Historische Jura-Fachzeitschriften: Kolumne für kuriose Wel­t­an­schau­ungen

von Martin Rath

29.05.2016

2/2: Prügelnder Amtsrichter selbstredend im Recht

Die daran anschließenden juristischen Erörterungen von Amtsrichter Kulemann zur Frage, ob seine Stockhiebe auf fremder Leute Kinder repressiven oder präventiven Charakters gewesen seien, enthalten natürlich kaum zukunftsweisende Erkenntnisse, abgesehen vielleicht vom Erfahrungssatz, dass auch heute ein gequälter Pudel vermutlich mehr Mitleid erregt als ein verprügeltes 7- bis 12-jähriges Kind männlichen Geschlechts. Immerhin wurde das sogenannte Züchtigungsrecht in Deutschland im Lauf der 1970er Jahre aufgehoben, 1983 sogar in Bayern.

Mit seiner emotional-pathetischen Behandlung des "Notrechts" im Rahmen eines rechtswissenschaftlichen Aufsatzes war Kulemann freilich stilbildend: "(M)uß ich wirklich unthätig zusehen, wie rohe Buben ein wehrloses Tier zu Tode peinigen? und bin ich wirklich dem Strafrichter verfallen, wenn ich in gerechter Aufwallung meines menschlichen Gefühls durch eine tüchtige Tracht Prügel ihr eigenes Beste gefördert habe?"

Gut zwanzig Jahre später wird dieser Tonfall in juristischen Zeitschriften aus Deutschland zum Regelfall: Nach Beginn des Ersten Weltkriegs wird der Angriff auf Belgien zum Fall der Notwehr, die Annexionspläne zum Gegenstand legitimer Züchtigungsvorgänge verklärt.

Gewalt als staatliche Erziehungsmaßnahme

Doch darüber hinaus: In dem großen Krieg 1914–1918, in den Väter aus der Generation des Amtsrichters Kulemann ihre Söhne schickten, dienten die von ihren Lehrern und Eltern mit Prügel dressierten Arbeitersöhne unter dem Befehl von adeligen Offizieren, denen beim Eintritt ins Kadetteninternat – im Grundschulalter – einst gewohnheitsmäßig und vor der Zeit alle verbleibenden Milchzähne herausgerissen worden waren.

Ein Amtsrichter, der kleine Jungen auf offener Straße verprügelt, bekäme heute – vielleicht – keine gute Presse. Aber das Bild vom Mann, der sich nur durch Gewalt in gesellschaftlich gewünschte Bahnen lenken lässt, scheint bis heute auch rechtspolitisch virulent zu sein. Das zeigte sich in der lange Jahre gepflegten Empörung darüber, dass die einfache Körperverletzung bis 1994 milder bestraft wurde als der einfache Diebstahl und heute möglicherweise darin, dass selbst in der sogenannten Reform der Tötungsdelikte von der absoluten Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht beherzt Abstand genommen wird.

Gendermainstreaming auf Ungarisch

Ein letzter Beleg für die zukunftsweisenden Einsichten, die in 125 Jahre altem juristischem Schriftgut verborgen liegen, mag die Beinah-Entdeckung des Gendermainstreamings dienen, die der ungarische Professor B. Földes unter dem Titel "Einige Ergebnisse der neueren Kriminalstatistik" machte:

"Das Weib ist weniger ausgesetzt den Veranlassungen zu Körperverletzung, welche gelegentlich verschiedener Zusammenkünfte (Wirtshaus, Wahlversammlungen usw.) erfolgen. Es ist also fast nur die Gruppe der Vermögensverbrechen, in welcher die Einflüsse auf beide Geschlechter sich gleichmäßiger verhalten, freilich auch hier nicht ganz gleich. Abgesehen davon aber, daß die Veranlassung zu Verbrechen nicht bei beiden Geschlechtern gleich ist, kommen noch andere Momente in Betracht. Was vor allem die Verfolgung der von Personen weiblichen Geschlechts begangenen Verbrechen betrifft, so ist es gewiß, daß von denselben weniger zur gerichtlichen Verfolgung kommen, teils weil dieselben im engen Kreise der Familie begangen werden […]. Ein weiterer Umstand ist der, daß das Weib seine körperliche Schwäche bei der Ausführung von Verbrechen mit größerem Raffinement einsetzen muß und daher die begangenen Verbrechen schwerer zu entdecken sein werden."

Professor Földes könnte heute einen amüsanten Lehrstuhlinhaber für Gleichstellungsrechtsfragen abgeben.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs

Zitiervorschlag

Martin Rath, Historische Jura-Fachzeitschriften: Kolumne für kuriose Weltanschauungen . In: Legal Tribune Online, 29.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19477/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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