Justizgeschichte: Der Kna­ben­mord von Xanten

von Martin Rath

06.10.2019

Im Jahr 1892 fand in Kleve der Prozess gegen einen Kaufmann aus Xanten statt, dem der "Ritualmord" an einem fünfjährigen Jungen vorgeworfen wurde – ein Beleg antisemitischen Wahnsinns und einer erstaunlich vormodernen Justiz.

Der damals längst weltberühmte schottische Schriftsteller Arthur Conan Doyle (1859–1930) fand Anfang des 20. Jahrhunderts lobende Worte zu der seiner Auffassung nach modernen deutschen Justiz.

Das mag auf den ersten Blick ein bisschen überraschen. Zunächst sitzt natürlich das Bild vom preußischen Obrigkeitsstaat tief – und das auch nicht ohne Grund. Zudem hat seine Figur des Sherlock Holmes einen derart hohen Rang unter den magischen Superhelden der Moderne, dass sie glauben macht, in den grauen Straßen Londons oder den grünen Auenlanden der englischen Provinz könne kein Verbrechen geschehen, das nicht von einem spleenigen Gentleman mittels wahrhaft wissenschaftlicher Denkungsart einem fairen Prozess mit harter Strafe zugeführt würde.

Doch Doyle hatte die britische Realität vor Augen. Nachdem im Jahr 1903 der Solicitor George Edalji (1876–1953), der als Sohn eines aus Indien stammenden Landpfarrers Ziel widerwärtiger fremdenfeindlicher Übergriffe wurde, auf der Grundlage fadenscheiniger Beweise von einem obskuren ländlichen Gerichtshof, dem Court of Quarter Sessions, zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, weil er sich der nächtlichen Verstümmelung von Schafen, Rindern und Pferden schuldig gemacht habe, fand er in Doyle einen Fürsprecher.

Doyle übte Kritik daran, dass es keine Appellationsmöglichkeit gegen Urteile dieser mittelalterlichen Gerichte gab: Deutschland mit seiner 1878 gerade erst reichsweit frisch eingerichteten Justiz, seiner modernen Prozessordnung, den Berufungs- und Revisionsinstanzen solle der britischen Justizorganisation als Vorbild dienen. Tatsächlich wurde 1907, gegen den hartnäckigen Widerstand der englischen Anwaltschaft, der Court of Criminal Appeal eingerichtet.

Strafgerichtsbarkeit in der Provinz – der Fall Xanten

Es ist sehr schade, dass der Berliner Gerichtsreporter Hugo Friedländer (1847–1918) kaum noch bekannt ist – noch weniger als seine Kollegen Paul Schlesinger ("Sling", 1878–1928) oder Gabriele Tergit (1894–1982).

Seine sehr detaillierte Darstellung eines Verfahrens vor dem Schwurgericht beim Landgericht Kleve, das zwischen dem 4. und 14. Juli 1892 im Fall des sogenannten "Knabenmords von Xanten" tagte, bietet einige Hinweise auf die damalige Modernität der deutschen Strafjustiz, aber auch derart zahllose Belege einer völlig verrohten Gesellschaft im Umbruch, dass man bei der Lektüre oft schmerzhaft aufstöhnen muss – obwohl Friedländers Buch für geübte Sherlock-Holmes-Leser durchaus den Charme des gleichen Zeitgefühls vermittelt.

Was war der Fall? Als gesicherte Erkenntnis darf gelten: In der Scheune des Gastwirts und Kommunalpolitikers Küppers war am 29. Juni 1891 von einem Dienstmädchen die Leiche des fünfjährigen Johann Hegmann gefunden worden. Weil dem Kind der Hals weitgehend durchtrennt worden war, kam in der überwiegend katholischen Kleinstadt am Niederrhein – rund 4.000 Einwohner insgesamt, bis dahin circa 80 Juden – das Gerücht auf, es habe sich um einen "Ritualmord" gehandelt.

Nach dem Völkermord an den europäischen Juden, den der deutsche Staat eine Generation später organisieren sollte, ist die Erinnerung weitgehend verblasst, dass vor allem im katholischen Mitteleuropa die Ritualmord-Legende seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer neue Konjunkturen erlebte – eine kollektive Psychose, angetrieben durch das neue Massenmedium "Tageszeitung".
Mochten in den Städten Physik und Chemie triumphieren, blieben die ländlichen Bevölkerungsmassen naturwissenschaftlich fast völlig verblödet. Hier traf das neue Massenmedium auf alte Gerüchtekultur: Die mittelalterliche Wahnidee, einst von aufgeklärten Päpsten bekämpft, dass Juden für okkulte Zwecke das Blut christlicher Kinder konsumierten, zog nun neue Kreise.

Dabei war sie anpassungsfähig: Mochte am Beginn des 19. Jahrhunderts noch die Idee vorherrschen, das Blut werde zur Osterzeit für jüdische Backwaren benötigt, behauptete z.B. der populäre Dichter und Sachbuchautor Max Bewer (1861–1921) jetzt, es werde zu einer Art homöopathischer Tinktur verarbeitet.

In Xanten fiel der Verdacht, dass eine derartig motivierte Tötung vorlag, auf Adolf Wolff Buschhoff (1840–1912), einen vormaligen Metzger (Schächter) und Kaufmann für Grabsteine, dessen Haus sich in der Nähe der Scheune befand, in der die Kinderleiche entdeckt worden war.

Damalige "Social Media": Katholische und konservative Tagespresse und Gerüchteküche

Zu einem regelrechten Wirrwarr in der späteren Beweisführung vor dem Schwurgericht trug bei, dass eine katholische Tageszeitung das "Gutachten" verbreitete, der Leichnam habe kaum noch Blut enthalten und der tödliche Schnitt durch den Hals habe jenem Muster entsprochen, das beim Schächten, also der Schlachtung eines Tiers nach jüdischem Gesetz, zu beobachten sei.
Die Anklage gegen Buschhoff war im Wesentlichen von der Hypothese getragen, eines der Messer, die der frühere Aushilfsmetzger der kleinen Gemeinde einem aus Berlin angereisten Polizeibeamten ausgehändigt hatte, müsse zur Tat gedient haben.

Dieser Beamte, der nach dem Protokoll von Friedländer leider eine tragische Ähnlichkeit mit Doyles wurstigem Inspector Lestrade hatte, war von der jüdischen Gemeinde beim preußischen Innenminister in der Hoffnung erbeten  worden, einen kompetenten Ermittler in der Sache zu finden. Dass sie zur Beschleunigung ihres Anliegens seine Reisekosten übernahm, bot der antisemitischen Presse in der Reichshauptstadt sogleich Anlass zum Skandal.

Für den pragmatischen preußischen Staat war eine derartige Kostenübernahme weniger überraschend als es heute scheinen mag. Und der Bericht Friedländers zeigt, wie groß die Not in der Provinz war: Wie vermutlich in vielen Ermittlungsverfahren auf dem flachen Lande wurden die Tatsachen unglaublich freihändig aufgenommen. Da meldete sich ein Zeuge mal beim Bürgermeister, mal beim Ermittlungsrichter, mal beim Polizisten, es wurden wichtige Beobachtungen, wenn überhaupt, teils erst Tage und Wochen nach dem Leichenfund aufgenommen – inzwischen zerkocht in einer wüsten Gerüchteküche, völlig unseriösem Journalismus und einer regelrechten Pogromstimmung.

Eine surreale Beweis-Präsentation im Schwurgericht

Ein Beispiel für die kollektiv-psychotische Imaginationsmacht: Am Tattag selbst hatte der vermeintliche Mörder die Eltern des getöteten Jungen besucht, die von seiner freundlichen Geste, ihnen in ihrem psychischen Zusammenbruch Medikamente zu beschaffen, nur noch erkennbar ungern wissen und die sich mit fortschreitender Zeit auf einmal erinnern wollten, Buschhoff sei mit blutigen Händen in ihrem Haus erschienen. Das Gericht sollte den Wert dieser Art von Erinnerung sachgerecht in Zweifel ziehen.

Das Schwurgericht – die Verhandlungsführung oblag einem Berufsrichter, über die Schuldfrage entschieden zwölf Geschworene, überwiegend christliche Kaufmänner, auch ein Graf von Loë aus dem regionalen Uradel – hatte sich an seinen zehn Sitzungstagen vor allem durch ein Gemisch aus derartigen Gerüchten, behördlichen Protokollen teils übelster Qualität und nachkeimenden "Erinnerungen" zu kämpfen. Insgesamt wurden rund 150 Zeugen gehört, was in Relation zu einer Gemeinde von rund 4.000 Einwohnern zu setzen ist.

Auswärtige, sachverständige Zeugen blieben in der Minderzahl. Zu ihnen zählte etwa der Straßburger Orientalistik-Professor Theodor Nöldeke (1836–1930), der dazu Auskunft gab, dass Juden der Verzehr von Blut strikt verboten sei. Gleichwohl musste sich das Gericht später immer wieder doch mit Zeugen befassen, die überzeugt waren, von einem jüdischen Vampir gehört zu haben.

Eine ganze Anzahl von Ärzten gab in einem surrealen Fachdisput Auskunft dazu, dass der Schnitt im Hals des Kindes keinesfalls dem Muster entsprochen habe, das Juden bei der Tötung eines Tieres nach religiösem Recht vorgeschrieben sei – auch komme nahezu jedes Messer in Betracht, nicht nur die von Buschhoff dem Berliner Polizisten ausgehändigten. Mehr als diesen akademischen Streit zur Frage des Messers, zur Halswunde und zum Verbleib des Blutes gab es an wissenschaftlich fundierter Beweisaufnahme nicht.

Nachbarn als Zeugen besonders wichtig

Von zentralem Gewicht – und dieser Rückblick auf vorwissenschaftliche Beweisführung wirkt heute sehr fremd – war die Anhörung nachbarschaftlicher Zeugen, oftmals zum Zweck, die von der Gerüchteküche weichgekochten Gedächtnisleistungen vorangegangener Zeugen zu verifizieren – sehr oft zu falsifizieren.

Eine Vernehmung stach dabei heraus: Als der Zeuge Westrup – ein vom Angeklagten im Streit entlassener Steinmetz –, der seinem jüdischen Dienstherrn gedroht hatte, er wolle dafür sorgen, dass er "keinen Schabbes mehr feiern" könne – vor die Richter trat, beantragte einer der drei Verteidiger Buschhoffs, nach § 56 Nr. 3 Strafprozessordnung (StPO) a.F.  von einer Vereidigung Abstand zu nehmen, weil der Mann selbst der Tat zu verdächtigen sei. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft opponierte dagegen, obwohl der Gesetzeswortlaut hier eindeutig war – allein die Verteidigung wusste ad hoc, dass das Reichsgericht hierzu schon entschieden hatte.

Angesichts der heute so geläufigen Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises wundert der hohe Rang dieser Rechtsfrage womöglich. Doch muss man sich vor Augen führen, dass die Geschworenen am Ende vor allem über den sozialen Charakter von Zeugen und Angeklagten richteten – während die wissenschaftliche Kriminalistik bis auf Weiteres noch auf einem erbärmlichen Niveau blieb, wie selbst der Blick ins Werk des viel gerühmten Hans Gross (1847–1915)  beweist.

Am Ende des erschöpfenden Verfahrens von zehn Verhandlungstagen kamen die Geschworenen nach nur einer halben Stunde Beratung zum Urteil: Adolf Wolff Buschhoff wurde freigesprochen. Die Sache selbst wurde nie aufgeklärt.

Zitiervorschlag

Justizgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37995 (abgerufen am: 10.11.2024 )

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