Zu Weihnachten wird Frieden gewünscht. Ob damit auch der Rechtsfriede gemeint ist, mag dahinstehen – die Vorstellung, dass sich Juristinnen und Juristen bei dessen Herstellung selbst im Weg stehen könnten, weckt aber Therapie-Gedanken.
Leider wird eine rhetorische Waffe, die dem rechtskundigen Publikum durch Organisationserlass der Bundeskanzlerin vom 17. Dezember 2013 in die Hand gelegt wurde, viel zu selten in eigener Sache der Amtsinhaber eingesetzt: Seinerzeit wurde das Bundesjustiz- in Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz umfirmiert.
Gemessen daran, dass in der britischen "Fabian Society" bereits vor Jahrzehnten über die gesellschaftstheoretische Rolle des Verbrauchers in einer Weise nachgedacht wurde, die zwingend dazu eingeladen hätte, ernste Fragen zu den weiterführenden Zielen des solcherart umbenannten Ministeriums zu stellen – beispielsweise, ob der Konflikt zwischen "Hersteller" und "Konsument" den Gegensatz von "Arbeit" und "Kapital" ablöse, dem wir unter anderem die Koalitionsfreiheit von Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 zu verdanken haben –, ist der "Verbraucherschutz" bloßer Marketingschmuck für die Ministerinnen und eitlen Minister geblieben, denn als etwaiger neuer Grundkonflikt der Gesellschaft diskutiert worden.
Die jedenfalls rhetorische Waffe könnte nun darin liegen, die Leistungen der Justiz und der zuständigen Minister mit den empirischen Mustern und Mitteln zu prüfen, die im Marketing der Verbraucherschutzbranche mit ihren mehr oder weniger unabhängigen Prüfinstituten üblich sind: Wird den "Verbrauchern" der "Produkte" von Justiz hinreichend verständlich gemacht, wozu sie brauchen, was sie glauben nutzen zu müssen? Haben die Justizprodukte unerwünschte Nebenwirkungen, vor denen pflichtschuldig gewarnt wurde? Oder ist gar die öffentliche oder private Gesundheit durch Justizprodukte gefährdet?
Erfolgt der empirische Test eines Justizprodukts doch einmal und wird festgestellt, dass nicht nur eine versprochene Produkteigenschaft verstörend oft fehlt, sondern mehr Schaden als Nutzen entstehen könnte, interessiert das vergleichsweise wenig – das Äquivalent zum Rückfallgeschehen im deutschen Strafvollzug könnte sich kein Kfz-Hersteller, Handwerker oder Zahnmediziner in Gestalt liegen bleibender Autos, einstürzender Neubauten oder schmerzhafter Gebisse erlauben, ohne dass besorgte Verbraucherschützerinnen erboste Presserklärungen zu derlei Missständen schrieben.
In eigener Sache sieht die Sache anders aus.
Noch ein amerikanischer "approach"? – Therapeutische Juristerei
Ungefähr zwei Schritte weiter als dieser Wunsch, sämtliche Justizprodukte der Stiftung Warentest auszuliefern, geht ein vergleichsweise neuer amerikanischer Ansatz.
Bekanntlich tut sich die deutsche Rechtswissenschaft eher schwer damit, die vor allem in den USA heranwachsenden "legal approaches" ernst zu nehmen – mal war es die (schöngeistige) Literatur mit ihren Welterkenntnissen und Interpretationskünsten ("law and literature"), mal die Soziologie, von deren Methoden und empirischen Interessen der Kernbereich der akademischen Rechtskunde Deutschland wenig wissen wollte. Einigen Erfolg hatte zuletzt nur die "economic analysis of law".
Die Gründe für die Zurückhaltung seitens der akademischen Rechtskunde liegen gewiss darin, dass die Studenten hierzulande vor allem ihre Zurichtung auf das Staatsexamen nachfragen, während die Law Schools mit einem modisch-schicken "approach" zahlende Kundschaft in die amerikanische Prärie zu locken versuchen müssen. Nicht ganz abwegig ist auch die Idee, dass die dogmatisch zubereitete Wissenschaft vom Recht als deutsche Vollwertkost nahrhaft genug sei – jedenfalls mit einigen Nahrungsergänzungsmitteln in Form von historischen oder gesellschaftlichen Grundlagenkenntnissen.
Für einen neuen "approach", der mit diesen Vorbehalten zunächst auf dem amerikanischen, dann auf dem überwiegend englischsprachigen Markt für juristische Leistungen und Denkungsarten verbreitet wird, hat sich der inzwischen emeritierte Rechtsprofessor David B. Wexler seit den 1980er Jahren stark gemacht – für eine "Therapeutic Jurisprudence".
Nach der berufsständischen Selbstbeschreibung versteht sich dieser "approach" als das "interdisziplinäre Feld einer Philosophie und Praxis", das die heilenden und heilungshinderlichen ("therapeutic and anti-therapeutic") Eigenschaften von Gesetzen und staatlichen Handlungsformen ("public policies"), von Gerichts- und Schiedsgerichtssystemen untersuchen und die Ergebnisse von justiziellen Verfahren und anderen rechtlichen Handlungsformen mit Blick auf ihren Beitrag zur psychischen Gesundheit ("psychologically healthy outcomes") würdigen möchte.
Schwierige Themen, nicht nur von der rein juristischen Seite betrachtet
Interdisziplinarität hat, wie der gewitzte Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) einmal angemerkt hat, mit der Theologie gemeinsam, dass ihre wichtigsten Aussagen im Grunde nicht geprüft werden können – was natürlich weder ausschließt, dass für Prüfungsleistungen Noten vergeben werden, noch Gelehrte daran hindert, sich in geselliger Form mit der einen oder anderen zu befassen.
Die Aufsätze, die in einem solchen interdisziplinären Rahmen als "Therapeutic Jurisprudence" verbreitet werden, haben aber jeweils schon eigenes Gewicht. Um einige Beispiele zu geben: Die New Yorker Rechtsgelehrten Heather Cucolo und Michael L. Perlin gingen 2014 der Frage nach, unter welchen rechtlichen Bedingungen, aber auch psychologisch-sozialen Vorbehalten die Beratung von und die Entscheidung über Menschen erfolgt, die sexueller Übergriffe beschuldigt sind. Perlin und die Behindertenrechtsanwältin Alison Lynch publizierten 2015 zum Einfluss von Vorurteilen und anderen Einstellungen, denen behinderte Prozessbeteiligte begegnen, auch seitens ihrer Anwälte.
Das explizite Doppelmandat der Familiengerichtsbarkeit ihres Landes, juristisch und psychologisch tragfähige Lösungen zu finden, untersuchte die neuseeländische Juristin Emily Stannard 2019.
Schnell in den Verdacht, wegen der oft rücksichtslosen Schärfe von "Rassen-" und Gender-Kontroversen etwas überkandidelt zu sein, könnte der Vorschlag von Angela Mae Kupenda und Tamara F. Lawson geraten, das Verhalten der Akteure im "Krieg" um die Besetzung akademischer Positionen nach dem Vorbild der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aufzubereiten.
Vielleicht ein Rahmen für juristische Geselligkeit mit vorsichtigem Geltungsanspruch
Systematisch betrachten zu wollen, unter welchen "gesunden" Bedingungen die Beratung durch Anwälte, die Verhandlung und Entscheidungen der Gerichte stehen, ohne dabei allein die Rechtsfrage ins Zentrum zu stellen, ist ein heikles Anliegen.
Der Umstand jedoch, dass beispielsweise das Strafrechtssystem kaum jemals grundlegend in Frage gestellt wird, obwohl es Männer und Frauen oder Angehörige der sozialen Schichten sehr ungleich betrifft und dazu beiträgt, viel Elend zu reproduzieren – von Familienangehörigen, die eine Freiheitsstrafe eines Angehörigen kaum unberührt lässt bis zur Rückfallproblematik –, sollte Juristinnen und Juristen eigentlich das Selbstbewusstsein vermitteln, dass ihnen die Gesellschaft viel erlaubt.
Neben der Frage nach der Rechtmäßigkeit auch jener nachzugehen, ob ihre "Produkte" auch "gesund" sind, sollte daher von Juristen nicht als schlichter intellektueller Übergriff einer Umwelt betrachtet werden, in der sich bereits Homöopath und Friedhofsgärtner in allzu vielen Gesundheitsthemen gute Nacht sagen.
Selbst das zuletzt genannte Beispiel, den Kampf um die Besetzung von akademischen Stellen nach dem Modell der "Wahrheits- und Versöhnungskommissionen" aufzubereiten, hat einigen Charme, sobald man den heute meist brachial verhandelten Aspekt der "Gendergerechtigkeit" einmal ausklammert – die Meritokratie, wie sie Art. 33 Abs. 2 GG verspricht, verdient mehr und andere Verfahren als nur Konkurrentenschutzklagen oder die Skandalisierung von Politikerplagiaten.
Wenn sich Flachbildschirmrückseitenberatung nicht mehr gut abrechnen lässt
Zum Interesse für eine "Therapeutic Jurisprudence" könnte schließlich beitragen, was mit dem Konkurrenzkampf um Studenten in den USA bisher noch zu jedem "approach" zählte: die Nachfrage am Markt.
Unter dem Begriff "Flachbildschirmrückseitenberatung" brachte der frühere IBM-Manager Gunter Dueck böse die Beobachtung auf den Punkt, dass gegenwärtig viele Dienstleistungsberufe durch die Leistungsfähigkeit digitaler Prozesse und Protokolle derart entkernt werden, dass im direkten Kundenkontakt kaum mehr geleistet wird als das Ablesen vorgefertigter Ergebnisse. Juristen kennen das in Gestalt von vordigitalen Musterformular-Werken spätestens seit den 1920er Jahren, sind dadurch aber nur besser trainiert, nicht schlechthin immunisiert.
Es lässt sich gut vorstellen, dass vieles von dem, was bisher – als außerhalb der Rechtsfrage liegend – an "gesunden" wie "ungesunden" Aspekten eines Vorgangs kaum interessierte, von Richtern und vor allem von Anwälten künftig stärker bearbeitet werden muss, weil sonst nur "Flachbildschirmrückseitenberatung" geleistet würde.
Der neue "approach" ließe sich nutzen, schon einmal zu schauen, auf welchen Wegen dann womöglich nach einer neuen Sorte Rechtsfrieden gesucht wird.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.
"Und Frieden auf Erden": . In: Legal Tribune Online, 26.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43802 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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