darauf behauptete, Bielefelder zu sein. Denn diese Urkunden wurden ja gerade in Bielefeld ausgestellt. Selbst ausgestellte Belege eines vermeintlichen Gebildes, um dessen Existenz es geht, können aber schwerlich als Beweis der Existenz dieses Gebildes anerkannt werden. Sonst könnte ja jeder seine Existenz bescheinigen.
Allerdings muss sich niemand Sorgen machen, alle Bielefelder Urkunden gelten als in Ordnung und werden anerkannt. Die großartige Erkenntnis unserer Forschung besteht gerade darin, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Wir bitten in unseren Westernstädten schließlich auch niemanden, seinen Cowboyhut abzusetzen.
LTO: Herr Professor von Halle, Schriftsteller und Wissenschaftler sind oft mit solider Eitelkeit ausgestattet. Wie kommt es, dass Sie sich grundsätzlich nicht nur vor den Lesern Ihres Werkes "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?" völlig verborgen halten, sondern auch Ihr Verlag angibt, dass Sie verschollen seien?
von Halle: Das Pseudonym habe ich gewählt, um ein Missverständnis zu vermeiden. Mir geht es nicht um eine Kritik anderer Wissenschaften oder darum, mich über Teilnehmer der Exzellenzinitiative lustig zu machen. Vor deren Forschung habe ich Respekt und kann ihr Schaffen auch gar nicht beurteilen. Genau dieser Eindruck könnte aber entstehen, wenn ich unter meinem Klarnamen und damit in meiner Rolle als Wissenschaftler auftreten würde.
Was ich mir mit diesem Buch allerdings erlaube und satirisch zuspitze, dass ist eine Kritik an einer überhobenen, sich selbst lobenden Sprache, wenn immer wieder von Exzellenz, Leuchttürmen und Eliten die Rede ist. Um es klar zu sagen: Nicht nur ich, sondern viele Wissenschaftler mögen diese aufgeblasene Sprache nicht, zumal wirklich große Forscher so etwas von sich nie behauptet haben.
Der Verlag teilt dem Leser in einem Nachwort mit, Karl-Heinz von Halle sei nicht mehr zu erreichen, weil er dem Vernehmen nach einen Ruf an die Universität Bielefeld erhalten habe. Man wird sehen, was daraus wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die Kontaktaufnahme doch noch gelingt und Karl-Heinz von Halle in einem weiteren Buch aus seinem Leben in Bielefeld und an der Universität berichtet.
LTO: Wir danken Ihnen für das Gespräch. Darf man schließen mit: "Seh’n wir uns nicht in dieser Welt, dann seh’n wir uns in Bielefeld"?
von Halle: Gern, man trifft sich. Ich bin gedanklich sehr oft dort.
Das Interview führte Martin Rath.
Eine Rezension:"Karl-Heinz von Halle: "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?, Eichborn im Lübbe-Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-8479-0546-2, 9,99 Euro, eBook 8,49 Euro
Martin Rath, Interview mit Buchautor Karl-Heinz von Halle: "Bielefelder Geburtsurkunden? Beweisen gar nichts" . In: Legal Tribune Online, 09.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10931/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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