Der Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Ignaz Jastrow gehörte vor 100 Jahren zu den innovativen Köpfen beider Fächer. Er bereitete die moderne Arbeitsmarktgestaltung vor und kritisierte früh Formverluste in der Gesetzgebung.
Wann Kriege beginnen und wann sie enden, ist oft nur noch schlecht zu bestimmen. Nicht selten beginnen sie heute mit irregulären Angriffen, die terroristischen Anschlägen gleichen, oder werden lange Zeit, wenn nicht überhaupt mit propagandistischen oder ökonomischen Mitteln geführt. Eine juristische Form wird häufig gemieden.
Damit wirkt beinahe exotisch, was der in Berlin lehrende Historiker, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler Ignaz Jastrow (1856–1937) über den Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 festhielt.
Auf der berühmten Berliner Boulevard Unter den Linden spielte sich nach seinen Beobachtungen am 31. Juli 1914 folgende Szene ab:
"Unmittelbar nach Erlaß der Kaiserlichen Verordnung über Erklärung des Kriegszustands erschien am Freitag nachmittag 5 Uhr vor dem Palais des alten Kaisers ein Wachkommando des Garde-Grenadier-Regiments Kaiser Alexander. Am Denkmal Friedrichs des Großen Aufstellung nehmend, ließ der führende Oberleutnant seine vier Tambours einen Wirbel schlagen und verlas eine Bekanntmachung, beginnend mit den Worten: 'Durch Allerhöchste Verordnung ist für Berlin und die Provinz Brandenburg der Kriegszustand erklärt.'"
Jastrow kommentierte das ein bisschen pathetisch oder ein bisschen ironisch, vielleicht auch beides zugleich: "Damit war der Vorschrift des immer noch gültigen altpreußischen Gesetzes Genüge getan, wonach die Erklärung des Belagerungszustandes 'bei Trommelschlag oder Trompetenschall zu verkünden ist.'"
Nach § 3 Absatz 1 des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 war der Bevölkerung tatsächlich mit diesem feierlichen Krach uniformierter Musiker anzukündigen, dass die zivile Verwaltung nunmehr unter dem Vorbehalt der Kriegsbedürfnisse stand, ihre Einrichtungen jederzeit ganz oder teilweise unter die Leitung der militärischen Befehlshaber gestellt werden konnten.
Die Soldaten zogen also nicht ohne rechtlichen Grund vor dem Gebäude Unter den Linden 9 auf, es galt eine gesetzliche Regelung zu befolgen.
Staat und Verwaltung beim Beginn des Krieges
In seinem bereits im Herbst 1914 publizierten Buch "Im Kriegszustand. Die Umformung des öffentlichen Lebens in der ersten Kriegswoche" hielt Ignaz Jastrow auch einige sehr markante Eindrücke aus dem bürgerlichen Leben fest – etwa von den Zuständen im D-Zug aus Königsberg, der mit zweistündiger Verspätung in Berlin ankam, überfüllt mit Ferienreisenden von der Ostsee und anderen Fahrgästen, die im Sommer 1914 aus Ostpreußen aufbrachen, weil man die Invasion russischer Truppen befürchtete.
Vor allem aber beschrieb Jastrow ausführlich, wofür er seinerzeit in der deutschen Staatswissenschaft – dieser noch nicht ganz getrennten Mischung aus Rechts- und Wirtschaftswissenschaften – sehr bekannt war: die Praxis der Staatsverwaltung.
Diese stellte sich mit Kriegsbeginn auf die neuen Verhältnisse um. Jastrow erklärt, warum etwa die Mobilmachung des militärischen Personals deutlich weniger Reibungen verursachte als im letzten größeren Krieg, 1870/71, aber auch, wie das moderne Massenmedium der Presse wirkte – sie verbreitete etwa die Meldung von empörten Berlinern, die die Abreise der britischen Diplomaten behindert hatten. Ihre Aufregung sei noch gestiegen, weil Angehörige der Botschaft Geldmünzen in der Hoffnung auf die Straße geworfen hatten, das Volk würde sich zerstreuen und ihre Automobile durchlassen. Die Polizei sorgte schließlich für die geordnete Fahrt.
Mit zartem Spott merkt Jastrow an, überall im Land seien den Polizeibehörden "Verdächtige" angezeigt worden, wobei die hysterische Vorstellung populär war, ausländische Spione tarnten sich ausgerechnet dadurch, dass sie ihren Untaten in Frauenkleidung nachgingen.
In sachlicher Hinsicht erläuterte Jastrow jedoch, was in den Zweigen der öffentlichen Gewalt mit Kriegsbeginn umzusetzen war. So stand beispielsweise die Justiz vor dem Problem, dass viele Schuldner nun zum Militärdienst einberufen wurden, im Strafvollzug war – mit Beginn der Erntezeit – über vorzeitige Entlassungen zu entscheiden, weil in der Landwirtschaft die Arbeitskräfte benötigt wurden.
Wenige Wochen nach Kriegsbeginn stellte Jastrow auch schon im Detail dar, wie der steigende Kreditbedarf der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft bedient wurde, etwa in Gestalt von "Kriegskreditbanken". Eine markante, für sich selbst sprechende Zahl: Nach der ersten Kriegswoche hatte die Reichsbank Handelswechsel im Wert von 3,75 Milliarden Mark "aufgekauft", also rediskontiert – bis dahin waren es nur zwei Milliarden Mark gewesen.
In späteren Studien sollte sich der juristisch wie ökonomisch gebildete Professor Jastrow auch mit der Frage beschäftigen, welche Folgen die extrem ausgeweitete staatliche Verschuldung für das Volksvermögen haben sollte – beginnend mit dem durchaus schwierigen, für die damalige Wirtschaftswissenschaft noch recht neuen Problem, wie sich "Volksvermögen" überhaupt sinnvoll beziffern lassen sollte.
Ein Gelehrter aus der großen Zeit der deutschen Wissenschaften
Im Vergleich mit vielen publizistischen Einlassungen deutscher Akademiker am Beginn des Ersten Weltkriegs ist Jastrows gut 200 Seiten umfassendes Werk ausgesprochen nüchtern, ja leicht ironisch distanziert und melancholisch gehalten.
Gewöhnlich war das nicht. Denn bald schon sollten sich viele deutsche Professoren, die zwar fachlich ungeheuer gebildet, politisch aber recht blauäugig waren, vor allem über die massive, massenmedial weit überlegene britische Kriegspropaganda empören und dabei lernen, sich in erster Linie als treuherzige, missverstandene Opfer zu verstehen.
Im akademischen Betrieb von Berlin zählte der 1856 im westpreußischen Städtchen Nakel (heute Nakło nad Notecią) als Sohn eines jüdischen Getreidehändlers geborene Ignaz Jastrow nicht nur wegen seiner Herkunft zu jenen Köpfen, die eine Außenseiter-Perspektive behalten, ob sie wollen oder nicht.
Bis zum Ende der Monarchie im November 1918 hatten jüdische Akademiker an preußischen Universitäten keine Aussicht auf eine ordentliche Professur. Jastrow habilitierte sich zwar an der heute als Humboldt-Universität firmierenden Hochschule, unterrichtete aber – wie viele berühmte Gelehrte seiner Zeit – an der Handelshochschule Berlin, die im Jahr 1906 von der Berliner Kaufmannschaft unter Mitwirkung Jastrows gegründet wurde. Zu ihren bekannten Köpfen gehörte etwa Hugo Preuß (1860–1925), führender Autor der Weimarer Reichsverfassung von 1919, oder der in jüngerer Zeit wieder etwas zur Kenntnis kommende Nationalökonom Moritz Julius Bonn (1873–1965).
Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Frieda Wunderlich (1884–1965), eine Schülerin von Ignaz Jastrow, führte in einem biografischen Artikel aus dem Jahr 1930 seine beachtlichen wissenschaftlichen Leistungen auf – heute wären sie wohl Stoff für gleich mehrere Sonderforschungsbereiche:
Auf rechtswissenschaftlichem und -politischem Gebiet hatte sich Jastrow für kollektive Arbeitsverträge – heute spricht man von Tarifverträgen – als Mittel der Verhütung von Arbeitskämpfen eingesetzt. Als liberaler Theoretiker fand er dabei, seinerzeit ganz ungewöhnlich, auch in Publikationen Gehör, die von Arbeitgeberseite getragen wurden. Gewerkschaften bezeichnete er – ganz gegen die klassenkämpferische Rhetorik auch der "Kapital"-Seite – als eine Voraussetzung für den sozialen Frieden.
Zu den großen Leistungen Jastrows zählte, die Konjunkturberichterstattung auf dem Gebiet des Arbeitsmarkts entwickelt zu haben, die wissenschaftliche Durchdringung der sogenannten Arbeitsnachweise – also der Angebots- und Nachfragesituation am Arbeitsmarkt, die erst seit den 1920er Jahren, nicht zuletzt aufgrund seiner Vorarbeiten, von den Arbeitsämtern geleistet wird.
Von der Steuererklärung bis zur Rezension des Reichsgesetzblatts
Unter den Veröffentlichungen von Ignaz Jastrow finden sich viele praktische Schriften, beispielsweise eine Anleitung zur Einkommensteuer in Preußen aus dem Jahr 1891.
Nicht nur die Tarife wirken auf heutige Steuerpflichtige rührend – wer z. B. ein Jahreseinkommen zwischen 900 und 1.050 Mark bezog, hatte sechs Mark davon abzuführen. Auch Jastrows Erläuterungen dazu, wann etwas als Betriebskosten zu würdigen sei – galt das etwa auch, wenn ein Kaufmann bei einer privaten Reise eine Chance sah, ein gutes Geschäft zu machen? – stammen aus einer Zeit, als der Staat die recht neue Steuer erst zu etablieren begann. Entsprechend musste man sich an zaghafte Finanzämter noch gewöhnen:
“Bisher fing bei jeder Einschätzung die Behörde an; und wenn sie fertig war, dann konnte hinterher der Bürger kommen, darüber jammern, daß er zu hoch veranlagt sei, und endlich mit vieler Mühe durchsetzen, daß man ihn anhörte und gerecht veranlagte. Dies war ein sehr langwieriger Weg. Darum soll jetzt bei dem Einschätzungsgeschäft der Bürger anfangen, und die Behörde soll erst hinterher kommen. Der Bürger soll selbst erklären auf Ehre und Gewissen, wie groß sein Einkommen ist; das Schriftstück, in dem er diese Erklärung abgiebt, heißt 'Steuererklärung'.”
Neuland betrat Ignaz Jastrow auch 1925 mit einem Aufsatz in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, die damals noch rechtswissenschaftliche Themen behandelte, erst später zum VWL-Magazin wurde.
Auf nicht weniger als 75 Seiten machte Jastrow "Das Reichsgesetzblatt" zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Rezension – das hatte es bislang noch nicht gegeben. Dabei behandelte er unter anderem die Frage, wie es überhaupt dazu kam, dass – zunächst im revolutionären Frankreich, dann aber bald auch in Preußen – damit begonnen wurde, Gesetze systematisch zu publizieren, Glanz und Abgrund moderner Staatlichkeit zugleich. Selbst so alte Bürokratien wie die britische Krone und ihr Parlament kannten derlei lange Zeit gar nicht.
Eine ausführliche Betrachtung erfährt die fragwürdige Behandlung von Druckfehlern oder anderen Fehlerformen, die in der Forderung gipfelt, das Reichsgesetzblatt müsse fehlerfrei sein.
Scharf kritisierte Jastrow die zwei Jahre zuvor etablierte Regelung, dass die Notverordnungen des Reichspräsidenten "auch in anderer Weise" als im Gesetzblatt "verkündet werden können", wie es durch Gesetz vom 13. Oktober 1923 eingeführt worden war. Gebrauch machte Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD, 1871–1925) davon etwa in seiner Notverordnung vom 25. Oktober 1924 zur Änderung von Regelungen des militärischen Ausnahmezustands und zur Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen. Sie war zunächst durch Übergabe an Wolffs Telegraphenbüro – also über die führende deutsche Nachrichtenagentur – verkündet und nur noch zu Dokumentationszwecken ins Gesetzblatt aufgenommen worden.
Jastrow befürchtete, dass damit noch nicht einmal mehr die Schriftlichkeit von Regelungen gewährleistet sei, bildlich gesprochen: Der Befehl des Königs, einen Untertan zu hängen, könnte mit dem Strick verkündet werden.
Notizen zum Nachleben
Ignaz Jastrow starb 1937, erlebte also noch mit, wie die Entgrenzung und Entfesselung der Staatsgewalt aus ihren etablierten liberalen Formen eskalierte – auch in Gestalt obskurer, bestenfalls nachträglich formalisierter "Führerbefehle" oder per Akklamation bei Gelegenheit eines Parteitags beschlossener Gesetze.
Seiner Witwe Anna (1858–1943) und den Töchtern, der Archäologin Elisabeth Jastrow (1890–1981) und der Gartenpädagogin Beate Hahn (1894–1970), gelang rechtzeitig die Flucht in die USA.
Im Erbrecht versierte Juristinnen und Juristen kennen, als Baustein zum "Berliner Testament", die Jastrow’sche Klausel zur Reduktion von Pflichtteilsansprüchen: Hermann Jastrow (1849–1916), Bruder von Ignaz Jastrow, zählte zu den seinerzeit bekanntesten deutschen Publizisten auf dem Gebiet des Notariatsrechts und der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
Historiker, Sozialpolitiker und Jurist Ignaz Jastrow: . In: Legal Tribune Online, 16.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56801 (abgerufen am: 19.04.2025 )
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