Justus Möser aus Osnabrück: Ein Jurist, der den Anwalt und den Narren spielte

von Martin Rath

13.12.2020

Ein konservativer, aber kreativer Denker, der den Harlekin verteidigte und die Ritterschaft beriet – vor 300 Jahren wurde Justus Möser geboren. Wie fern oder nah uns seine Zeit ist, zeigen vielleicht kleine Dinge am besten.

Bei seiner Vereidigung im Jahr 1789 hatte George Washington (1732–1799), der erste Präsident der USA, wohl nur noch einen einzigen echten Zahn im Mund – seine zahnmedizinische Versorgung machte ihm viel Kummer, die Nahrungsaufnahme bereitete ihm vermutlich durchgängig Schmerzen.  

Kein Wunder, dass der amerikanische Historiker Robert Darnton (1939–) in seiner anregenden kleinen Schrift "George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?" (1997) auf die Frage, was ihn bewegen könnte, eine Zeitmaschine zur Reise ins 18. Jahrhundert zu besteigen, nur zwei Wünsche äußerte: Zahngesundheit und "oberhalb des Bauernstandes" zu leben – denn das war Voraussetzung für ein gewisses Maß an persönlicher und intellektueller Freiheit.

Auf interessante Weise nutzen konnte diese Freiheit der Anwalt und Gelehrte Justus Möser, der am 14. Dezember 1720 in Osnabrück zur Welt kam: Sein Großvater war Hauptpastor an der St. Marienkirche in Hamburg gewesen, der Vater als Jurist in die höchste Position aufgestiegen, die ihm als Protestanten im – noch – katholisch regierten Hochstift Osnabrück zugänglich war. Die Mutter stammte aus den besten bürgerlichen Kreisen der Stadt. Justus Möser studierte in Göttingen, an der erst 1737 eröffneten, vergleichsweise modernen Universität. 

Ein Juristenleben deutlich "oberhalb des Bauernstandes".

Osnabrück – ein verfassungsrechtlicher Sonderfall

Beim Hochstift Osnabrück handelte es sich um ein verfassungsrechtlich eigenartiges Gebilde. Zu den älteren Rechten zählte es, dass der Fürst um das Einverständnis des städtischen Bürgertums und der Angehörigen des Ritterstandes werben musste – vor allem dann, wenn er sie mit Steuern belasten wollte.

So verhielt es sich zwar in vielen Teilen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, wenngleich die größeren Fürsten viel Geschick und Gewalt aufwendeten, um derartige ständische Mitspracherechte zu überwinden. Zu den Besonderheiten des Hochstifts Osnabrück gehörte jedoch, dass die Landesherrschaft abwechseln sollte: Auf die Herrschaft des katholischen Bischofs, gewählt vom Domkapitel zu Osnabrück, sollte jene des lutherischen Bischofs folgen, der aus dem Haus des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg zu bestimmen war und dessen Nachfolge wieder von einem katholischen Bischof angetreten werden würde.

Diese ungewöhnliche Regelung war Teil des deutschen Verfassungsrechts, festgelegt in Artikel 13 des Westfälischen Friedens aus dem Jahr 1648 – eines Friedensvertrags, der aus der Perspektive Mösers nicht wesentlich weiter zurücklag als heutigen Juristen der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz von 1949.

Zwischen 1728 und 1761 ist der Erzbischof von Köln, Clemens August von Bayern (1700–1761), ein recht prächtiger Fürst des Rokoko und Herrscher über fünf Bistümer, Landesherr auch von Osnabrück. Nach seinem Tod sollte es dem Herzog von Braunschweig-Lüneburg gefallen, seinen sechs Monate alten Sohn zum lutherischen Bischof und Landesherrn zu bestimmen – Frederick Augustus (1763–1827), der zugleich ein britischer Prinz war, hatte seine Familie doch unlängst erst, im Jahr 1714, den britischen Thron akquiriert.

Ein bürgerlicher Anwalt und Gelehrter macht sich einen großen Namen

Als der britische Säugling formal zum Landesherrn aufstieg – und es bis zur Säkularisation des Fürstbistums blieb – war Justus Möser zu einem längst nahezu unverzichtbaren Kopf des Staates Osnabrück mit seinen beachtlichen 120.000 Einwohnern geworden. Protegiert vom Vater, übernahm er die anwaltliche Vertretung der Landesstände und wurde 1755 zum Syndikus der Ritterschaft, also des Standes der begüterten, mit Land und der Herrschaft über abhängige Bauern ausgestatteten Grundbesitzer.

Für den dauerhaft abwesenden, in Brühl bei Bonn residierenden Clemens, dann für den höchst selten aus London anreisenden Frederick Augustus führte Möser die Geschäfte. 

Es bietet sich vielleicht das Bild eines Stadtdirektors an, also eines Juristen, an dem im Tagesgeschäft der Verwaltung kein Weg vorbeiführt, der aber seine Herrschaft nur aus fremdem Recht ausübt und deshalb für alle Anliegen, die den ökonomischen und kulturellen Fortschritt von Land und Stadt betreffen, auf mehr oder weniger vorsichtige Weise werben muss. Die britische Besatzungsmacht sollte nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Amt des Kreis- und Stadtdirektors in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen übrigens eine Position schaffen, die ähnlich etabliert und prekär zugleich war und deshalb die Soziologie der öffentlichen Verwaltung um viele kreative Köpfe bereicherte, bis sie im Rahmen reichlich dummer Reformen des Kommunalverfassungsrechts in den 1990er Jahren wieder abgeschafft wurde.

Justus Möser nutzte seine Position nach Maßstäben der Epoche in einer für Deutschland sehr produktiven Weise, unter anderem dergestalt, dass er eine Zeitung herausbrachte – jeweils nur wenige Blatt Papier, die auch amtliche Mitteilungen oder Steckbriefe enthalten konnten, mit denen Möser jedoch für seine ökonomischen und kulturellen Anliegen um Aufmerksamkeit in einem Publikum warb, das deutlich über das kleine Hochstift Osnabrück hinausreichte.

Beispiele des bürgerlichen Projektemachers im 18. Jahrhundert

Der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), der die wissenschaftlich präzise Vermessung Osnabrücks besorgen sollte, wurde wegen seiner zahlreichen witzigen Ideen "ein rechtes Sonntagskind in Einfällen" genannt – in den Grenzen seiner juristischen Ausbildung und verwaltungssoziologischen Position stand ihm Justus Möser kaum nach, auch er gerne mit ein bisschen Witz bei der Sache.

Mösers "Vorschlag zu einer Sammlung einheimischer Rechtsfälle" gibt ein für diese Epoche der Aufklärung nicht untypisches Beispiel, selbst wenn der Osnabrücker Stadtdirektor avant la lettre sich mit zentralen politischen Ideen der Aufklärungsbewegung, der Amerikanischen und Französischen Revolution nicht anfreundete: In geselliger Form sollten sich, so Justus Möser, Rechtsgelehrte zusammenfinden, um "Entscheidungen einheimischer Rechtsfälle zu sammlen" und sie "in einer bündigen und angenehmen Kürze zu liefern". 

Diese Sammlung von Fällen aus der gerichtlichen Praxis würde die Geltungsgründe des Rechts "nur im Vorübergehen" anmerken, nicht etwa dogmatisch und philosophisch zu durchdringen versuchen: "Denn es geht in der Rechtskunst wie in der Arzneikunst, eine Sammlung richtiger Erfahrungen mit ihrer Behandlung und Entscheidung ist allemal nützlicher und brauchbarer als ein System, worin doch immer allgemeine Räsonnements und Hypothesen den größten Platz einnehmen und Menschen nicht so richtig als Erfahrungen sprechen." 

Mit neumodischen Systemen wie dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten oder dem – zu Mösers Lebzeiten noch als Zukunftsmusik geplanten – französischen Code Civil hatte er wenig im Sinn: "Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen, ist der gemeinen Freyheit gefährlich."

Gewitzt konnte das auch sein. Mit der Schwerfälligkeit des Reichskammergerichts war Möser nicht zuletzt deshalb vertraut, denn nach der Erhebung von Frederick Augustus zum Landesherrn kam Streit um angemaßte Rechtspositionen der notorisch schlecht erzogenen britisch-hannoverschen Fürstenfamilie auf.

Weil in Großbritannien die Einfuhr deutscher Leinentextilien – ein wichtiges Produkt Osnabrücks, aus dem unter anderem die Kleidung von Sklaven in den britischen Kolonien gefertigt wurde – mit einem Zoll belegt werden sollte, schlug Möser vor, umgekehrt die Einfuhr britischer Stoffe zu besteuern, um das stets langsam, Prozesse mitunter über Jahrzehnte verschleppende Reichskammergericht zu finanzieren, denn "so würde dieses jährlich schon mehr als zwei Millionen Taler betragen, und mit einer solchen Summe könnte man gewiß so viel Assessores besolden, als unsre Prozeßsucht erfordert und nötig sein würde, um alle Prozesse jedesmal in einer Zeit von drei Jahren zu Ende zu bringen".

Selbst in Kreditgeschäften ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, sah Möser das Heil nicht im Umsturz der hergebrachten Herrschaft – wie in Amerika und Frankreich zu beobachten –, sondern in der Ausstattung mit Kapital: Knechtschaft ergebe sich nicht, jedenfalls nicht allein durch psychologische oder rechtliche Konditionen, ein Knecht sei vielmehr "ein Mensch im Staate ohne Actie" – und damit zwar ohne Mitsprache, jedoch auch ohne die besonderen Belastungen eines Bürgers.

Verteidigung des Harlekins im Feldlager

Die Geschichte lief bekanntlich anders. Statt das Gewebe alter ständischer Rechte und Freiheiten, von Knechtschaft und Sklaverei in mühsamen, gern "organisch" genannten Prozessen abzulösen, rissen die Revolutionen und Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts vieles davon einfach fort.

In Deutschland wird der 1794 verstorbene Justus Möser heute wohl bestenfalls noch als theater- und literaturhistorischer Denker wahrgenommen: Denn ganz gegen einen klassisch-strengen Zeitgeist seiner Epoche verteidigte er beispielsweise die Figur des Harlekins und mit ihr die vom moralischen Zeigefinger unberührte freie Lust am Lachen – wobei er selbst, ein Mann von 40 Jahren, während des Siebenjährigen Kriegs (1756–1763) in die Rolle des Narren schlüpfte, um durch heiteren Harlekin-Vortrag im feindlichen Feldlager für Osnabrück die Herabsetzung der Kriegslast von ruinösen 300.000 auf 250.000 Taler zu bewirken.

Im englischsprachigen Raum wird der Möser-Zeitgenosse Edmund Burke (1729–1797) als Klassiker der konservativen Kritik an überschießenden liberalen Utopien immer noch gelesen – hierzulande wollte hingegen seine Heimatstadt aus Anlass des 300. Geburtstags von Justus Möser ausgerechnet einen verkaufsoffenen Sonntag veranstalten – was, noch vor COVID-19-Erwägungen, von gewerkschaftlich organisierten "Menschen ohne Actie" verhindert werden musste.

Hinweis: Der "Splitter"-Verlag brachte eine Graphic Novel unter dem Titel "Möser" heraus, die zwar etwas pädagogisch bemüht wirkt, aber einen sonst unangestrengten Zugang bietet.

Zitiervorschlag

Justus Möser aus Osnabrück: . In: Legal Tribune Online, 13.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43720 (abgerufen am: 09.12.2024 )

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