Der "Vater des Völkerrechts" war ein Wunderkind der Rechtsgeschichte, mit elf Jahren an der Universität Leiden zugelassen, als 15-Jähriger bereits Doktor der Rechte, seinerzeit gerühmt auch als Dichter. Martin Rath über Hugo Grotius, geboren am 10. April 1583 in Delft. Und darüber, was es helfen würde, wenn Andreas Voßkuhle die Schönheit der Uckermark besänge.
Ein Wunderkind zu sein, das taugt ja nicht mehr viel. Würde man die Mütter einer durchschnittlichen Kita-Gruppe zur Geistesgröße ihrer Zwerge befragen, käme heraus, dass elf von zehn Kindern hochbegabt sind – was ja nur hoffen ließe, dass mathematische Fertigkeiten nicht erblich sind.
Bei Hugo Grotius darf man sich, bezeugt von Generationen Völkerrechtsprofessoren, sicher sein, dass sein Wunderkind-Wesen nicht allein der Phantasie stolzer Eltern entsprang: Der achtjährige Hugo de Groot war bereits in lateinischer Dichtung geübt – was man überhaupt stärker beachten sollte. Mit elf Jahren ließ ihn die Universität Leiden zu, vier Jahre später war der junge Mann bereits in diplomatischen Diensten unterwegs. Promoviert mit 15 Jahren in Orléans.
Mit 26 publizierte Grotius "De Mare liberum", von der Freiheit des Meeres, Rechtsgutachten und Kampfschrift für niederländische Handelsinteressen zugleich, die im Wettstreit mit den portugiesischen und spanischen Weltherrschaftsplänen standen. Zum "Vater" oder "Begründer des Völkerrechts" erklärte ihn die juristische Zunft aufgrund seines 1625 veröffentlichten Werks "De jure belli ac pacis" ("Über das Recht des Krieges und des Friedens").
Nebenher entstanden 25.000 Zeilen Dichtung in lateinischer Sprache, gut die Hälfte davon zwischen 1600 und 1604.
"Vater des Völkerrechts" – die Geburtsumstände
Über Vaterschaftsfragen lässt sich streiten, auch im Fall Hugo de Groot. War er der "Vater des Völkerrechts"? Die Lage, grob skizziert: Am 7. Juni 1494, also zwei Jahre nach der sogenannten "Entdeckung Amerikas", schlossen die beiden führenden Seemächte, Portugal und Spanien, den Vertrag von Tordesillas, der – später durch weitere Verträge ergänzt – nichts weniger zu klären beanspruchte als die Herrschaft über alle überseeischen Länder der Welt. Betrieben und abgesegnet wurde der Vorgang auch von Papst Alexander VI., kein Wunder unter katholischen Großmächten.
Seit 1517 zerfiel die vermeintliche Einheit des Abendlandes, der Doctor Martinus Luther begann zu Wittenberg mit seinem Reformvorhaben, das in konfessioneller Zersplitterung endete. In Konkurrenz zum spanisch-portugiesischen Weltherrschaftsduopol mit katholischem Segen traten die zumeist protestantischen Niederländer und Engländer an.
Streiten sich religiöse Fundamentalisten und sind die Gegenstände ihres Streits ökonomisch extrem interessante Gegenstände, hilft ein konfessionell neutrales Regelwerk – es bestand Bedarf an dem, was heute Völkerrecht genannt wird und sich zu guten Teilen mit dem sogenannten Naturrecht überschnitt.
Beispiel: Freiheit der Meere, eine List Gottes
"Jedes Volk kann ein anderes aufsuchen und mit ihm Handel treiben." So heißt es in Hugo Grotius 1609 publiziertem Werk "De Mare librum". Begründet wird der normative Satz mit einem trickreichen Schöpfergott: Gott habe die Naturschätze der Welt so ungleich verteilt, weil er wollte, dass "der Mangel hier und die Fülle da die Menschen freundschaftlich zusammenführe, damit sie nicht glaubten, jeder könne sich selbst genügen und sie ungesellig würden".
Ein Wort des antiken-römischen Historikers Plinius – als vorchristlicher Heide für Humanisten beider Konfessionen zitierfähig – stützt dann Grotius' Behauptung, dass diese Ordnung göttlich sei. Es folgen Zitate aus dem römischen Recht, die belegen, dass schon die antiken Juristen beispielsweise Bauwerke für unzulässig hielten, mit denen Wasserverkehrswege beschränkt würden. Als fundamentale Aussage steht fest: Das Meer ist eine "res extra commercium", eine Sache, an der wirksam kein Eigentum begründet werden kann.
Der nächste Gedankenschritt Grotius': Die Aufteilung der Welt zwischen Spaniern und Portugiesen, die Aufteilung der Weltmeere, kann auch deshalb keine natur- und völkerrechtliche Geltung beanspruchen, soweit sie als Schenkung durch Papst Alexander VI. verstanden wird: Eine res extra commercium kann niemand verschenken.
2/2 Gewürznelken und monopolistische Marktteilnehmer
Doch stand der junge holländische Jurist protestantischer Konfession nicht nur im Widerspruch zum imperial-papistischen Anspruch. Seit dem Jahr 1600 machte sich die niederländische "Vereenigde Oostindische Compagnie", eine Mischung aus Handelsgesellschaft und bewaffnetem Mafiawachdienst, das heutige Indonesien untertan. Unter anderem war das Monopol auf Gewürznelken reizvoll – damals neben der Zange ziemlich das einzige Mittel gegen Zahnschmerz.
Ihr ostindisches Gewürzmonopol sicherten die Niederländer teils mörderisch: Kleine Völker ertranken im Blut. Konkurrierende Anpflanzungen wurden verwüstet. Die Lebenserwartung eines Plantagenarbeiters im "Niederländisch Indien" lag noch im 20. Jahrhundert unter der von niederländischen Internierten in den Gefangenenlagern, als die Japaner die Kolonie während des Zweiten Weltkriegs besetzten.
Keine Rede war für die niederländischen Kolonialherren in "Ostindien" davon, dass "jedes Volk" nur ins Schiff steigen brauchte, um den geknechteten Pfeffer-, Zimt- und Gewürznelken-Bauern bessere Konditionen anzubieten. Aber das spricht, bis heute, weniger gegen Grotius als gegen die Machtpraxis der Staaten und monopolistischer Marktteilnehmer.
Einflussreicher Denker des Naturrechts
Für das Kriegsvölkerrecht formulierte Grotius Grundsätze, die in den routinierten Kriegen des 18. und 19. Jahrhunderts Einfluss hatten: Krieg wird gedacht als Nothilfe der Staaten, die in Abwesenheit eines neutralen Richters ihre rechtlich definierbaren Ansprüche durchzusetzen versuchen. Ihnen kann, nach Grotius, zwar aus logischen Gründen nicht zugebilligt werden, dass sie beide einen "gerechten Krieg" führen, wohl aber, dass sie jeweils in gutem Glauben sind, dies zu tun. Bis spätestens im Ersten Weltkrieg wieder ganze Völker ökonomisch und ideologisch mobil gemacht wurden – und der Feind auch "moralisch" ein Unhold zu sein hatte –, trug das zur Eingrenzung von Kriegen bei.
Noch zwischen den Kriegsparteien bleibt, nach Grotius, ein Band von Rechtstreue bestehen, was einen gemeinsamen Rechtsraum offen hält. Grotius beruft sich auf den Kirchenvater Augustinus (354-430): "Denn die Treue, wenn sie versprochen wird, ist auch gegenüber dem Feind, gegen den Krieg geführt wird, zu halten." – Fehlt sie, können aus Kontrahenten rechtlose Feinde werden, es bleibt ein rein taktisches Macht- und Gewaltspiel, wie zwischen der koreanischen Familie Kim und dem Rest der Welt.
Im Zivilrecht wirkt Hugo Grotius ebenfalls nach. Ihm wird eine Stärkung des Treuegedankens zugeschrieben: Ein Vertrag verliert nicht an Gültigkeit, weil man eine stillschweigende Bedingung annehmen kann, dass "die Verhältnisse so bleiben, wie sie jetzt sind". Auch das wirkt gegen taktische Machtspiele.
Nicht furchtbar originell?
Manche juristische Frage hatten schon spanische und portugiesische Theologen und Juristen beantwortet: Ist es beispielsweise dem christlicher Seefahrer erlaubt, den heidnischen Indern oder Indianern ihr Hab und Gut zu nehmen, weil diese moralisch diskriminiert werden dürfen? Für das hinduistische und muslimische Indien heißt es bei Grotius: "Die Inder hatten aber, als die Portugiesen zu ihnen kamen, obwohl sie zum Teil Götzendiener, zum Teil Mohammedaner waren und in schwere Sündenschuld verfallen waren, doch öffentliches und Privatrecht über Hab und Gut, das ihnen ohne gerechten Grund nicht genommen werden konnte."
Diese Antwort ist mit der spanischen Lösung, zwei, drei Generationen vor Hugo Grotius entwickelt, identisch. Wenn Grotius aber nicht so furchtbar originell war, warum wurde er dann 300 Jahre lang zum "Vater des Völkerrechts" verklärt?
Ein Grund: Unter spanischen Juristen und Theologen dieser Zeit kann man sich wohl nur finstere Folterknechte vorstellen, die Raub, Unterdrückung und Mord an den "edlen Wilden" segneten. Man weiß, dass zum Beispiel Moctezuma II., der letzte Herrscher des alten Mexiko, 1520 von den Spaniern getötet wurde. Eher unbekannt ist, dass seine Familie erst im 19. Jahrhundert ausstarb – als spanisch-mexikanisches Adelsgeschlecht der Grafen von Montezuma.
Der holländische Jurist – berühmt dank Entertainment?
Eine andere Erklärung für Hugo Grotius' frühe Prominenz könnte in seinen Entertainer-Qualitäten liegen: 25.000 Gedichtzeilen, mehr als die Hälfte hat er vor seiner eigentlich juristischen Karriere geschrieben. Es sind lange Gedichte, beispielsweise 615 Zeilen zur Krönung von Jakob I., dem Nachfolger von Elizabeth I., Königin von England. Ein prachtvolles Lobgedicht auf die britischen Inseln, ihre Herrscher ins mythologische Bild setzend. Schwerer Schwulst, viele tausend Zeilen.
Mit dem einflussreichen niederländischen Dichterfürsten Pieter Corneliszoon Hooft (1581-1647) tauschte Grotius poetologische Briefe, in einem schmachtvollen Tonfall, den sich heute selbst Männer nicht schreiben, die danach "verpartnert" werden.
In der monarchisch-höfischen Gesellschaft war solche Dichtkunst eine starke Größe neben der Juristensprache. Uns käme es absurd vor, hätte Andreas Voßkuhle sein aktuelles Amt durch einen Youtube-Lobgesang auf die Schönheit der Uckermark erhalten. Ein Zeitreisender aus Grotius' Epoche fände das hingegen völlig normal.
Zum 430. Geburtstag von Hugo Grotius können sich Juristen also merken: Neben dem elenden dogmatisch-positivistischen Alltagsgeschäft immer auch an die schönen Künste denken!
Martin Rath, Rechtsgeschichten: Hugo Grotius – Wunderkindgeburtstag . In: Legal Tribune Online, 07.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8469/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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