Justiz und Irrtum / Ein Versuch: Max Hirschberg und die Lehre vom Justizirrtum

von Martin Rath

04.09.2011

Unlängst wurde ein Lehrer erst nach Jahren der Haft im Wiederaufnahmeverfahren vom Vergewaltigungsvorwurf freigesprochen. Allgemein gelten Fehlurteile als Einzelfälle, Versuche einer systematischen Aufarbeitung, gar einer "Dogmatik des Justizirrtums" sind selten. Der leidenschaftliche Anwalt Max Hirschberg hätte darin wohl eine unverzeihliche "Trägheit des Herzens" gesehen.

Quälende vier Stunden lang trug der Vorsitzende Richter zunächst die Urteilsgründe vor, bis er endlich zur Urteilsformel und zum Strafmaß kam – mit einem für den Angeklagten, seine Verteidiger und weite Teile der Öffentlichkeit erschreckenden Urteil:

"Der Schriftsteller Felix Fechenbach, geboren 28. Januar 1894 in Mergentheim, deutscher Staatsangehöriger, wurde durch Urteil des Volksgerichts München I vom 20. Oktober 1922 wegen eines Verbrechens des vollendeten und eines Verbrechens des versuchten Landesverrats zur Gesamtstrafe von 11 Jahren Zuchthaus verurteilt."

Eine Anklageschrift war nicht zugestellt worden. Als der Verteidiger, der Münchener Rechtsanwalt Max Hirschberg (1883-1964) eine Ausfertigung des Urteils verlangte, wurde dies aus Geheimhaltungsgründen zunächst abgelehnt. Hirschberg schreibt später in seinen Lebenserinnerungen:

"Ich rief den Vorstand des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat Neidhardt, an. Er hat später den Hochverratsprozeß gegen Hitler und Genossen im Frühjahr 1924 geleitet. Er war ein süßlicher feiger Handlanger der reaktionären Machthaber und zu jeder Rechtsbeugung in deren Interesse bereit. Ich erklärte scharf, daß mir als Verteidiger eine Ausfertigung des Urteils verweigert werde, während der Vorsitzende einen Auszug der Presse übergeben habe. Er erklärte höflich, ich würde eine Ausfertigung erhalten. Sie wurde mir unverzüglich zugestellt, jedoch mit dem Gebot strengster Geheimhaltung. Es wurde mir verboten, sie dem verurteilten Fechenbach auszuhändigen."

Strafverteidiger in bayerischer Justiztravestie

Diese und weitere nicht erst heute bizarr anmutenden Umstände dieses Strafprozesses hatten ihren Grund in einer Besonderheit der bayerischen Rechtsordnung jener Jahre: Vom November 1918 bis zum Mai 1924 waren im Freistaat so genannte Volksgerichte tätig. Unter der Regierung des links-sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, der 1919 ermordet wurde, sollten sie ursprünglich zur schnellen Aburteilung von Gewalt- und Plünderungstaten dienen – den üblichen Begleitumständen einer Revolution, selbst in Bayern. Ihre Zuständigkeit umfasste schließlich auch politische Delikte wie Hoch- und Landesverrat. Adolf Hitler sollte 1924 als letzter Angeklagter eines bayerischen Volksgerichts sein grotesk mildes Urteil erhalten.

Gegen Urteile der Volksgerichte war kein Rechtsmittel zulässig - obwohl ihre Fehlerquote dank improvisierter und summarischer Verfahren hoch war: Verurteilte konnten nur um Gnade bitten, bis der Reichsgesetzgeber 1924 – gegen den energischen Widerstand der bayerischen Staatsregierung – den Weg eines Wiederaufnahmeverfahrens beim Reichsgericht in Leipzig eröffnete.

Fechenbach kam 1924 auf öffentlichen Druck hin frei, durch Gnadenakt zunächst. Die ihm vorgeworfenen Handlungen waren teils verjährt, teils kaum der Strafe würdig. 1933 zählte Fechenbach zu den ersten Todesopfern des NS-Staats. Das Reichsgericht entledigte sich des Wiederaufnahmeverfahrens mit einer halbherzigen Entscheidung. Betrieben wurden diese Verfahren vom Münchener Strafverteidiger Max Hirschberg, der unter anderem Gutachten von sieben hochkarätigen Professoren einholte – vom liberalen Alexander Graf zu Dohna bis zum Sozialdemokraten Gustav Radbruch, die die materiell-rechtlichen und prozessualen Fehler des Volksgerichtsurteils kritisierten.

Fehlerquellenlehre für den politischen wie den "ordentlichen" Prozess

Dieser Max Hirschberg hatte vor dem Ersten Weltkrieg sein Staatsexamen abgelegt, Note "sehr gut", siebter Platz unter 354 Kandidaten. Üblich war in der bayerischen Monarchie, dass die besten Nachwuchsjuristen eingeladen wurden, in die Staatsverwaltung einzutreten. Hirschberg bemerkt nüchtern: "Als Jude wurde ich übergangen."

Politisch vom braven Liberalen zum scharfzüngigen Sozialdemokraten mutiert, mit einem selbsterklärten "Hass" gegen Ungerechtigkeit, kehrte Hirschberg aus dem Ersten Weltkrieg zurück, an dem er vier Jahre an der Front zubrachte. Doch schon aus seinem Referendariat berichtet er: "Mit Grausen hörte ich solche Richter, mit der Schinkensemmel in der Hand, kaltblütig viele Jahre Zuchthaus oder Gefängnis verhängen. Es waren nicht alle solche Typen. Aber viele waren eiskalte, völlig herzlose Angestellte der Justiz, die ganz mechanisch Verfehlungen in Monate oder Jahre Freiheitsstrafe umrechneten. Der demütig winselnde Angeklagte kam besser weg, als der freche Beschuldigte. Geständnis galt naiverweise als Zeichen der Reue und wurde strafmildernd bewertet."

Beobachtungen wie diese ließ Hirschberg in seine 1960 erschienene Untersuchung "Das Fehlurteil im Strafprozeß" einfließen. Neben den "Fehlurteile(n) im politischen Prozeß", die vor allem seine Erfahrungen als Strafverteidiger im Bayern der Weimarer Republik aufgreifen, behandelt Hirschberg die "Fehlurteile im gewöhnlichen Strafprozeß".  In weiten Teilen ist Hirschbergs Lehre von den Fehlerquellen bis heute aktuell geblieben. An erster Stelle nennt Hirschberg den unkritischen Umgang mit Geständnissen.

Zum Beispiel: Unkritischer Umgang mit Geständnissen

"Wenn in deutschen Knästen alle Häftlinge tot umfallen würden, die Taten zugegeben haben, die sie nicht begangen hatten", erklärte der frisch freigesprochene Jörg Kachelmann in seinem ZEIT-Interview im Juni 2011, "wären die Knäste halb leer".

Was Kachelmann als Fehlerquelle aus Gesprächen mit seinen Mitgefangenen benennt, räumt Hirschberg als Fehler ein, den er als junger Anwalt machte: Er wollte einen Angeklagten zu einem Geständnis bewegen, um vielleicht statt einer Zuchthaus- eine mildere Gefängnisstrafe "aushandeln" zu können. Der Mann bestritt weiter. Das Gericht kam, unerwartet, zu einem Freispruch. Danach schwor der Mann seinem Verteidiger unter vier Augen und beim Leben seiner Kinder, tatsächlich unschuldig gewesen zu sein. Max Hirschberg bezeichnet das in seiner Autobiografie als einen Wendepunkt: Danach wollte er es bei einer bequemen, von harten Fakten nicht untermauerten "Wahrheit" eines Geständnisses nicht belassen.

Als weitere Ursachen falscher Geständnisse benennt Hirschberg den Zustand von Angst und Ungewissheit von Untersuchungsgefangenen, ihren Wunsch, aus ihrer ungeklärten Lage herauszukommen. Für Beispiele von Geständnissen, die von der Polizei durch Zwang, Täuschung oder Drohung mit Gewalt erhoben werden, führt Hirschberg in seinem 1960 erschienen Buch Fälle aus seinem Exilland, den USA, an.

Zum Beispiel: Unkritischer Umgang mit Sachverständigen

Wäre der Fall nicht so traurig, man könnte ein Beispiel für den unkritischen Umgang mit Sachverständigen fast putzig nennen, von dem Max Hirschberg aus seiner forensischen Praxis während der 1920er-Jahre berichtet: Zwei junge Leute hatten sich in Augsburg die Ehe versprochen. Die Frau wurde vor der Ehe schwanger – eine ernste Sache seinerzeit, wenn man bedenkt, dass Suizide infolge unehelicher Schwangerschaften zu den gewichtigsten Todesursachen unter jungen Frauen zählten, so wie Bulemie heute. Aus einer, so Hirschberg weiter, etwas merkwürdigen Auslegung katholischer Dogmen bestand sie darauf, dass nicht eine illegale, aber semiprofessionelle „Engelmacherin“ den Schwangerschaftsabbruch vornehmen sollte, sondern ihr Verlobter. Der Verlobte beschaffte Gift. Die Verlobte starb. Angeklagt und verurteilt wurde er wegen vorsätzlichen Mordes, nicht wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge.

Das Gericht verließ sich dabei auf die Aussage eines – wie Hirschberg ihn darstellt – senilen Apothekers, der einmal in einem Lehrbuch gelesen haben wollte, dass das eingesetzte Gift niemals bei Abtreibungen verwendet worden sei.

Auf das Sachverständigengutachten eines klapprigen kleinen Provinzapothekers wird sich heute vermutlich kein noch so provinzielles Amts- oder Landgericht mehr verlassen. Doch die Fehler, die das Augsburger Gericht mit seinem überforderten Gutachter machte, werden sich so oder so ähnlich immer wieder finden lassen: Man greift auf das Gutachten gerichtsbekannter Experten zurück, die Richter denken die Sache nicht selbst vollständig und gründlich durch oder fragen bei möglichen logischen Brüchen nicht hart genug nach.

Im Fall des Gymnasiallehrers Horst Arnold, den die hessische Justiz wegen angeblicher Vergewaltigung fünf Jahre hinter Gitter brachte und in seiner bürgerlichen Existenz vernichtete, musste SPIEGEL-Autorin Gisela Friedrichsen jüngst von ganz ähnlich gelagerten Fehlerquellen zu berichten.

Zum Beispiel: Unkritischer Umgang mit Zeugen

In der provinziell heilen-unheilen Welt des bayerischen Strafverteidigers der 1910er- und 1920er-Jahre galt es, noch relativ schlichte naturwissenschaftliche Erkenntnisse in die Köpfe nur juristisch gebildeter Richter zu pflanzen – etwa die Gesetze der Optik. Hirschberg nennt den Fall, dass ein Angeklagter vom Zeugen auf eine Entfernung von rund 600 Metern als vermeintlicher Täter wiedererkannt wurde. Das Gericht wäre bereit gewesen, diese Zeugenaussage für eine Verurteilung genügen zu lassen, hätte nicht ein – von der Verteidigung beschaffter – Professor der Physik nachgewiesen, dass die Sichtweite zum Tatzeitpunkt bei wenigen Metern lag und auch bei besten Lichtverhältnissen niemals bei 600 Metern hätte liegen können.

Eine gründliche Prüfung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen bei Straftaten, die in Vier-Augen-Situationen stattgefunden haben, insbesondere bei Sexualstraftaten, sowie bei Aussagen von kindlichen Zeugen mahnt Max Hirschberg 1960 an – gewonnen aus seinen Erfahrungen aus der Weimarer Zeit und Beispielen aus der deutschen und US-amerikanischen Justiz.

Seit 1939 in den USA lebend, fand Max Hirschberg am Strafprozess seines Asyllandes nicht viel Gutes. Das bloß formale Wahrheitsverständnis des "guilty plea" musste er, der schon den deutschen Gerichten vorwarf, aufgrund bloßer Wahrscheinlichkeit zu urteilen, statt sich auf absolute Gewissheit im Urteil zu stützen, regelrecht verabscheuen. Auch dem Jury-Urteil spricht er eine hohe Fehlerquote zu. Jedoch schätzt er die systembedingte Unbefangenheit des US-amerikanischen Richters, der im Allgemeinen nur die äußere Ordnung des Strafprozesses regelt. Staatsanwalt und Verteidiger streiten sich dort in Kreuzverhören von Zeugen und Sachverständigen um den Beweis.

Dem stellt Hirschberg den deutschen Vorsitzenden Richter gegenüber, der seine Unbefangenheit schon durch gründliches Aktenstudium verliere und dann auch noch die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung dominiert. Er schlug vor, die Verhältnisse in Deutschland umzukehren: Das Kreuzverhör könne zur Regel des Strafprozesses werden, die inquisitorische Befragung durch einen Richter – möglichst nicht den Vorsitzenden – sollte in den zweiten Rang zurücktreten.

In den 1960er-Jahren wurde zwar unter der Leitung des Tübinger Strafrechtlers Karl Peters (1904-1998) eine große Aktenanalyse von Wiederaufnahmeverfahren unternommen. Das Problembewusstsein für Fehlurteile war vorhanden, Bundesjustizministerium und Bundestag zeigten sich vergleichsweise alarmiert und untersuchungswillig. Zu so starken Eingriffen in den Strafprozess, wie sie dem radikalen Strafverteidiger Max Hirschberg vorschwebten, ist es aber bekanntlich nicht gekommen.

Kasuistische Kritik des Justizirrtums – alle Jahre wieder

Die kritische Berichterstattung über Strafurteile, die sich als falsch herausstellen, hat sich als journalistische Leistung inzwischen etabliert – wenn auch leider nicht flächendeckend. Eine autoritätsgläubige Gesellschaft, die dem Irrglauben anhängt, dass schon alles richtig und wahr sei, was deutsche Richter ihren Urteilen zugrundelegten, wird sich hierzulande längst nicht mehr finden. Auch werden die Juristen der Strafrechtspflege heute hoffentlich nicht mehr mit der "Schinkensemmel in der Hand" drakonische Urteile ausfertigen.

Aber die Analyse von Fehlurteilen, so will es scheinen, kommt immer wieder nur durch die Arbeit außergewöhnlich engagierter Anwälte und die Aufmerksamkeit der wenigen qualifizierten Medienleute zustande. Systematisch ist diese Analyse eher selten. Das müsste so nicht sein.

In Vorlesungen dürfen sich Studenten der Rechtswissenschaften schon im ersten, zweiten Semester mit den strafrechtlichen Irrtumsproblemen befassen. Dabei geht es um die Frage, ob der Irrtum eines Täters zum Ausschluss von Vorsatz oder Schuld führt. Angesichts der professoralen Leidenschaft, mit der diese Probleme mitunter diskutiert werden, darf gefragt werden, ob dem akademischen Juristennachwuchs nicht schon in diesem Larvenstadium ihrer beruflichen Existenz eine "Dogmatik des Fehlurteils" beigebracht werden sollte. Ein Bewusstsein dafür, dass selbst gründlichste Rechtskenntnis nicht vor Problemen der Wahrheitsfindung schützt, könnte damit früh geweckt werden. Wer den juristischen Lehrbetrieb von innen kennt, darf unterstellen: Es ist nie zu früh dafür.

Literaturtipps finden Sie unter diesem Link (pdf).

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

 

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Justiz und Irrtum / Ein Versuch: . In: Legal Tribune Online, 04.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4196 (abgerufen am: 05.10.2024 )

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