Historische Prozesse: Als Schwören noch geholfen hätte

von Martin Rath

26.12.2015

2/2: Wenn der Zar stirbt, könnte es etwas werden

Über einen echten Attentatsversuch mochten die meisten der Dekabristen nicht nachdenken, zu einem reifen Staatsstreich oder Putsch fehlte auch der Antrieb, hatten diverse Palastrevolten innerhalb der Zarenfamilie bisher doch stets nur einen jeweils neuen Alleinherrscher hervorgebracht.

Dass auch der Liberalismus zu einer terroristischen Angelegenheit werden konnte, bewies in jenen Jahren beispielsweise der deutsche Student Karl Ludwig Sand (1795-1820), der 1819 den harmlosen Seifenoper-Bühnenschriftsteller August von Kotzebue ermordet hatte, wegen dessen Nebenerwerb als russischer Konsul. Das liberale Deutschland erklärte den mörderischen Studenten nach seiner Hinrichtung zum Märtyrer und erging sich in einer derart vor Kitsch triefenden Verehrung, dass religiöse Mordgesellen sich neidisch die Bärte raufen müssten, wüssten sie um die deutsche Verfassungsgeschichte. Terrorismus im Namen von Liberalismus und Nation war also durchaus in Mode.

Der Plan der Dekabristen, wie Russland zu einer Verfassung kommen könne, mutet indes nicht weniger schrullig an als die Motive des Kotzebue-Mörders: Sobald ein neuer Zar vor dem Amtsantritt stünde, würde man ihm den Eid verweigern, bis der Thronfolger sich bereitfände, dem Zarenreich eine Verfassung zu geben.

Man hoffte, bis dahin noch viel Zeit zu haben, Zar Alexander war zum Zeitpunkt der ersten konspirativen Treffen ein Mann in den Dreißigern. Doch starb der Fürst im Jahr 1825 gerade einmal 47-jährig eines natürlichen Todes.

So ging die Organisation der Eidverweigerung am 26. Dezember 1825, gedacht als Ausgangspunkt einer modernen russischen Verfassungsentwicklung nach liberalem europäischen und US-amerikanischen Vorbild, gründlich zugrunde. Der neue Zar, Nikolaus I., Bruder Alexanders I., konnte sich sogar persönlich mit seinen Truppen den aufständischen Offizieren und den rund 3.000 Soldaten entgegenstellen, ohne dass auf ihn geschossen worden wäre – wiewohl er in vorderster Front ritt.

Hierzulande wird manchmal die Lenin-Phrase zitiert, dass der Deutsche, wenn er zu Revolutionszwecken einen Bahnhof stürmen wolle, zunächst eine Bahnsteigkarte kaufte. Der bekannte russische Staatsterrorist der Jahre 1917–1924 saß beim revolutionären Witzereißen offenbar Steine werfend im Glashaus.

Liberalismus als ausländisches Agententum

Es folgte dem 26. Dezember 1825 ein Blutgericht an den eher harmlosen Aufrührern und jenen Soldaten, die nicht recht wussten, welch naiven Laienverschwörern sie sich angeschlossen hatten.

Die Untersuchungsbeamten erforschten, welche westlichen Bücher und Gedanken den Aufruhr verursacht haben könnten. Immerhin begründeten sie damit ein bis heute fortlebendes Prinzip der russischen Rechtspflege im Bereich des politischen Strafrechts. Der Zar rief einen 72-köpfigen Sondergerichtshof ein, der allerdings nicht über Schuld und Unschuld der Angeklagten zu entscheiden hatte, sondern allein über das Maß der Schuld und die Höhe der Strafe.

Als geistiges Erbe der Zarinnen des 18. Jahrhunderts, begeisterter Leserinnen von Denkern der Aufklärung, Briefpartnerinnen Voltaires und Diderots, sah das russische Strafrecht seinerzeit keine direkte Todesstrafe vor – das indirekte Töten durch Körperstrafen und unzumutbare Haftbedingungen waren damals wie heute der an sich bevorzugte Weg. Zar Nikolaus gab, contra legem, aber die Todesstrafe für die Hauptangeklagten vor.

Ein gerechter Richter

Berufen wurden die 72 Sonderrichter aus dem Kreis der teils aufgeklärten und liberalen Oberschicht. Durch die Mitwirkung an diesem Schauprozess unter Ausschluss der Gerichtsöffentlichkeit konnten, ja mussten sie ihre Loyalität für den neuen Herren Russlands unter Beweis stellen. Einer der Richter, der 72-jährige Admiral und Spitzenbeamte Nikolai S. Mordwinow (1754-1845), verweigerte sich dem unwürdigen Gerichtsritual, er unterzeichnete die Todesurteile wider das Gesetz nicht.

Ein gerechter Richter unter 72, für einen extrem gewalttätigen Staat war das keine schlechte Zahl.

Anmerkung: Der 26. Dezember 1825 unseres gregorianischen Kalenders war der 14. Dezember der bis 1917 in Russland gebräuchlichen julianischen Rechnung. Man mag daher über Daten streiten.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Historische Prozesse: Als Schwören noch geholfen hätte . In: Legal Tribune Online, 26.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17973/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen