Am 15.1.2011 erschien hier ein kleiner Text mit einer Warnung vor den Gefahren, die beim wissenschaftlichen Arbeiten von Phantombüchern ausgehen. Ob sie eine Erscheinung mit kurzer Halbwertzeit oder eher ein hartnäckiges Ärgernis sind, zeigt ein Blick auf die drei – weiland halbwegs zufällig gewählten – Beispiele, genau zwei Jahre später.
Phantombücher sind nach der damaligen Definition Bücher, die nur in den Katalogen von Bibliotheken und Buchhändlern existieren, tatsächlich aber noch nicht erschienen sind und vielleicht auch nie erscheinen werden.
Folgende drei Publikationen waren Anfang 2011 in zahlreichen Katalogen im Handel und in Bibliotheken zu finden, ohne dass jemand sie aber tatsächlich in die Hand hätte nehmen können:
1. Matt / Renzikowski, Kommentar zum StGB, 1. Auflage
Das Buch ist bis heute nicht auf dem Markt, aber im Erscheinen begriffen, zuletzt angekündigt für Januar 2013.
Bemerkenswert ist die Präzision der Angaben über das nicht existente Buch. Eine ISBN hat es schon seit Jahren; das ist kein Wunder, weil der Verlag das weit vor der Veröffentlichung bewerkstelligen kann. Einen Verkaufsrang bei Amazon gibt es auch schon längst; der geht auf die über die Jahre akkumulierten Vorbestellungen zurück. Ein Dutzend juristische Bibliotheken listen das Buch in ihren Katalogen. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat zwei Exemplare. Bestellt – wie sich bei näherem Hinsehen zeigt.
Dass der Text bereits eine geraume Weile in den Schriftenverzeichnissen der Mitautoren auftaucht und auch inhaltlich zitiert wird (z.B. 2011 bei Engländer, Die Pflicht zur Notwehrhilfe, in: Festschrift für Roxin zum 80. Geburtstag, Berlin 2011, 657 Fn. 1; schon 2009 bei Gaede, Anm. zu BGH v. 8.1.2009, 4 StR 117/08 in: HRRS 2009, 69 mit Fn.3 mit dem optimistischen Zusatz "im Erscheinen"), hat nichts zu bedeuten. Einige Verfasser sind mit ihren Kommentierungsteilen natürlich längst fertig; aber davon kommt das Buch nicht schneller auf den Markt. Gelegentlich geistern auch noch Erscheinungstermine wie "Früjahr 2009" durchs Netz.
Wenn es dieser Tage in den Handel kommt, werden die Verfasser sich erleichtert zurücklehnen. Vier oder fünf Jahre Verzögerung klingen wenig im Angesicht der Ewigkeit. Aber wer zügig studiert, hat in dieser Spanne sein Studium hinter sich gebracht (und je nach Studienordnung das Strafrecht früh "abgeschichtet") – ohne auch nur einmal in der Kommentierung geblättert zu haben. Mancher anwaltliche Vorbesteller aus dem Jahre 2009 hat es sich anders überlegt, einen der anderen StGB-Kommentare (es gibt ein knappes Dutzend) gekauft – und zwischenzeitlich schon wieder an den Stationsreferendar verschenkt.
2. Bub / Treier, Handbuch der Geschäfts- und Wohnraummiete, 4. Auflage
Auch dieses Buch ist noch immer nicht erschienen. Vielleicht ist das Projekt aufgegeben. Nach zwölf Jahren wäre zwar eine Neuauflage ohne weiteres gerechtfertigt. Schließlich liegt auch die Mietrechtsreform von 2002 schon wieder ein wenig zurück. Ob man auf Bub / Treier warten will oder notgedrungen im Alltagsgeschäft eines der konkurrierenden Mietrechtshandbücher kauft, hängt vom individuellen Leidensdruck ab. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Und Wunder gibt es immer wieder. In den 14 Jahren vor Hell freezes over hat auch niemand mehr daran geglaubt, noch einmal etwas von den Eagles zu hören (die danach übrigens nur noch 13 Jahre brauchten, um ihre nächste Platte fertigzustellen).
Der Verlag verschiebt den Erscheinungstermin routiniert mal jahres-, mal quartalsweise. Derzeit steht die Ankündigung beim 2. Quartal 2013.
3. Hirte, Der Zugang zu Rechtsquellen und Rechtsliteratur, 2. Auflage
20 Jahre nach dem Erscheinen des Buchs muss man mit Bedauern zur Kenntnis nehmen, dass es die einzige Auflage bleiben wird. Nun gut, der Hirte ist auf dem Stand von vor dem Internet; ohne eine gründliche Neubearbeitung wäre das Buch heute auch nicht mehr voll einsatztauglich. Aber es gibt ordentlichen Ersatz (beispielsweise Thomas Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten, 6. Auflage München 2012 oder Peter J. Tettinger / Thomas Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 4. Auflage, München 2009 – und als Geheimtipp Bernhard Bergmans, Juristische Informationen suchen, bewerten, beschaffen, aktualisieren, Aachen 2007).
Vorläufiges Ergebnis – und: Phantombücher 2013
Am seinerzeitigen Befund hat sich also nach zwei Jahren fast nichts geändert. Bei nur drei Buchtiteln ist dieses Ergebnis aber alles andere als repräsentativ. Damit die Datenbasis bei der nächsten Bestandsaufnahme in zwei Jahren etwas breiter ist, kommen hier vier ausgewählte weitere Phantombücher:
4. In die Reihe der Beispiele passt gut Wolfgang Naucke / Regina Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 6. Auflage München wann-auch-immer. Angekündigt war diese Neuauflage erstmals für November 2008; seinerzeit sollte sie 18 Euro kosten und etwa 200 Seiten stark sein. Mittlerweile ist der Seitenumfang auf ca. 150 geschrumpft und der Preis auf 20 Euro gestiegen. Was aber nichts zu bedeuten hat, weil das Buch gleichwohl nicht erschienen ist. Angekündigt ist es aktuell für das 2. Halbjahr 2013. Lehrbücher der Rechtsphilosophie veralten nicht von einem Tag auf den anderen; warum also nicht einfach die Vorauflage lesen? Weil sie vergriffen ist. Das ist misslich für die Studenten, die sich mit einem Alternativprodukt begnügen müssen. Vielleicht kommen ja bessere Zeiten.
5. Der Klassiker auf seinem Gebiet ist wohl immer noch Karl Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Die von Claus-Wilhelm Canaris bearbeitete 3. Auflage der Studienausgabe 1995 hat zwar einen Nachdruck erlebt (2008), aber die seit 2008 jährlich angekündigte 4. Auflage wird immer wieder verschoben, derzeit auf 2014. Wer im KVK sucht, findet gleichwohl etliche (in Wirklichkeit nur: bestellte) Exemplare.
6. Schon für 2011 angekündigt (etwa in der DNB) war auch Artur Axel Wandtke / Winfried Bullinger, Praxiskommentar zum Urheberrecht, 4. Auflage München. Der vorhergesagte Erscheinungstermin liegt jetzt im 2. Quartal 2013. Man wird sehen.
7. Sachte Resignation seitens des betreuenden Lektorats schwingt mit bei Karl August Prinz von Sachsen Gessaphe, Rechtsvergleichung, ursprünglich München 2006. Hier ist der angekündigte Erscheinungstermin mittlerweile verschoben auf 2015 (gleichwohl wirbt beck-shop.de sachte ironisch mit: Jetzt vorbestellen!). Vielleicht ist das aber auch verhaltener Optimismus: Wer als Verleger so langen Atem beweist, rechnet mit einem großen Wurf. Die Studienanfänger dieses Jahres dürfen also auf ein gründlich vorbereitetes Lehrbuch hoffen, wenn sie nach vier oder fünf Semestern Rechtsvergleichung als Wahlfach belegen.
Solche Vorlaufzeiten sind keine Ausnahme, wie das ehrgeizig auf sechs Bände angelegte Handbuch Kulturgüterschutz und Kunstrestitutionsrecht von Michael Anton zeigt. Dessen erste drei Bände sind 2010 erschienen. Für die Bände 4, 5 und 6 gab der Verfasser zuerst als Erscheinungstermin 2010 (JR 2010, 415), zuletzt noch 2011 an, der Verlag De Gruyter dagegen derzeit März 2014, Dezember 2014 und Dezember 2015. Hut ab vor so viel Präzision!
Zur Systematisierung: Ungeborene und Untote
Wenn es also doch etliche Phantombücher gibt, braucht es auch eine klare Systematik. Erster Vorschlag: Die noch nie erschienenen Bücher sollen fürderhin "libri nascituri" heißen: die Ungeborenen. Die nie mehr neu aufgelegten, die aber wegen der ständigen Ankündigungen nicht sterben können, sollen als Untote oder Zombies bezeichnet werden. Mit ln und Z stehen für die Prüfer in universitären Übungsarbeiten leicht handhabbare Korrekturbemerkungen zur Verfügung. Die sind differenzierter als der bei Theisen (Wissenschaftliches Arbeiten, 15. Auflage 2011) gewählte pauschale Begriff der "no shows".
Umgekehrt: Zeitreisende
Man findet übrigens auch das genau gegenteilige Phänomen: Bücher, die man in der Hand hält, die aber ausweislich des Erscheinungsdatums noch gar nicht existieren. Auch dafür ist eine Praxis im Verlagswesen verantwortlich, an die man sich erst einmal gewöhnen muss: Texte, die kurz vor Jahresende gedruckt und an den Buchhandel ausgeliefert werden, werden kurzerhand auf das Folgejahr datiert. Wer Anfang Dezember 2012 schon die ersten Eselsohren im auf 2013 datierten Palandt´schen Kommentar zum BGB hinterlassen hat, kennt das verwunderliche Gefühl, der Zeit voraus zu sein.
Hinter solchen kleinen Kuriositäten steht die subtile psychologische Erkenntnis, dass es im September 2013 einfacher sein wird, einen Palandt als aktuell zu verkaufen, wenn 2013 daraufsteht. Obwohl der Käufer weiß, dass er die Uhr danach stellen können wird, wenn Ende November 2013 ein weiterer Palandt erscheint – der von 2014.
Für das Bibliographieren in wissenschaftlichen Arbeiten bedeutet das aber kaum Ärger. Man erfasst die Daten des körperlich vorhandenen Buchs – und fertig.
Des Phantombuchs Kinder: Die Phantomfußnoten
Kontaminierten die Phantombücher nur die Literaturverzeichnisse wissenschaftlicher Texte, könnte man sich mit ihnen noch ganz gut abfinden. Sie hinterlassen aber ihre Spuren auch in Fußnotenapparaten, was gelegentlich ziemlich irritierend werden kann. Juristische Begründungen stützen sich nicht nur auf die Überzeugungskraft des guten Arguments, sondern fast immer auch auf die Autorität derjenigen, die den gleichen Standpunkt vertreten. Gibt es nun den als Beleg angegebenen Text gar nicht, ist der Leser unangenehm berührt aufs Selbstdenken zurückgeworfen – und hält den Falschzitierer für einen Blender.
Auch wenn man es nicht vermuten sollte: Phantomfußnoten kommen durchaus vor, manchmal sogar als ganze Zitatketten und -kaskaden.
Vielleicht doch nicht nur ein Randphänomen…?
Phantombücher mögen selten sein – aber so selten dann auch wieder nicht. Die obigen Beispiele berühren überwiegend zentrale juristische Gebiete in Praxis und Ausbildung (Mietrecht, Strafrecht) und wählen gängige Formate (Kommentar, Handbuch, Lehrbuch). Es handelt sich gerade nicht um Exoten wie beispielsweise eine Habilitationsschrift, deren Erscheinen sich über Jahre verzögert, weil der Verfasser ständig die neuesten Entwicklungen einarbeitet.
Am Ende braucht es noch eine kleine Erinnerung: Phantombücher verdanken ihre Existenz dem Zusammenwirken von Verlagen, Bibliotheken und Fachbuchautoren. Erstere kündigen neue Titel und Neuauflagen teils großzügig an (mal nur vereinzelt, mal auch mit System). Die Zweit- und Letztgenannten glauben diesen Ankündigungen trotz gegenteiliger Erfahrungen. Billigere Werbung gibt es wohl auch nicht. Zur Ehrenrettung der Fachbuchverfasser ist zu sagen: Niemand zitiert Phantombücher, um seine Leser ins Bockshorn zu jagen. Im Gegenteil versucht man den Lesern einen Gefallen zu tun, indem man schon die angekündigte Neuauflage ins Schrifttumsverzeichnis einarbeitet, im Vertrauen darauf, dass zwischen Manuskriptabschluss und Drucklegung das angekündigte Buch auch wirklich erscheinen wird. Kann klappen, muss aber nicht.
Die Empfehlung bleibt: Zitiere nur, was Du selbst in der Hand gehabt hast.
Eine Faustregel für das Bibliographieren: Wird für das Erscheinen eines Buchs nur ein Jahr oder ein Quartal angegeben, so ist ungewiss, ob und wann das Buch auf den Markt kommt. Ist die Angabe kalenderwochen- oder sogar tagesgenau, ist allenfalls mit Verspätungen zu rechnen – aber das Buch wird erscheinen. Verschiebt der Verlag den Termin jahres- oder quartalsweise, kann noch alles schiefgehen. Verschiebt er ihn nur noch monats- und wochenweise, kommt das Buch mit großer Wahrscheinlichkeit nächsthin auf den Markt.
Vertiefungsempfehlungen:
- Wer nicht glauben will, dass es unter Büchern Zeitreisende und Zombies gibt, versuche es mit Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher, München 2004.
- Lesenswert zu den Phantomfußnoten ist der Beitrag von Christoph Grube in der SZ online vom 24.11.2011 - nebst Leserkommentaren.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel lehrt Bürgerliches Recht an der FH Frankfurt am Main.
Roland Schimmel, Phantombücher revisited: Wie Datenmüll die juristische Alltagsarbeit erschwert . In: Legal Tribune Online, 15.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7964/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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