Ein BGH-Urteil vom 15. Januar 1953 trägt dazu bei, dass sein Name aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwindet, seine unterhaltsame Autobiografie verdient aber, wiederentdeckt zu werden – Hellmut von Gerlach, Pazifist, Junker und Jurist.
Im berühmten Londoner Hyde-Park hörte der Reisende aus Deutschland einen irischen Redner "Majestätsbeleidigungen über Majestätsbeleidigungen ausstoßen".
"Die Königin Victoria nannte er eine dem Alkohol ergebene alte Hexe, die längst nicht mehr klar im Kopf sei, und den Prinzen von Wales bezeichnete er als Spieler und Kinderschänder, der nicht auf den Thron, sondern ins Zuchthaus gehöre. – Ganz erschrocken drehte ich mich um. Wurde der Redner nicht sofort abgeführt? Da sah ich einen Schutzmann, wie er gemütlich grinsend sich das alles mitanhörte."
In seinem "Boardinghouse" erfuhr der noch junge Jurist Hellmut von Gerlach (1866–1935), als er erstaunt von diesem Erlebnis erzählte, dass es in England keinen "Majestätsbeleidigungsparagraphen" gebe und die Angehörigen der königlichen Familie wie jeder andere Mensch gerichtlich gegen solche Äußerungen vorgehen müssten, darauf aber verzichteten, um die Beleidiger nicht öffentlich interessant zu machen.
Nicht nur der Hyde-Park hinterließ bei Gerlach während seiner ersten Englandreise im Jahr 1894 einen tiefen Eindruck.
Sohn aus konservativem preußischem Landadel bewundert England
In seiner 1937 in der Schweiz veröffentlichten Autobiografie "Von Rechts nach Links" erzählte Hellmut von Gerlach, der aus einer konservativen preußischen Adelsfamilie stammte und auf einem Rittergut im schlesischen Mönchmotschelnitz – heute Moczydlnica Klasztorna – aufgewachsen war, vom nachhaltigen Wandel seiner sozialen und politischen Einstellungen.
In London hatten es ihm, ungeachtet der mittelalterlich anmutenden Rituale in Westminster, die Debatten im House of Commons angetan, aber auch, dass ein erzkonservativer Lord, der öffentlich heftig gegen ein neues Steuergesetz agitierte, am Schluss seiner Rede ankündigte, die entsprechende Gesetzesvorlage im Oberhaus nicht aufhalten zu wollen, sollte sich das Volk bei der anstehenden Unterhauswahl für sie aussprechen.
Am Ende seines Lebens, Hellmut von Gerlach starb 1935 im Exil, sein Name fand sich 1933 auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs, hatte er sich als Journalist und Parlamentarier, Pazifist und politischer Kopf so weit aus der überwiegend erzkonservativen, intellektuell engen Welt seines adligen Standes entfernt, dass sein Name später für SED-nahe Kreise attraktiv geworden war.
SED-nahe Kreise nutzen einen guten Namen: von Gerlach
Vor weiteren Kostproben aus der sehr lebendigen Autobiografie von Gerlachs soll der Fall kurz referiert werden, über den der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 15. Januar 1953 entschied (Az. IV ZR 76/52).
Am 14. September 1950 war in das Vereinsregister beim Amtsgericht Düsseldorf ein Verein unter dem Namen "Helmut [sic!] von Gerlach-Gesellschaft" eingetragen worden, der insbesondere für die deutsch-polnische Völkerfreundschaft einzutreten behauptete.
Hedwig von Gerlach (1874–1956), die Witwe, klagte wegen Verletzung ihres Namensrechtes, § 12 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), gegen den Verein auf Unterlassung.
Zwar hatte sich ihr Gatte gegen Ende des Ersten Weltkriegs in den zu seinen Lebzeiten, also vorläufig, übelsten ethnischen Konflikten zwischen Polen und Deutschen um Vermittlung bemüht, und dann auch während der Weimarer Republik mutig und unpopulär weiter für die Verständigung der Völker geworben – ungeachtet des offenen rechtsextremen Terrorismus.
Doch nahm Witwe von Gerlach inhaltlich Anstoß daran, dass dem Verein nachgesagt wurde, sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze auszusprechen. Möglicherweise handle es sich sogar um eine Spionage-Einrichtung der nun stalinistisch regierten Volksrepublik Polen. Zudem galt der ins Düsseldorfer Register eingetragene Verein als ein Ableger der im – bald darauf geteilten – Berlin betriebenen, "ostzonalen" Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft. Die Geschichte sollte ihr Recht geben, denn später in der DDR ging der Verein in der zum SED-Machtkonzern zählenden "Liga für Völkerfreundschaft" auf.
Der Verein argumentierte gegen die Witwe von Gerlach, ihr Namensrecht sei gar nicht verletzt, weil sie einen anderen Vornamen trage. Zudem dürfe er den Namen Hellmut von Gerlachs als einer Person der Zeitgeschichte entsprechend § 23 Kunsturhebergesetz selbst dann nutzen, wenn die Angehörigen des Verstorbenen dem nicht zustimmten.
Das BGH-Urteil deutet an, dass der Verein auch ein sehr hässliches Argument einschob: Die betagte Witwe, seit der Zeit des Exils französische Staatsangehörige, sei nicht erst 1948, sondern bald nach dem Tod Hellmut von Gerlachs ins nationalsozialistische Deutschland zurückgekehrt. Das sollte wohl ihre moralische Reputation erschüttern.
Weder vor dem Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf noch vor dem BGH war die "Hellmut von Gerlach-Gesellschaft" damit erfolgreich. Der BGH attestierte der Witwe, sie brauche es nach § 12 BGB nicht zu dulden, dass ein Verein, auf dessen Ziele und Zusammensetzung sie keinen Einfluss habe, den Namen verwende. Angesichts der sonst üblichen Höflichkeit, die Familienangehörigen um Erlaubnis zu bitten, müsse die Öffentlichkeit davon ausgehen, dass Hedwig von Gerlach sich mit dem Verein gemein mache. Daran ändere auch die Spezifikation durch den Zusatz des Vornamens nichts.
Der Präsident des Reichsgerichts zu Besuch in der Studentenbude
Der Kollateralschaden, dass damit der Name Hellmut von Gerlach nahezu vollständig aus der deutschen Öffentlichkeit verschwand, sieht man von Rudimenten in der zweifelhaften Gedenkkultur der DDR ab, ist bedauerlich.
Denn seine Autobiografie "Von Rechts nach Links" ist nicht nur – zumal für politisch interessierte Juristinnen und Juristen – von historischem Interesse, sie ist auch amüsant erzählt und öffnet den Blick für eine oft erstaunliche Welt, die uns aber mitunter weniger fremd ist, als man denken möchte, wenn es denn nicht ganz kurios wird.
Als sich etwa der junge Mann, im Anschluss an Semester in Genf und Straßburg, an der Universität zu Leipzig eingeschrieben hat, steigt eines Tages Eduard von Simson (1810–1899), der schon betagte Präsident des Reichsgerichts, hinauf in die enge Studentenbude Hellmut von Gerlachs. Der große alte Mann der deutschen Demokratie, ehemals Präsident der Frankfurter Nationalversammlung und ihr nachfolgender Parlamente, stattet dem Studenten einen Gegenbesuch ab, nachdem dieser ihm die höfliche Aufwartung gemacht hatte.
Hier sind es die Spielregeln der adligen und bürgerlichen Höflichkeit, in die Gerlach einführt. Seltsamer und fremder ist, dass seinerzeit die Zugehörigkeit zur Studentenverbindung mehr zählte als die rechtswissenschaftliche Erkenntnis.
Nach einem beschämend einfachen ersten Staatsexamen – weil der Referendar nachweisen musste, seinen standesgemäßen Lebensunterhalt selbst tragen zu können, hatte es die soziale Auslese noch nicht zu leisten – absolvierte Hellmut von Gerlach das Referendariat in der ungemein gemütlichen preußischen Justiz, etwa an einem Amtsgericht in der Provinz.
Die Aufforderung, in dieser Stage Stoff aus dem Studium zu vergessen, wird vielleicht heute immer noch laut – interessant ist, was von Gerlach hörte: Als ein Bauer einen anderen beschuldigt, ihm Heu gestohlen zu haben, erkennt ihn der Richter ohne weitere Beweise für schuldig. Als von Gerlach, selbst auf einem landwirtschaftlichen Rittergut aufgewachsen, sich erstaunt erkundigt, wie der Richter zu dieser Erkenntnis gelangt sei – die Farbe des Heus könne es nicht gewesen sein –, wird er belehrt, dass man sich mit akademischen Fragen wie dem angemessenen Beweis nicht aufhalten könne. Der bestohlene Bauer sei als ehrlich, sein als Dieb verurteilter Standesgenosse als deviant bekannt.
Unter den katholischen Viehschmugglern von Meppen um Stimmen werben
Nur mit Hilfe seiner Familie gelingt von Gerlach der Wechsel in den Verwaltungsdienst, für den es, neben dem Adel wesentlich auf den Status als Reserveoffizier ankommt – den er, wegen eines Unfalls mit Munition ausgemustert, nicht erwerben konnte.
Sein älterer Vetter, Georg Kreuzwendedich von Rheinbaben (1855–1921), der auf seinem Weg zum preußischen Innen-, dann Finanzminister selbst vom berühmten Johannes von Miquel (1828–1901) protegiert wird, kann zwar dafür sorgen, dass sich Hellmut von Gerlach überhaupt um eine Stelle in der Provinzialverwaltung bewerben darf, der Herr Präsident der Behörde besteht aber auf dem – präzedenzlosen – ärztlichen Attest, dass der Kandidat trotz seiner Wehrunfähigkeit mannhaft in der Behörde dienen könne.
Was der zunächst in seinem hergebrachten konservativen Milieu, dann im Umfeld der neuen antisemitischen Parteien politisch neugierige von Gerlach aus dem Innenleben der preußischen Verwaltung und über die Korruption bei den Wahlen erzählt, ist einigermaßen grandioser Stoff, auch für Menschen, die sich heute politisch-parlamentarisch engagieren möchten.
Denn von Gerlachs Autobiografie berichtet zum einen davon, wie der schon erwachsene Mensch intellektuell und moralisch noch weiter reift. Von seinem Antisemitismus verabschiedet er sich, als er erkennt, wie sehr seine antisemitischen Parteifreunde diese damals populäre Form antijüdischer Ressentiments rein taktisch verwenden – eine wissenschaftliche Begründung bleiben sie, ungeachtet der Wissenschaftsgläubigkeit des Zeitalters, stets schuldig, bekennen sogar, dass sie sie bei Bedarf erfinden würden.
Hinzu kommt die persönliche Erfahrung: Während Gerlach seine christlichen Standesgenossen aus dem Adel, die er zudem für wirtschaftswissenschaftlich beschränkt hält, in Fragen des Gemeinwohls als geizig und beutegreiferisch erlebt, lernt er die jüdischen Bürger mit ihren großzügigen, über Religions- und Standesgrenzen hinausgehenden sozialen Stiftungen schätzen.
Zum anderen tritt von Gerlach bald selbst ins politische Geschäft ein. Wie er unter den katholischen Viehschmugglern von Meppen, an der deutsch-niederländischen Grenze, um Stimmen wirbt, ist eine Abenteuergeschichte, die auch heutigen Parlamentskandidaten nicht ganz fremd bleiben wird. Und wem heute, aus guten oder schlechteren Gründen, die Verstrickungen zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und politischen Parteien suspekt sind, erfährt davon, wie zur Kandidatur um ein Reichstagsmandat völlig selbstverständlich der Kauf einiger lokaler Zeitungsverlage gehörte – samt obskurer Absprachen mit weiteren Blättern über die Meinungen, für die sie im Wahlkreis einzustehen hatten.
Hellmut von Gerlach, der über einen Förster die Bekanntschaft Otto von Bismarcks machte und über einen preußischen Generalstabsoffizier jene von Friedrich Engels, erzählt aus dieser merkwürdigen alten Welt der Juristen und Junker mit einer vielleicht manchmal nur gespielten Verblüffung, doch vermittelt gerade das – dieser jugendliche Blick – einen frischen Eindruck.
Tipp: Hellmut von Gerlachs "Von Rechts nach Links" ist 1987 bei Fischer in der Reihe "Verboten und verbrannt/Exil" erschienen. Seit 2015 ist das Buch neu verfügbar.
Pazifist, Junker, Jurist: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50753 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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