Justizopferentschädigung vor 100 Jahren: Knausrig war der Staat schon immer

von Martin Rath

10.04.2016

2/2: Justizminister übt sich in Rabulistik

Die beiden Damen erhoben daraufhin Klage über insgesamt 24.417 Mark. Dem Argument, mit dem der Minister die Haftung des Justizfiskus' vermeiden wollte, folgten das LG Hannover und das OLG Celle: Dem Inhaftierten beziehungsweise seiner unterhaltsberechtigten Frau und Tochter sei der Schaden nicht durch das Strafurteil entstanden, vielmehr sei der Bahnbeamte auf der Grundlage des preußischen Disziplinargesetzes aus dem Staatsdienst entlassen worden. Nicht seine Verurteilung, sondern ein weiterer, aus dem strafrechtlichen Verdikt resultierender staatlicher Akt, die Aussonderung aus dem Dienst bei der staatlichen Bahn, sei ihm zum Schaden geraten.

Gemessen an den oft etwas oberlehrerhaften Kommentaren zu Schriftsätzen der Strafverteidigung, der zumeist aber sehr vornehmen Zurückhaltung gegenüber Fehlleistungen der Vorinstanzen oder der Staatsanwaltschaft, liest sich bereits der Anfang des Urteils des Reichsgerichts in der Haftentschädigungssache des Eisenbahnobersekretärs fast schon wie eine Übung in heiligem Zorn: "Schon der Ausgangspunkt des angefochtenen Urteils muß als rechtsirrtümlich bezeichnet werden […]."

Streit um Haftentschädigungsgesetze

Die linke und linksliberale Justizkritik der Weimarer Zeit, die dank prominenter Vertreter wie Kurt Tucholsky bis heute in den Köpfen steckt, macht etwas vergessen, dass die deutsche Justiz zur Zeit des Kaiserreichs als vergleichsweise fortschrittlich galt. Sherlock-Holmes-Schöpfer Arthur Conan Doyle hielt sie, mit Blick auf die Skandale der mittelalterlich-verzopften britischen Strafjustiz, seinerzeit gar für vorbildlich.

Zwar sollte das Bild nicht zu rosig gezeichnet werden, doch immerhin finden sich so fortschrittliche Einrichtungen wie das "Gesetz, betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen" vom 27. Mai 1898, das die Entschädigung des Vermögensschadens und den Ausgleich der Unterhaltsschäden gegenüber den Angehörigen eines Verurteilten vorschrieb.

In der Reichstagsdebatte zu diesem ersten Haftentschädigungsgesetz beklagte die Reichstagsfraktion der SPD, dass andere Haftformen nicht berücksichtigt worden seien. Als damals für die Arbeiterklasse tätige Partei hatte sie entsprechend Geschädigte zahlreich in ihren Reihen. Die Reichstagsprotokolle verraten, dass man sich damals im Parlament hierzu ernsthaft etwas zu sagen hatte, in der Regel sogar in freier Rede.

Freilich brauchte es, was selbst für heutige Verhältnisse als schnell gelten darf, nur sechs Jahre, bis mit dem "Gesetz, betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft" entsprechend nachgebessert wurde.

Reichsgericht mit moderner Auslegung

Das preußische Justizministerium versuchte, die Anwendung dieser Gesetze möglichst eng zu gestalten, indem nur Schäden, die unmittelbar durch den strafrechtlichen Hoheitsakt entstanden waren, den Ministerialbeamten als entschädigungspflichtig galten. Die aus dem Strafurteil mittelbar resultierende Beseitigung eines Beamten aus dem Dienst zählte nicht dazu.

Diese Auffassung verwarf der sechste Zivilsenat des Reichsgerichts, durchaus mit Blick auf den Sinn und Zweck der beiden Entschädigungsgesetze. Für verurteilte Staatsbedienstete hätte die Auffassung des preußischen Ministeriums zur Folge, dass die Bundesstaaten des Reichs eine Entschädigung unterlaufen könnten, wenn sie eine Inhaftierung nur mittelbar als Entlassungsgrund vorgäben.

Eine an Sinn und Zweck orientierte Auslegung zu Kaisers Zeiten? Auch das mag ein bisschen überraschen, ist doch das Bild der Justiz in dieser Zeit geprägt von der buchstabengläubigen Eisenbahn-Definition und einem strikt positivistisch organsierten Entscheidungsapparat.

Vielleicht mit noch größerem Erstaunen als auf die mehr oder weniger bemerkenswerten Aspekte im Haftentschädigungsurteil des Reichsgerichts vom 10. April 1916 blickt man auf die Reichstagsdebatte zum ersten der beiden Gesetze, die das Gericht vor der engherzigen preußischen Justizverwaltung schützte: In der Debatte zum Gesetz von 1898 legte sich der einflussreiche und in seiner Partei eher zum rechten Flügel zählende SPD-Abgeordnete Karl Frohme (1850-1933) derart für alle potenziellen Justizgeschädigten ins Zeug, dass man sich wundern darf:

Wann ist es eigentlich in Deutschland zur Mode geworden, dass Strafrechtsreformen leidenschaftlich nur noch dann geführt werden, wenn es am Ende wieder einmal nur um die Verschärfung einer Norm des materiellen Strafrechts geht?

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Justizopferentschädigung vor 100 Jahren: Knausrig war der Staat schon immer . In: Legal Tribune Online, 10.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19027/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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