Buch "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern": Als Richter wurde, wer eine Schreibmaschine hatte

von Martin Rath

17.08.2014

2/2: Kartoffelräuber unterm Fallbeil

Der Weisung ihrer Vorgesetzten, bei Dienstschluss die Glühbirnen aus der Fassung zu schrauben, um sie angesichts des allfälligen Mangels vor Diebstählen zu schützen, werden derweil Justizbedienstete überall in Berlin gefolgt sein. Das Bild illustriert, was Reuß‘ "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern" so interessant macht: Das Buch zeichnet nicht allein die – nehmen wir das Kompositum – Justizverwaltungsgeschichte nach, es beruht auf umfangreichem Aktenstudium aus den frühen Zeiten der Berliner Nachkriegsjustiz.

Diebstähle sind in der Not Alltagsgeschäft der Justiz, auch bei eingedrehtem Leucht- und werktätigem Spruchkörper: Vier Wochen Gefängnis werden für den Diebstahl zweier Glühbirnen ausgegeben, Kartoffeln aus dem Keller einer Nachbarin zu stehlen, bringt einem Angeklagten zwei Monate Gefängnis ein.

Die Psychologie des Urteils, vom etwas geschmeidigen Umgang mit der Unschuldsvermutung bis zum Strafmaß – je nachdem, wie sehr sich die Richter womöglich selbst von der sozialen Unordnung bedroht sahen –, dürfte in West und Ost, nicht allein in Berlin, sondern in allen Besatzungszonen Deutschlands, kaum große Unterschiede gemacht haben. Zur Kartoffel, dem überlebenswichtigen Grundnahrungsmittel, mancher kennt das, wenn nicht aus eigener Anschauung, dann von den Eltern oder Großeltern, entwickelt das deutsche Volk in diesen Jahren ein obsessives Verhältnis.

Glücklicherweise hatte die Knollen-Not nicht immer ganz so böse Folgen wie im Fall des Berthold Wehmeyer (1925-1949), der am 11. Mai 1949 – das Grundgesetz war bereits beschlossen, in der Bundesrepublik aber noch nicht in Kraft, in Berlin (West) ja ohnehin nur bedingt –  als letzter Berliner guillotiniert wurde: 1947 hatte er mit einem Tatgenossen seine 61-jährige Landsmännin Eva Kusserow ermordet, um in den Besitz der von ihr "erhamsterten" 20 Kilogramm Kartoffeln zu kommen.

Der große Jurist Kühnast flieht in den Westen

Die weitere Geschichte des "großen Juristen" Wilhelm Kühnast, der in einen ost-westlichen Streit über die Personal- und übrige Politik der noch gemeinsamen Berliner Justizbehörden geriet – dem Generalstaatsanwalt wurde vorgeworfen, Akten des Volksgerichtshofs unterdrückt zu haben und er floh unter leicht slapstickartigen Umständen aus seinem Ostberliner Hausarrest in den Westen –, findet sich bei Reuß ebenso wie ein Seitenblick auf den Fall Heinrich Tillessen (1894-1984).

Der war keine Berliner, aber doch eine zentrale Sache der Nachkriegsjustiz in der Schnittmenge deutscher und alliierter Gerichtsherrlichkeiten: Tillessen hatte am 26. August 1921 den ehemaligen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875-1921) ermordet, bekannte sich dazu ohne Anlass vor US-Soldaten, die ihn seiner NS-Zugehörigkeit wegen festgenommen hatten. Umstritten war, ob die nationalsozialistische "Straffreiheitsverordnung" von 1933, von der Fememörder wie er profitieren sollten, von der deutschen Nachkriegsjustiz angewendet werden dürfe – ein Justizspektakel, bei dem am Ende die französischen Besatzungsorgane einen deutschen Landgerichtsdirektor in den Ruhestand schickten und das Verfahren an sich zogen, war die Folge.

Leseempfehlung? – Leseempfehlung!

Im Zusammenhang mit der sogenannten NSA-Affäre wurde jüngst mit großen Augen und offenen Mündern zur Kenntnis genommen, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sich einst auf dem Gebiet des Völkerrechtssubjekts Deutschland gewisse Vorrechte einräumen ließen.

Ob man wisse, dass die USA die Bundesrepublik für die hierzulande gelagerten Atombomben habe zahlen lassen, statt ihrerseits unsereins dafür zu entlohnen, wird man neuerdings gefragt. Dass die Bundesrepublik Deutschland durchaus noch für Verkehrsunfälle zum Beispiel belgischer Verkehrsrowdies in Uniform aufkam, denen in den 1970er-Jahren deutsche Fußgänger zum Opfer fielen – von solchen juristischen Petitessen im Nachklang des letzten Weltkriegs hat heute kaum noch jemand Kenntnis.

Ernst Reuß justizhistorisches Werk "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern" ist keine juristische Speziallektüre, sondern ein allgemeinverständliches Buch, das sich dankenswerterweise nicht aufs lokalhistorische Interesse von Berlinerinnen und Berlinern beschränkt. (Der Verfasser dieser Rezension hat für diese Stadt beispielsweise wenig übrig, fand das Buch aber – wie zu zeigen war – trotzdem sehr aufschlussreich.)

Es wird Zeit, sich auch zu den ersten Jahren und Jahrzehnten der deutschen Nachkriegszeit ein nüchtern-historisches Verständnis anzueignen – allein schon, um sich von den derzeit stark modischen Verschwörungstheorien und Geheimnistuereien kleinerer Größe abzusetzen.

Lesetipp: Ernst Reuß: "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern". Justizalltag im Nachkriegsberlin. Vergangenheitsverlag, Berlin 2012 - Printausgabe 19,90 Euro, eBook 9,99 Euro.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Buch "Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern": Als Richter wurde, wer eine Schreibmaschine hatte . In: Legal Tribune Online, 17.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12912/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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