Justizopferentschädigung vor 100 Jahren: Knausrig war der Staat schon immer

von Martin Rath

10.04.2016

Die Voraussetzungen und die Höhe, unter denen zu Unrecht Inhaftierten eine Entschädigung gezahlt wird, sind ein heißes Thema. Schon zu Kaisers Zeiten war die Haftentschädigung ein Zankapfel – nicht zuletzt zwischen Justiz und Verwaltung.

Das Urteil des Reichgerichts in Leipzig vom 10. April 1916 verblüfft in der Deutlichkeit, mit der das Oberlandesgericht (OLG) Celle wegen seines fehlerhaften Rechtsverständnisses gerügt wurde. Auch die Höhe des Betrags, den die Witwe und Tochter eines Eisenbahn-Mitarbeiters beanspruchten, wundert ein wenig, stritten sie mit dem Fiskus doch um eine Haftentschädigung von beträchtlicher Höhe für den Schaden, den die deutsche Justiz im Fall ihres verstorbenen Gatten und Vaters angerichtet hatte.

Im Ergebnis ging es für die zwei Frauen gut aus: Die obersten Richter kamen zu dem Schluss, dass die Kollegen aus Celle eine Haftentschädigung mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt hatten.

Führt ein Strafprozess nicht zur rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung oder wird das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren beseitigt, sieht heute das "Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen" vor, dass dem Justizopfer unter Umständen Genugtuung zu leisten ist.

Haftentschädigung – wo der Staat knausrig ist

Die Frage, ob das, was insbesondere für eine im Ergebnis rechtlich nicht aufrechtzuerhaltende Inhaftierung aus der Staatskasse geleistet wird, auch wirklich genügt, ist seit langem umstritten. Das im Jahr 1971 in Kraft getretene Gesetz sieht heute den Ersatz von Vermögensschäden vor, wobei es in der Eingangsgröße eine gewisse Knausrigkeit verrät. Überschreitet der nachgewiesene Vermögensschaden nicht den Betrag von 25 Euro, bleibt der strafrechtlich Verfolgte auf seinem Schaden sitzen. Gemessen am Spesenkonto eines Deutsche-Bank-Vorsitzenden sind 25 Euro natürlich Luft, für einen Geringverdiener oder Sozialhilfeempfänger kann das hingegen viel Geld sein.

Besonders häufig kritisiert wird der Tagessatz, der für Nichtvermögensschäden gewährt wird: 25 Euro für jeden angefangenen Tag einer Freiheitsentziehung. Das scheint doch ein etwas geizig gegriffener Betrag zu sein, vor allem, wenn sich einmal nach langjähriger Haft und einer vom Staat zerstörten Biografie die Unschuld des Betroffenen erweist.

Wenn schon heute dem Staat gegenüber den Opfern seiner Justiz, freundlich gesprochen, wirtschaftliche Zurückhaltung attestiert wird, dann, so möchte man denken, müsste es vor 100 Jahren doch noch sehr viel schlimmer um die Untertanen von Kaiser und Justiz bestellt gewesen sein.

Erste deutschlandweite Haftentschädigungsgesetze

Mit Urteilen vom 11. und 27. April 1906 war ein Eisenbahnobersekretär vom Landgericht (LG) Hannover wegen Urkundenfälschung und Betrugs zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden. Vorausgegangen waren rund zwei Monate Untersuchungshaft.
Die Strafvollstreckung wurde im Mai 1907 unterbrochen, weil der Eisenbahnobersekretär, der inzwischen aus dem Dienst der preußischen Bahn entlassen worden war, psychisch erkrankte. Er verstarb 1912 in einer Nervenheilanstalt. Im Jahr nach seinem Tod wurde er im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen.

Nachdem das LG die preußische Staatskasse dazu verpflichtete, den Unterhaltsberechtigten Ersatz für den durch die Inhaftierung entzogenen Unterhalt zu leisten, wies der Justizminister des Königreichs Preußen diesen Anspruch durch Bescheid ab – offensichtlich hatten sich Witwe und Tochter des Eisenbahnobersekretärs bereits ein Jahr lang um die Auszahlung bemühen müssen, bis das Ministerium sich mit dem abweisenden Bescheid dazu erklärte.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Justizopferentschädigung vor 100 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19027 (abgerufen am: 06.12.2024 )

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