Wirtschaftskriminalität: Innovationskraft des Wirtschaftskriminellen

von Martin Rath

16.09.2012

Nicht nur als abgeschlossenes Sammelgebiet für Briefmarkensammler oder als Museum nachstalinistischer Kommunalpolitiker taugt die frühere DDR. Der Umbau der DDR-Wirtschaft nach 1990 erlaubt kriminalwissenschaftliche Grundlagenforschung – auch zu Ähnlichkeiten zwischen Verbrecher und Unternehmer. Eine Lektüre von Martin Rath.

Im Lawblog "De lege lata", einem Projekt Münchener Jurastudenten, klagte dieser Tage Roman Kaiser, Hilfskraft am Lehrstuhl von Hans-Jürgen Papier, über den Zustand der akademischen Rechtswissenschaft, die so recht keine Wissenschaft sei – so sehr, wie sie von examensrelevanter Dogmatik beherrscht wird, während schlichte Grundfragen, beispielsweise der Rechtstheorie ("Was ist Recht überhaupt?") viel zu kurz kommen.

Von empirischen Rechtswissenschaften nicht zu sprechen. Empirie begegnet den Bewohnern juristischer Fakultäten bekanntlich, wenn nicht in der Cafeteria (kaufrechtliche Grundlagenforschung) oder Raucherecke (diskriminierendes Ö-Recht), in Form kriminologischer Seminare. Die können von Strafrechtsdogmatikern im Nebenberuf betrieben werden und gelten als etwas exotisch: Da lernt man vier oder fünf Jahre seines Lebens, dass "Täter (T)" tatbestandlich ohne Zweifel getan hat, was auf dem Aufgabenblatt steht und die Tat forsch zu subsumieren ist. Dann kommt ein Gelehrter daher und erklärt, dass es sich um "Zuschreibungsprozesse", um "Labeling" handelt – die ganze schöne Subsumtion nichts weiter als ein Bekleben von Bösewichten mit strafrechtlichen Stigmata?

Kriminalwissenschaftliche Grundlagenforschung

Durch eine schöne Dissertation aus Münster, kein Justizthriller, aber allemal äußerst spannende Lektüre, erfährt man, dass die DDR gut zwanzig Jahre nach ihrem Verenden doch noch zu etwas nütze sein kann. Vorgelegt hat sie Ingo Techmeier 2011 unter dem Titel "Das Verhältnis von Kriminalität und Ökonomie. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe".

Mit dem politischen Ende der SED-Herrschaft war das sogenannte Volkseigentum in marktfähigere Besitzverhältnisse zu überführen. Im Vollzug dieser Aufgabe, mit der die Treuhandanstalt (kurz: THA) beauftragt wurde, taten sich juristische Abgründe auf. Techmeier hat mit zahlreichen damals beteiligten Unternehmern, Treuhandmitarbeitern, Polizisten/Staatsanwälten und – was sich als weniger fruchtbar erwies – Gewerkschaftsleuten gesprochen, systematisch Interviews erhoben und diese im Rahmen einer qualitativen rechtsempirischen Untersuchung ausgewertet.

Die Vorgänge in der THA-Niederlassung Halle illustrieren, was vielerorts in den wilden Jahren nach 1990 im Gebiet der früheren DDR vorging. Es bildete sich ein Netzwerk aus Treuhandleuten und Unternehmern aus dem Schwäbischen, die teils schon die Aufmerksamkeit der Stuttgarter Staatsanwaltschaft geweckt hatten. Ehemals volkseigene Betriebe wechselten den Eigentümer, Vermögensbestandteile wurden mit der Absicht entnommen, entweder das Unternehmen in der schwäbischen Heimat zu sanieren oder weitere ehemals volkseigene Betriebe zu akquirieren.

Techmeier stellt heraus, dass das nicht die nackte Gier war, wie es die vulgäre Kapitalismuskritik wissen will: Einer seiner damals beteiligten Informanten berichtete von einem Grundstücksgeschäft, das die THA-Niederlassung Halle abzuwickeln versuchte. Mindestens fünf Gutachten seien zu der Immobilie erstellt worden – mit erstaunlichen Unterschieden, was den Wert betrifft. Zwischen 2,6 und 13 Millionen Mark gaben die Gutachter an. Der gut vernetzte Kaufinteressent bot zwei Millionen, ein weniger gut vernetzter acht Millionen Mark.

DDR ohne Bilanzehrlichkeit, unbritische Eile

Der Wert eines Staates, seiner Volkswirtschaft samt ihrer kompletten Inneneinrichtung lässt sich unter den Bedingungen einer halbwegs funktionsfähigen Markt- und Geldwirtschaft nach Prinzipien beurteilen, die zuerst von italienischen Moraltheologen und Kaufleuten aufgeschrieben wurden und sich heute in §§ 252 ff. Handelsgesetzbuch (HGB) finden: Bewertungsehrlichkeit, Bewertung von Vermögensgegenständen höchstens zu Marktpreisen, eher vorsichtiger – alle kaufmännischen Grundsätze waren in der Planwirtschaft, teils auf ideologischen, teils aus pragmatischen Gründen über Bord gegangen. Wie sollte etwa der Betriebsleiter einer DDR-Waschmittelfabrik seine aus den 1920er-Jahren stammenden Fertigungsanlagen bewerten, die in der Mangelwirtschaft "noch gut" waren und ihren Dienst taten, deren Waschmittelausstoß aber von jeder westdeutschen Chemieanlage im Handumdrehen mit erledigt werden konnte?

Die Consultants, Berater, Treuhandleute, Unternehmer, die nun die "Schätze" des ehemaligen Volkseigentums zu bewerten hatten, griffen in ihrem Werturteil nicht allein aus Glücksrittertum daneben.

Hinzu kam, von Techmeier als wesentlicher "kriminogener" Faktor herausgestellt, die ungeheure Eile, mit der die Treuhänder das "Volkseigentum" zu privatisieren hatten. Sir Alan Walters (1926-2009), der als wirtschaftspolitischer Berater von Margaret Thatcher die Privatisierung der britischen Staatsbetriebe in den 1980er-Jahren begleitet hatte, bezeichnete es als "absurd", eine kommunistische Staatswirtschaft "binnen 500 Tagen" zu privatisieren, weil noch "500 Wochen" optimistisch bemessen seien. Der gesetzliche Auftrag an die THA ging auf knappe fünf Jahre.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Wirtschaftskriminalität: Innovationskraft des Wirtschaftskriminellen . In: Legal Tribune Online, 16.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7085/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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