Haager Abkommen: Völ­ker­rechts­ent­wick­lung ohne Rum­mel­platz

von Martin Rath

14.11.2021

Vor 125 Jahren wurde in Den Haag das erste Abkommen zur Regelung von Fragen des Internationalen Privatrechts unterzeichnet. Im Vergleich zum heutigen Klimakonferenz-Massenbetrieb beruhte es auf einer kleinen, aber produktiven Organisation. 

Es war zwar keine allzu schwierige kostenrechtliche Frage, aber auch kaum von Nachteil, dass sie Richtern gestellt wurde, die über ein nahezu konkurrenzloses Wissen in Anliegen des Internationalen Privatrechts verfügten. 

Ein im wallonischen Lüttich lebender belgischer Staatsangehöriger, Kläger in einem deutschen Zivilprozess, hatte für die Revisionsinstanz einen dreifachen Gebührenvorschuss leisten sollen. 

Diese Pflicht nach § 85 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes vom 18. Juni 1878 traf Ausländer, sofern nicht einer der Ausnahmetatbestände zutraf: Im Fall einer reinen Widerklage, im Fall von Wechsel- und Urkundenprozessen war kein dreifacher Gebührenvorschuss zu zahlen, ebenso wenig, wenn das Armenrecht – die heutige Prozesskostenhilfe – bewilligt war oder der Staat des Ausländers seinerseits ausländische Deutsche mit einer besonderen Vorauszahlung oder Sicherstellung von Gerichtskosten nicht behelligte. 

Der Erinnerung des Belgiers gegen die Gebührenverfügung half das Reichsgericht mit Urteil vom 10. Oktober 1902 ab – aufgrund seiner Auslegung von Artikel 11 des Haager Abkommens über die Regelung von Fragen des Internationalen Privatrechts vom 14. November 1896. 

Richter des "Rheinischen Senats" – zuhause in der Diplomatensprache 

In diesem völkerrechtlichen Vertrag war in der für den internationalen Verkehr maßgeblichen Sprache, also dem Französischen, geregelt worden, dass die Gerichte von Angehörigen der Vertragsstaaten für Prozesse weder eine für Ausländer sonst gebotene Sonderleistung in Form von "caution" noch von "dépot" verlangen durften. 

Strittig war jedoch, ob mit "caution" bzw. "dépot" nur eine Befreiung von besonderen Sicherheitsleistungen gemeint war, die gegebenenfalls die Ansprüche der gegnerischen Prozesspartei decken würden, oder ob auch auf den dreifachen Gebührenvorschuss verzichtet werden musste. 

Geklärt wurde diese Frage vom sogenannten "Rheinischen Senat" des Reichsgerichts. Dieser II. Zivilsenat war seit Gründung des Gerichts zuständig für die Auslegung des in Deutschland geltenden französischen Rechts. 

Zudem verfügte der Senat über ausgewiesene Praxiskenntnisse im Internationalen Privatrecht. Weil bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) am 1. Januar 1900, für Altfälle auch darüber hinaus, der französische Code civil wörtlich oder in seiner badischen Übersetzung anzuwendendes Recht blieb, waren nicht wenige Konfliktfälle zu lösen: Heiratete beispielsweise ein Wiesbadener eine Mainzerin, galt auf der einen Seite des Rheins das gemeine Recht, auf der anderen Seite französisches Recht. Galt für die rheinische Ruhrgebietsstadt Essen das rheinisch-französische Recht, war es im wenige Kilometer weiter nördlich gelegenen westfälischen Bottrop das Preußische Allgemeine Landrecht. Im Zeitalter des europäischen Nationalismus blieb das französische Zivilrecht für knapp einhundert Jahre dem Rheinland, der Pfalz und in Baden erhalten. 

In souveräner Auslegung der strittigen Bestimmung des Haager Abkommens vom 14. November 1896 kamen die Richter in Leipzig zu dem Schluss, dass den französisch parlierenden Diplomaten die Situation des deutschen Gebührenrechts augenscheinlich nicht präsent gewesen und ihre etwas missverständliche Vereinbarung im Geist des völkerrechtlichen Vertrags dahingehend zu interpretieren sei, dass kein dreifacher Gebührenvorschuss verlangt werden könne (Reichsgericht, Urt. v. 10.10.1902, Az. II 223/02). 

Gründerjahre eines völkerrechtlichen Fortschrittsgeists 

In Auseinandersetzungen zu Sinn und Zukunft der Europäischen Union ist oft von einem "Friedensprojekt" die Rede, für das mit den Römischen Verträgen vom 25. März 1957 der Grundstein gelegt worden sei.  

Das Pathos ist nach zwei Weltkriegen zwar verständlich. Ein wenig aus dem Blick gerät aber, dass dieses Projekt nicht alternativlos war. 

Denn in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg findet sich eine beachtliche Zahl von Versuchen, das Recht der damals sogenannten "Kulturvölker" Europas und der Welt vertraglich zu koordinieren, Frieden und Sicherheit zu stiften – die Zahl der Juristen unter den ersten Friedensnobelpreisträgern, verliehen für geleistete Arbeit, war beachtlich.  

Die "Internationale Konferenz von Rom für die soziale Verteidigung gegen Anarchisten" im Herbst des Jahres 1898 bahnte beispielsweise die Zusammenarbeit der Polizeibehörden an. Mit dem Opiumabkommen vom 23. Januar 1912 nahm ein völkerrechtlich abgesichertes Regime zum "Kampf gegen die Drogen" seinen Anfang, das bis in die Gegenwart das deutsche Betäubungsmittelrecht noch in seinen Details strukturiert. Es sind Elemente einer "multilateralen Ordnung", die von Politikern heute gern beschworen wird, solange es um Donald Trump, nicht um die Freigabe von Cannabis geht. 

Weniger kontroverse Fragen der völkerrechtlichen Koordination gingen insbesondere von dem 1873 im belgischen Gent gegründeten Institut de Droit international aus, einer auf die Aufnahme von 132 exzellenten Rechtsgelehrten begrenzten Einrichtung. 

Neben Initiativen auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts ist dieser produktiven Gelehrtengesellschaft unter anderem der seit den 1890er Jahren einsetzende Betrieb der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht zu verdanken. 

Nach dem ersten Abkommen vom 14. November 1896, das bereits 1905 durch einen neuen Vertrag abgelöst wurde, kamen vor dem Ersten Weltkrieg nicht wenige Vereinbarungen zur Koordination der zivilrechtlichen Systeme europäischer Staaten zustande, vor allem zum Internationalen Privatrecht der Ehe und der Ehescheidung sowie zur Entmündigung. 

Zwar musste man realistisch bleiben: Das Zivilrecht über Staatsgrenzen hinweg zu vereinheitlichen, war nicht zu leisten. Gering zu schätzen war das Vorhaben, die Anwendung nationalen Rechts in grenzüberschreitenden Sachverhalten reibungsärmer zu regeln, trotzdem nicht. Ein steigender Warenverkehr mochte noch durch handels- und zollrechtliche Abkommen neu zu regeln sein.  

Hinzu kamen aber grenzüberschreitende kulturelle und soziale Rechtsbeziehungen, die potenziell Millionen Menschen betrafen – beispielsweise die polnischen Untertanen des preußischen Königs, des russischen Zaren sowie der k.u.k. Monarchie. Auch für sie schuf das völkerrechtlich koordinierte Internationale Privatrecht beachtliche Regeln gegen nationale Willkür: Sie sollten etwa beim Heiraten oder Erben über Staatsgrenzen hinweg etwas mehr Sicherheit genießen. 

Zweiter Weg der europäischen, dann internationalen Rechtskoordination 

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg – zwischen 1914 und 1945 blieb die Haager Konferenz weitgehend ohne Früchte – begann mit der 7. Tagung im Jahr 1951 eine Art ständiger Konferenzbetrieb. Es wurde etwa das bereits 1905 abgelöste erste Abkommen über den Zivilprozess ein weiteres Mal erneuert.  

Zu den bekanntesten völkerrechtlichen Regelungen aus dieser Produktion seither zählt das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980, in jüngster Zeit kam beispielsweise das Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 2. Juli 2019 zustande. Wegen der Konkurrenz aus Brüssel – für die Rechtsordnung der Europäischen Union wird vielfach in der Sache uniformiert, was in Den Haag für die nationalen Rechtsordnungen nur koordiniert wird – bemühte sich die Haager Konferenz spätestens seit den 1990er Jahren erfolgreich um Mitglieder aus dem Raum jenseits der früher sogenannten "Kulturvölker" Europas. 

Bemerkenswert ist, wie wenig Personal dazu über lange Zeit eingesetzt wurde. Schon das Genter Institut de Droit international beschränkte sich auf 132 hochrangige Gelehrte. Auch Fotografien aus der Frühzeit der Haager Konferenz zeigen sehr wenige Diplomaten und Juristen mit imposanten Professorenbärten. Noch die Satzung vom 31. Oktober 1951 sah vor, dass das Ständige Büro der Konferenz in Den Haag aus einem Generalsekretär und zwei Sekretären bestehen sollte. Gegen eine allzu ausufernde Organisationsentwicklung wurde vorgebaut, dass die Kosten des Ständigen Büros auf die Mitgliedstaaten umzulegen und von deren diplomatischen Vertretungen in Den Haag zu genehmigen waren. 

Dünne Personaldecke

Womöglich folgt die Qualität internationaler Normen der Form ihrer Fabrikation. 

In der zweiten Auflage seiner "Reinen Rechtslehre" formulierte Hans Kelsen (1881–1973) mit dem lakonischen Witz seiner Generation: "In einem Saal kommen Menschen zusammen, halten Reden, die einen erheben ihre Hände, die anderen nicht; das ist der äußere Vorgang. Seine Bedeutung: daß ein Gesetz beschlossen, daß Recht erzeugt wird." 

Über 125 Jahre hinweg gelang es der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, diesen "äußeren Vorgang" mit erstaunlich wenigen Mitarbeiter:innen zu organisieren: Das Ständige Büro nennt samt seiner Filialen heute 33 Personen aller Hierarchieebenen – nur die imposanten Professorenbärte gibt es augenscheinlich nicht mehr

Zum Vergleich: Zur "United Nations Framework Convention on Climate Change, 26th Conference of the Parties" in Glasgow reisten in diesen Tagen rund 25.000 Teilnehmer an, zuzüglich sogenannter Aktivistinnen (m/w/d). Und während selbst durchschnittlich studierte Juristen kaum jemals am laufenden, aber stillen Betrieb in Den Haag seelischen Anteil nehmen, werden die internationalen Bemühungen zum Klimawandel von einem penetranten, womöglich kontraproduktiven Leitmedienorchester begleitet. 

Ob das öffentliche Interesse der jeweiligen Sache gerecht wird, sei einmal dahingestellt. Mit Kelsens lakonischem Witz zu fragen bleibt, bei welchem der "äußeren Vorgänge" wohl nachhaltiger "Recht erzeugt wird". 

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor in Ohligs.

Zitiervorschlag

Haager Abkommen: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46639 (abgerufen am: 05.12.2024 )

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