Juristische Stilblüten: Der Alltag in Gerichts­sprache

von Prof. Dr. Roland Schimmel

29.07.2016

2/2: Juristen lieben Substantive

Hier ein Beispiel aus der Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs (BGH). Der (gewiss auch prüfungstaugliche) Sachverhalt: Ein Tierschutzverein fordert eine Bank auf, die Kontoverbindung eines Interessenverbands von Tierzüchtern wegen der unerfreulichen Haltungsbedingungen der Pelztiere zu kündigen. Das Urteil hat schnell das Schlagwort "Nerzquäler" verpasst bekommen. Der Verband verlangt Unterlassung, was sich – vielleicht – aus §§ 823 I, 1004 BGB begründen lässt. Für die zutreffende rechtliche Einordnung des Konflikts und die Strenge des anzulegenden Maßstabs kommt es darauf an, ob die Äußerung des Tierschutzvereins eine Tatsachenbehauptung oder eine Wertung ist.

Ein gedanklicher Schritt in der Urteilsbegründung des BGH lautet nun:

Um zu entscheiden, ob es sich bei einer Äußerung um eine Wertung handelt oder um eine Tatsachenbehauptung, muss man sie zuerst verstanden haben.

Den Richtern des VI. Zivilsenats erschien die Aussage aber wohl ein wenig zu schmucklos, also fassten sie sie juristischer:

"Die zutreffende Einstufung einer Äußerung als Wertung oder Tatsachenbehauptung setzt die Erfassung ihres Sinns voraus (vgl. Senatsurteile vom 11. März 2008 - VI ZR 7/07, VersR 2008, 793 Rn. 15; vom 22. September 2009 - VI ZR 19/08, VersR 2009, 1545 Rn. 11; vom 16. Dezember 2014 - VI ZR 39/14, VersR 2015, 247 Rn. 9; BVerfGK 10, 485, 489; jeweils mwN)."

Schon die erste Satzhälfte genügt, um Deutschlehrer im ganzen Land in unheilbare Schreikrämpfe ausbrechen zu lassen ("ungungungung!"). Aber auch die zweite Hälfte in der Klammer erzählt einiges über die Art, wie Juristen Urteile begründen. Eine ungefähre Übersetzung lautet: Falls Du uns nicht glaubst, dass Interpretation Verständnis voraussetzt – wir behaupten das schon länger. Und das Bundesverfassungsgericht auch. Ha! Was sagst Du nun?

Rechts überholen oder lieber Vorsortierräume nutzen?

Dass es auch anders geht als durch penetrante Häufungen uneleganter Substantive auf "–ung", beweist ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener Klassiker. Die Straßenverkehrsordnung verbietet das Rechtsüberholen (§ 5 I StVO), abgesehen von ein paar Ausnahmen (§ 7 II, IIa StVO). Ein Autofahrer hatte sich rechts an einer langsamen Fahrzeugschlange vorbeigetrickst und dann wieder eingefädelt. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf bestätigte seine Verurteilung. Die im Urteil erforderliche Aussage lautete verständlich ausgedrückt:

Rechts überholen ist verboten.

Das Gericht formulierte sie "etwas" juristischer:

"Wer auf der Autobahn im Bereich von Vorsortierräumen, die durch Aufstellen von fahrstreifengliedernden Vorfahrtsweisern eingerichtet sind, auf der durch eine breite Leitlinie abgetrennten Rechtsabbiegespur an den auf den für den Geradeausverkehr bestimmten Fahrbahnen befindlichen Fahrzeugkolonnen rechts vorbeifährt, ohne nach rechts abbiegen zu wollen, und anschließend nach links in eine Fahrzeuglücke einschert, überholt verbotswidrig rechts."

Dass diesem Satz nicht nur inhaltlich eine tiefe Wahrheit innewohnt, sondern auch sprachlich große Schönheit, erkennt man, wenn man ihn zuerst auswendig lernt – und dann versucht, ihn zu rappen. Wer es mit dem Rap nicht so hat, probiere es mit Simultanübersetzen.

Zur Ehrenrettung des Gerichts ist allerdings festzuhalten: Es ist der Leitsatz. Die Urteilsgründe sind völlig vernünftig geschrieben. Und für Leitsätze gelten andere Maßstäbe. Die Versuchung ist einfach zu groß, den halben Sachverhalt und zwei Drittel der tragenden Entscheidungsgründe in einen einzigen Satz zu quetschen. Für Involvierte und Fachmedien mag das in Ordnung gehen. Aber als Service für den gemeinen Leser? Naja.

Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.

Die Fundstellen zum Nachlesen:

a) BayVGH v. 17.11.2014,11 ZB 14.1755, in: NJW 2015, 1626, zitiert sind Rn. 16-18 und der Leitsatz;
b) BGH v. 19.1.2016, VI ZR 302/15, in: NJW 2016, 1584, zitiert aus Rn. 17;
c) OLG Düsseldorf v. 31. 1.1990, 5 Ss (OWi) 416/89, in: NZV 1990, 281, zitiert ist der Leitsatz.

Zitiervorschlag

Roland Schimmel, Juristische Stilblüten: Der Alltag in Gerichtssprache . In: Legal Tribune Online, 29.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20147/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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