Phantombücher revisited: Wie Datenmüll die juristische Alltagsarbeit erschwert

von Prof. Dr. Roland Schimmel

15.01.2013

Zur Systematisierung: Ungeborene und Untote

Wenn es also doch etliche Phantombücher gibt, braucht es auch eine klare Systematik. Erster Vorschlag: Die noch nie erschienenen Bücher sollen fürderhin "libri nascituri" heißen: die Ungeborenen. Die nie mehr neu aufgelegten, die aber wegen der ständigen Ankündigungen nicht sterben können, sollen als Untote oder Zombies bezeichnet werden. Mit ln und Z stehen für die Prüfer in universitären Übungsarbeiten leicht handhabbare Korrekturbemerkungen zur Verfügung. Die sind differenzierter als der bei Theisen (Wissenschaftliches Arbeiten, 15. Auflage 2011) gewählte pauschale Begriff der "no shows".

Umgekehrt: Zeitreisende

Man findet übrigens auch das genau gegenteilige Phänomen: Bücher, die man in der Hand hält, die aber ausweislich des Erscheinungsdatums noch gar nicht existieren. Auch dafür ist eine Praxis im Verlagswesen verantwortlich, an die man sich erst einmal gewöhnen muss: Texte, die kurz vor Jahresende gedruckt und an den Buchhandel ausgeliefert werden, werden kurzerhand auf das Folgejahr datiert. Wer Anfang Dezember 2012 schon die ersten Eselsohren im auf 2013 datierten Palandt´schen Kommentar zum BGB hinterlassen hat, kennt das verwunderliche Gefühl, der Zeit voraus zu sein.

Hinter solchen kleinen Kuriositäten steht die subtile psychologische Erkenntnis, dass es im September 2013 einfacher sein wird, einen Palandt als aktuell zu verkaufen, wenn 2013 daraufsteht. Obwohl der Käufer weiß, dass er die Uhr danach stellen können wird, wenn Ende November 2013 ein weiterer Palandt erscheint – der von 2014.

Für das Bibliographieren in wissenschaftlichen Arbeiten bedeutet das aber kaum Ärger. Man erfasst die Daten des körperlich vorhandenen Buchs – und fertig.

Des Phantombuchs Kinder: Die Phantomfußnoten

Kontaminierten die Phantombücher nur die Literaturverzeichnisse wissenschaftlicher Texte, könnte man sich mit ihnen noch ganz gut abfinden. Sie hinterlassen aber ihre Spuren auch in Fußnotenapparaten, was gelegentlich ziemlich irritierend werden kann. Juristische Begründungen stützen sich nicht nur auf die Überzeugungskraft des guten Arguments, sondern fast immer auch auf die Autorität derjenigen, die den gleichen Standpunkt vertreten. Gibt es nun den als Beleg angegebenen Text gar nicht, ist der Leser unangenehm berührt aufs Selbstdenken zurückgeworfen – und hält den Falschzitierer für einen Blender.

Auch wenn man es nicht vermuten sollte: Phantomfußnoten kommen durchaus vor, manchmal sogar als ganze Zitatketten und -kaskaden.

Vielleicht doch nicht nur ein Randphänomen…?

Phantombücher mögen selten sein – aber so selten dann auch wieder nicht. Die obigen Beispiele berühren überwiegend zentrale juristische Gebiete in Praxis und Ausbildung (Mietrecht, Strafrecht) und wählen gängige Formate (Kommentar, Handbuch, Lehrbuch). Es handelt sich gerade nicht um Exoten wie beispielsweise eine Habilitationsschrift, deren Erscheinen sich über Jahre verzögert, weil der Verfasser ständig die neuesten Entwicklungen einarbeitet.

Am Ende braucht es noch eine kleine Erinnerung: Phantombücher verdanken ihre Existenz dem Zusammenwirken von Verlagen, Bibliotheken und Fachbuchautoren. Erstere kündigen neue Titel und Neuauflagen teils großzügig an (mal nur vereinzelt, mal auch mit System). Die Zweit- und Letztgenannten glauben diesen Ankündigungen trotz gegenteiliger Erfahrungen. Billigere Werbung gibt es wohl auch nicht. Zur Ehrenrettung der Fachbuchverfasser ist zu sagen: Niemand zitiert Phantombücher, um seine Leser ins Bockshorn zu jagen. Im Gegenteil versucht man den Lesern einen Gefallen zu tun, indem man schon die angekündigte Neuauflage ins Schrifttumsverzeichnis einarbeitet, im Vertrauen darauf, dass zwischen Manuskriptabschluss und Drucklegung das angekündigte Buch auch wirklich erscheinen wird. Kann klappen, muss aber nicht.

Die Empfehlung bleibt: Zitiere nur, was Du selbst in der Hand gehabt hast.

Eine Faustregel für das Bibliographieren: Wird für das Erscheinen eines Buchs nur ein Jahr oder ein Quartal angegeben, so ist ungewiss, ob und wann das Buch auf den Markt kommt. Ist die Angabe kalenderwochen- oder sogar tagesgenau, ist allenfalls mit Verspätungen zu rechnen – aber das Buch wird erscheinen. Verschiebt der Verlag den Termin jahres- oder quartalsweise, kann noch alles schiefgehen. Verschiebt er ihn nur noch monats- und wochenweise, kommt das Buch mit großer Wahrscheinlichkeit nächsthin auf den Markt.

Vertiefungsempfehlungen:

- Wer nicht glauben will, dass es unter Büchern Zeitreisende und Zombies gibt, versuche es mit Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher, München 2004.

- Lesenswert zu den Phantomfußnoten ist der Beitrag von Christoph Grube in der SZ online vom 24.11.2011 - nebst Leserkommentaren.

Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel lehrt Bürgerliches Recht an der FH Frankfurt am Main.

Zitiervorschlag

Roland Schimmel, Phantombücher revisited: Wie Datenmüll die juristische Alltagsarbeit erschwert . In: Legal Tribune Online, 15.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7964/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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