Gegenentwürfe zum Grundgesetz: Staats­feind­li­ches und staats­kri­ti­sches Denken

von Martin Rath

17.09.2023

Ob es um Elon Musk geht oder den früheren Zentralbankchef Alan Greenspan: In den USA sind libertäre Intellektuelle und Unternehmer keine Seltenheit. Auch in Deutschland finden sich jedoch radikal staatskritische Juristen und Philosophen.  

Im Jahr 1991 veröffentlichte ein Verein unter der ehrwürdig klingenden Firma "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung den Entwurf einer Verfassung (Verf-E), die das Grundgesetz (GG) ablösen sollte. 

Nicht länger Bundesrepublik Deutschland sollte der damals frisch um das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins ergänzte Staat heißen, sondern eben "Bund deutscher Länder". Eingang in den Entwurf fanden neben Ideen, die der westlichen Ökologie- und Frauenbewegung am Herzen lagen, vor allem Vorschläge aus der Bürgerrechtsbewegung der vormaligen DDR – nicht alle hatten dort ihren Frieden mit der Umwidmung der west- zur gesamtdeutschen Verfassung gemacht. 

Der Herkunft dieser "Kuratoren" entsprechend fielen die Vorschläge vom Grundrechtsteil bis zum Staatsorganisationsrecht erwartbar, aber bunt aus. So sollte etwa in Art. 6 Verf-E – die Systematik und wesentliche Teile des Grundgesetzes behielt man bei – ein Absatz 7 ergänzt werden: "Kindern ist durch Gesetz eine Rechtstellung einzuräumen, die ihren wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnissen zu selbstständigem Handeln entspricht." Die schulrechtlichen Regelungen, Art. 7 GG, sollten entrümpelt werden und mit einem Individualrecht auf Bildung beginnen, den Schulen künftig Autonomie gewährleistet sein, allerdings ganz brav nur nach Maßgabe der Gesetze. 

Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung Heinrich Böll Stiftung

Die Landesverfassungen sollten dort, wo sie mehr Grundrechte gewährten als das Bundesverfassungsrecht, dem Bundesrecht vorgehen (Art. 31 Satz 2 Verf-E), die Rechte der Oppositionsfraktionen im Bundestag sowie der einzelnen Abgeordneten gestärkt werden (Artt. 38a Abs. 2, 39 Abs. 2 Verf-E). Vorgeschlagen wurde ein "Ökologischer Rat", dessen auf neun Jahre vom Bundes- und den Landtagen bestellte Mitglieder konsultativ zu umweltbezogenen Gesetzgebungsvorhaben Stellung nehmen würden – nicht diktatorisch, sondern auf die Kraft des Arguments bauend. 

Am 16. Juni 1991 beschloss das "Kuratorium" an einem heiligen Ort der deutschen Verfassungsgeschichte, der Frankfurter Paulskirche, über den Entwurf. Doch blieb die Sache eine Totgeburt, eine nennenswerte öffentliche Wirkung ist nicht überliefert

Vom "Kuratorium" zum Kurator – staatskritischer Verfassungsentwurf 

In formaler Hinsicht durchaus ähnlich, von manchen Schnittmengen abgesehen aber davon weit entfernt, ist das schmale Buch "Grundgesetz 2030" des Düsseldorfer Rechtsanwalts Carlos A. Gebauer (1964–), der 30 Jahre nach dem Kuratoriumsentwurf seine "Modernisierungsvorschläge für eine Erhaltungssanierung" der Verfassung vorgelegt hat. 

Gebauers rund 100 Änderungsvorschläge würden sich wohl nahtlos in eine unbekannte Zahl von obskuren, sehr eitlen Privatschriften zur Verbesserung von Staat und Gesellschaft einreihen, mit denen vor allem ältere Herren ihre Ansichten über Gott und die Welt zu Papier bringen – meist bleiben das politische Testamente ohne irgendeinen interessierten Erben. 

Im Fall Gebauers liegen die Verhältnisse deshalb anders, weil seine Schrift in liberalen und libertären Kreisen einige Beachtung gefunden hat und es spätestens seit der COVID-19-Krise unter politisch und juristisch oft bestenfalls halbgebildeten Menschen in Deutschland, will sagen: den ewigen Studenten an der "Universität Youtube", eine Sehnsucht nach fundierter Argumentation jenseits bloßer Nörgelei gibt. Immerhin ist der Mann ein Jurist. Systematisch begründen könnte er seine Vorschläge daher, doch dazu später mehr. 

Grundgesetz 2023 Gebauer

Dokumentierte der Entwurf des "Kuratoriums" 1991 vor allem einen verfassungspolitischen Wunschzettel westdeutscher "Grüner" und ostdeutscher Bürgerrechtler, sind Gebauers Vorschläge als radikalliberaler Versuch zu lesen, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates neu zu bestimmen. 

Das Ganze nimmt seinen Anfang mit einer eher harmlosen Änderung zu einem Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG-Entwurf (GG-E) Gebauers: "Die Würde jedes Menschen ist unantastbar", womit der Schutz der Menschenwürde vom bisher prinzipiellen "des Menschen" stärker konkret gefasst werde.  

Gravierender, für juristische Laien unter Gebauers Lesern vermutlich nur schwer einzuordnen, ist ein weiterer, ebenfalls nur ein Wort betreffender Änderungsvorschlag in einer anderen Staatsfundamentalnorm: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und auch sozialer Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG-E). Mit diesem "auch" wären etliche Deduktionen des Bundesverfassungsgerichts, etwa zum menschenwürdigen Existenzminimum, zwar nicht zunichte gemacht, aber doch wieder ein Stück weit vom richterlichen in den parlamentarischen Entscheidungsraum verschoben. 

Amtshaftung auch für Parlamentarier – Sezessionsanspruch für jeden und alle  

Weitere, tiefgreifende Vorschläge betreffen etwa eine zwingende, auch durch den Abschluss einer Versicherung nur begrenzt abdeckbare persönliche Amtshaftung von Abgeordneten des Bundestages für Schäden durch ihre Gesetzgebung (Art. 38 Abs. 1 GG-E) oder die weitgehende und vorrangige Möglichkeit plebiszitärer Gesetzgebung. Etwas idiosynkratisch mutet die Idee an, dass Gesetze nur in Kraft treten sollen, wenn sie vor versammeltem Parlament im Wortlaut vorgetragen wurden – was fürs Verlesungsritual beim Notar gilt, solle auch fürs Volk und seine Vertreter gelten. 

Typisch für einen Anhänger der libertären Staatskritik ist es, ein allgemeines Recht auf Sezession zu postulieren. Das soll einmal für den Einzelnen gelten, indem Art. 9 Abs. 1 Satz 2 GG-E vorgibt: "Niemand darf gegen seinen Willen gezwungen werden, Mitglied einer privaten oder öffentlich-rechtlichen Vereinigung zu werden oder zu bleiben." Doch will es Gebauer auch den Gemeinden freistellen, das Bundesland zu wechseln, den Ländern, aus der Bundesrepublik Deutschland auszuscheiden. Schon während sie ihr angehören, sollen die Bundesländer zudem eine eigene Währung emittieren dürfen. 

Und was eben sonst noch auf einen solchen Wunschzettel gehört 

Gebauer notiert in seinen gut 100 Änderungsideen vieles, was sich auf vielen radikal staatskritischen Wunschzetteln – im Privatdruck oder in Online-Foren – finden dürfte. 

So soll der Ausgleich bestehender Benachteiligungen zwischen den Geschlechtern seinerseits nicht neue Benachteiligungen bewirken (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG-E), der Rundfunk einer unmittelbar durch die Beitragszahler organisierten demokratischen Kontrolle unterworfen werden (Art. 5 Abs. 2 GG-E). Die Besoldung jedes einzelnen Bundestagsabgeordneten möchte Gebauer vom Bundestagspräsidenten festgesetzt sehen, nach Maßgabe des Einkommens vor Antritt des Amts (Art. 38 Abs. 4 GG-E). Eine Aufnahme von Staatsschulden, Artt. 114, 115 GG-E soll ganz entfallen, im Zivilprozess für die Parteien die Möglichkeit bestehen, gemeinsam den Richter abzulehnen, sodass der nächste in der Reihenfolge des gesetzlichen Richters einspringen muss (Art. 101 Abs. 3 GG-E). 

Libertäres Schriftgut – eine Provokation für Staatsrechtslehrer? 

Ähnlich wie der "Kuratoriumsentwurf" von 1991 leidet Gebauers Schrift darunter, dass er seine Vorschläge nicht ausführlich erörtert. Es können sich zwar Menschen, die über sehr gute rechts- wie wirtschaftswissenschaftliche, zudem über historische und philosophische Kenntnisse verfügen, auf die Vorschläge einen Reim machen, ohne gleich aus allen Wolken zu fallen. 

Aber ein Nachdenken über Staat und Gesellschaft jenseits dessen, was Bernhard Schlink 1989 mit dem bösen Wort "Verfassungsgerichtspositivismus" bezeichnet hat, wird bekanntlich auch im Studium nicht mehr unbedingt trainiert – obwohl doch die ältere Staatslehre, zum Beispiel Martin Krieles an Hegel geschulte Position, aus dem Denken in radikalen Alternativen gerade erst die Rechtfertigung des gegenwärtigen Staates ableitete. 

Wichtige Staatsdenker von Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau über Karl Marx, Georg Friedrich Wilhelm Hegel oder gar Michail Bakunin bis Hans Kelsen genießen in der juristischen Ausbildung doch überwiegend den Ruhm sehr toter Klassiker. Nur Carl Schmitt erfährt noch die fahle Ehre, dass jede Rechnung seines Weinhändlers philologisch bearbeitet wird. Was diese Leute dachten, wird recht selten genutzt, den aktuellen Staat, die heutige Gesellschaft kräftig gegen den Strich zu bürsten. 

Weil Gebauer seine "Modernisierungsvorschläge" im referierten Werk nicht im Detail aus der libertären, anarchistischen oder anarchokapitalistischen Tradition herleitet, ist ein Leser, der seinerseits den Status quo des Staates gegen die Kritiker prüfen will, darauf angewiesen, weitere Schriften beizuziehen. 

In diesen Kreisen der Staatskritik bzw. der offenen Ablehnung des Staates einflussreich sind hier insbesondere die Werke des österreichisch-amerikanischen Gesellschaftstheoretikers Ludwig von Mises (1891–1973) und des libertären Denkers Murray Rothbard (1926–1995).  

Als anregende Lektüre voller Gegenwartsbezüge bietet sich aber auch einführend die "Einladung zur Freiheit. Werkbuch libertäre Theorie und Praxis" (Norderstedt, 2020) von Stefan Blankertz (1956–) an. Der promovierte Soziologe und habilitierte Pädagoge Blankertz zählt zu der in Deutschland raren Gattung wissenschaftlich solide gebildeter Gegner des Staates an sich. Damit könnte man anfangen. 

Einladung zur Freiheit Blankertz

Die Rechtfertigung des Staates, wie sie bei Hobbes oder Kelsen zu finden ist, geht etwa, folgt man Blankertz, argumentativ ins Leere. Unter anderem im ethnologischen Werk von Christian Sigrist (1935–2015) oder von Alfred L. Kroeber (1876–1960) findet er Belege, dass vorstaatliche Gesellschaften, beispielsweise die indigenen Ethnien Kaliforniens, bereits über Rechtsordnungen verfügten. Die gängigen Lehren von einem gewaltförmigen Naturzustand, der erst durch staatliche Herrschaftsordnungen überwunden worden sei, gilt ihm damit als ahistorische Ideologie. 

Auch der staatliche Justizbetrieb müsste daran scheitern, würde nur ein etwas größerer Anteil der freiwilligen rechtlichen Bindungen zwischen Menschen zum Gegenstand von Prozessen gemacht. Daher ist es von solchen empirischen Beobachtungen aus der anarchistischen bzw. anarchokapitalistischen Staatsfeindschaft nur ein kleiner Schritt zum liberalen oder libertären Wunsch, den Staat auf einen Minimalbetrieb der Friedenssicherung zu reduzieren – schon jetzt gelingt es doch vielen, ohne ihn auszukommen. Von hier gelangt man etwa zu Gebauers Einfall, die Bundesrepublik möge nur "auch" Sozialstaat sein. 

Will man sich damit auseinandersetzen? 

Derlei radikal staatskritische Überlegungen müssen sich oft, aber nicht immer den Einwand gefallen lassen, nur als holistische Utopie einer ganz anderen Gesellschaft – oder eines anderen Staats – zu dienen. Allerdings bieten sie auch ohne den Anspruch, alles ganz anders machen zu wollen, bedenkenswerte Einsichten – beispielsweise aus der politischen Ökonomie dazu, warum eine bloß pragmatische Politik der Entbürokratisierung meist scheitert. 

Auch etwa fundamentale Kritik an der Schulpflicht, der "Verschulung" und einer Ideologie des "lebenslangen Lernens" lässt sich bereits bei Vertretern der katholischen Soziallehre der 1970er, der deutschen Reformpädagogik der 1920er Jahre und im neuhumanistischen Denken Wilhelm von Humboldts (1767–1835) entdecken. 

DDR-Bürgerrechtler und die "Grünen" des Jahres 1991, Gebauer und Blankertz sind einander im Anspruch, die Menschen sollten ihre Anliegen, wo immer es geht, selbst in die Hand nehmen, womöglich gar nicht so fremd. 

Eine kritische Auseinandersetzung mit Theoretikern wie Blankertz, der neben der Soziologie, der politischen Ideengeschichte auch ethnologische, theologische und ökonomische Register zieht, steht indes vor einem Problem: Interdisziplinäre Aussagen haben mit theologischen gemeinsam, disziplinär nur unter Mühen geprüft werden zu können, wie der Philosoph Hans Blumenberg (1920–1996) einmal scherzte. 

Würde den hier skizzierten Ansätzen daher nicht die Ehre zuteil, in philosophischen oder rechtswissenschaftlichen Seminaren behandelt zu werden, hätte das wenig bis nichts mit Zensur, viel mit dem akademischem Prüfungsbetrieb und seiner Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. 

Hinweise: Der "Kuratoriumsentwurf" von 1991 ist nur im Druck erschienen und auch antiquarisch selten zu finden. Carlos A. Gebauer: "Grundgesetz 2030. Modernisierungsvorschlag für eine Erhaltungssanierung". Reinbek (Lau-Verlag) 2021, 116 Seiten, 15 Euro. Stefan Blankertz: "Einladung zur Freiheit. Werkbuch libertäre Theorie und Praxis". Norderstedt (Edition G.) 2020, 280 Seiten, 15,80 Euro. 

Zitiervorschlag

Gegenentwürfe zum Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 17.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52716 (abgerufen am: 13.12.2024 )

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