Weniger Arbeit, weniger Ellenbogen, dafür mehr Freiheit und Zeit für Selbstentfaltung - das fordern Bündnis 90/Die Grünen-Politiker in ihrem "Männermanifest". LTO sprach mit dem Verfasser Sven Lehmann über Entschleunigung und Sabbatjahre sowie die wirklich wichtigen Werte des Arbeitslebens, jenseits von Erfolg, Macht und einem saftigen Bonus.
Frauen können alles, können Kanzler, können – im Gegensatz zu den deutschen Männern – die Fußball-Champions League gewinnen. Ob das das ultimative Ziel aller Gleichberechtigungskämpfe zwischen den Geschlechtern ist?
Genau das fragten sich einige junge, männliche Grünen-Politiker. Und sie kamen zu dem Schluss: "Mitnichten. Wir Männer sehen, dass unsere Gesellschaft noch immer von einem tief sitzenden Geist der geschlechtlichen Polarität durchflutete ist, der Frauen auf Weiblichkeit und Männer auf Männlichkeit reduziert. Damit muss endlich Schluss sein. Wir wollen nicht länger Machos sein, wir wollen Menschen sein!" heißt es im so genannten "Männermanifest der Grünen", das 21 Abgeordnete, darunter Bundestagsabgeordnete, Europa-Parlamentarier, Landesvorsitzende und Senatoren unterzeichnet haben.
Sie wollen sich nicht länger dem gesellschaftlichen Druck beugen, wollen keine Alleinversorger und Erfolgsmaschinen mehr sein müssen. Männer reiben sich mit ihren Jobs auf und ihnen fehlt die Zeit, selbstbestimmt zu leben, so die Politiker. Sven Lehmann, Landesvorstand Bündnis90 / Die Grünen NRW, erklärt im LTO-Gespräch seine Vorstellung einer "neuen deutschen Männlichkeit".
"Wir wollen in Ehrenämtern arbeiten"
LTO: Herr Lehmann, in Ihrem Manifest schreiben Sie über sich und die anderen Grünen-Männer, die unterzeichnet haben: "Wir wollen keine Helden der Arbeit sein". Sie wollen aber doch auch keine Faulpelze sein, oder?
Lehmann: Nein, ganz im Gegenteil. Wir wollen, dass Arbeit neu definiert wird. In unserer Gesellschaft ist Arbeit gleich Erwerbsarbeit. Dabei wird vergessen, dass diese Gesellschaft voll von Arbeit ist, die nicht bezahlt wird. Ein paar Beispiele: Erziehung, Pflege, ehrenamtliches Engagement für den Sportverein und so weiter. Das ist alles Arbeit, ohne die diese Gesellschaft arm wäre. Und es ist Arbeit, die im Wesentlichen von Frauen ausgeübt wird. Wir sagen nun: Wir wollen keine Helden der Arbeit, also der Lohnarbeit, sein, sondern möchten auch in den wichtigen, gesellschaftlichen Bereichen mitarbeiten können, die noch nicht entlohnt werden.
LTO: Ich könnte mir vorstellen, dass es Männern gibt, die sich ihres Lebenssinns beraubt fühlen, wenn Sie sagen: Es geht überhaupt nicht darum, was Ihr in Eurem Job erreicht. Viele definieren sich ganz wesentlich über ihre Arbeit.
Lehmann: Ja, der Mann ist ein öffentliches Wesen. Er definiert sich durch öffentlich sichtbare Arbeit. Dadurch hat sich in der Gesellschaft ein Leitbild der Männlichkeit ergeben, wonach Männer immer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen. Vaterschaft etwa hat in unserer Gesellschaft keine große Bedeutung für die kulturelle Konstruktion von Männlichkeit. Aber genau weil das so ist, muss man das doch einmal sehr laut in Frage stellen!
LTO: Sie sprechen von einem "sozialen Korsett", in das Männer gedrängt werden. Können Sie das bitte beschreiben?
Lehmann: Traditionell ist es die Rolle des Mannes, der Leitwolf in der Gesellschaft und zugleich der Haupternährer innerhalb der Familie zu sein. Damit verbunden sind enorm viele Rollenzwänge. Die wurden bisher kaum thematisiert. Das liegt natürlich daran, dass Männer finanziell und sozial von ihrer Rolle immer profitiert haben.
LTO: Eben, Männer erreichen im Gegensatz zu Frauen viel öfter Geld, Macht, Ruhm und Einfluss. Das entschädigt doch für einiges, oder nicht?
Lehmann: Nein, wir glauben, ein Leitwolf und hegemonial männlich sein zu müssen, schadet den Männern mehr als es nützt. Es schränkt sie zu sehr in ihren Möglichkeiten ein. In unserem Manifest geht es um Selbstbestimmung für den Mann. Wir sagen nicht, dass alle Männer fortan leben sollen wie Frauen. Aber wir sagen, dass Männer selbstbestimmt leben sollen.
"Mehr Zeit für die Vaterrolle"
LTO: Aber glauben Sie nicht, dass Männer mit Macht, Führungsposition und Bonus sich in ihrem Korsett eigentlich ganz wohl fühlen?
Lehmann: Vor allem glauben wir, dass gerade jüngere Männer mehr und mehr erkennen, dass das Arbeitsprinzip "schneller, höher, weiter" nicht das Leben ermöglicht, das sie eigentlich wollen. 70- bis 80-Stunden-Wochen, keine Zeit zu haben für Sport, ehrenamtliches Engagement, Erziehung, Familie, Freizeit – das wollen sie nicht. Umfragen bestätigen etwa, dass viele junge Männer nach der Geburt des ersten Kindes mehr Zeit mit diesem Kind verbringen möchten und nicht nur Zuschauer in Sachen Erziehung sein wollen. Sie wollen aktiv ihre Vaterrolle leben.
LTO: Deshalb fordern Sie Elternteilzeit für Männer und Sabbatjahrmodelle. Finden Sie, seitens der Frauen in ist Sachen Teilzeitarbeit und Kinderbetreuung genug getan?
Lehmann: Ich glaube, Männer und Frauen profitieren gleichermaßen davon, wenn es im beruflichen Leben die Möglichkeit gibt, zu entschleunigen. Zumindest in gewissen Phasen des Berufslebens. Dass es Männern, wenn sie eine Partnerin haben, die sich theoretisch nach der Geburt um das Kind kümmern kann, nicht gestattet wird, in Teilzeit zu gehen oder ihre Arbeitszeit zu reduzieren, ist schlichtweg verkehrt. Untersuchungen zeigen, dass Frauen öfter die Möglichkeit gegeben wird, in Teilzeit zu gehen als Männern. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass Frauen im Schnitt bei gleicher Arbeit immer noch 23 Prozent weniger verdienen. Das ist ein Skandal und muss geändert werden. Es zementiert Männer in ihrer Rolle des Hauptverdieners innerhalb der Familie. Deshalb haben wir gesagt, auch Männer müssen sich dafür einsetzen, dass die Einkommensungleichheit zwischen den Geschlechtern beseitigt wird.
LTO: Aber glauben Sie wirklich, dass man eine Chef- oder Teamleiterposition ausfüllen kann, wenn man nur drei Tage die Woche anwesend ist?
Lehmann: Nein, da machen wir uns auch keine Illusionen. Es gibt Arbeitsbereiche – besonders die mit einer hohen gesellschaftlichen Verantwortung – in denen es nicht möglich ist, in Teilzeit zu arbeiten. Aber wir wollen ja auch nicht jede Lohnarbeit auf Teilzeit reduzieren. Uns geht es darum, Verantwortung insgesamt zu teilen. Zum Beispiel: Doppelspitzen an der Spitze von Unternehmen bieten die Möglichkeit, neue Blickwinkel in die Konzerne hineinzubringen. Vorrausetzung dafür ist allerdings, dass diese Männer bereit sind, Macht und Verantwortung abzugeben. Ich bin vorsichtig pessimistisch, dass das auf freiwilliger Basis klappt. Deshalb hat die Politik eine große Verantwortung, die entsprechenden Rahmenbedingungen, wie etwa Quotenregelungen, einzuführen.
LTO: Sie argumentieren auch mit dem Faktor Gesundheit. Männer, die Helden der Arbeit, reiben sich mit ihren Jobs auf und machen sich kaputt.
Lehmann: Es ist statistisch bewiesen, dass Männer im Schnitt sechs Jahre früher sterben als Frauen. Das hat natürlich teils genetische Gründe. Es hat aber auch damit zu tun, dass Männer schon immer diejenigen waren, die in wesentlich höherem Maße die Lasten des Arbeitsmarktes getragen haben. Gleichzeitig war das, was wir unter "Work-Life-Balance" verstehen, also Zeit für Freizeit und Familie, bisher kaum vorhanden. Hinzu kommt, dass Männer Angebote der Gesundheitsförderung und der Krankheitsprävention sehr viel weniger wahrnehmen als Frauen. Sie neigen dazu, körperliche Leiden zu bagatellisieren, gemäß dem Motto: "Ein Indianer kennt keinen Schmerz".
"Depression bei Männern verpöhnt"
LTO: Sie sprachen in Ihrem Manifest auch den Fall Robert Enke an, den Nationaltorhüter, der sich in Folge schwerer Depressionen das Leben nahm.
Lehmann: Wir haben beobachtet, dass die daraus folgende Debatte über schwere psychische Krankheiten bei Männern viel zu schnell wieder abklang. Zu sagen, ein Mann ist depressiv oder hat psychische und seelische Probleme, ist sehr verpönt, gerade in der Arbeitswelt. Einzige Ausnahme ist der "Burn-out", was im Grunde nichts anderes ist, als ein euphemistischer Begriff für Depressionen. Euphemistisch deshalb, weil Burn-out bedeutet, dass die Helden der Arbeit von der Arbeit ausgebrannt sind. Dadurch erreichen sie wiederum einen gewissen gesellschaftlichen Status.
LTO: Gibt es konkrete "role models" für den in Ihrem Manifest geforderten neuen Mann?
Lehmann: Angela Merkels Ehemann zum Beispiel, Joachim Sauer, fügt sich ganz wunderbar in die Rolle ein, das "Plus Eins" bei Staatsempfängen und dergleichen zu sein. Ich habe da zwar keinen tieferen Einblick, aber ich finde, dass er das immer sehr gut macht. Ein anderes Beispiel wäre Cem Özdemir, unser Bundesvorsitzender, der bewusst mit seinen türkischen Wurzeln sagt: "Ich bin Feminist". Er selbst hat auch Vätermonate genommen, nachdem sein zweites Kind geboren war. Die Beispiele sind noch etwas rar, aber es gibt sie. Und das ist doch sehr ermutigend.
LTO: Ärgern Sie sich über Macho-Männer wie Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi, weil Sie denken: "Mensch, der macht alles kaputt, was hier an neuer Männlichkeit aufblüht"?
Lehmann: Ich ärgere mich nicht, ich finde es irgendwie belustigend. Ich glaube, dass diese Männer genauso unter den Problemen, dem gesellschaftlichen Korsett und den Rollenzwängen leiden, wie wir es beschrieben haben. Wir kennen aber das Phänomen, dass das Patriarchat bei zunehmender Gleichberichtigung zurückschlägt. Das ist eine Art gesellschaftlicher Roll-Back: Männer-Gruppen rotten sich zusammen, bauen eine Schein-Bastion der Männlichkeit auf und sagen, es sei mit der Gleichberechtigung schon viel zu weit gegangen. Dahinter aber verbergen sich meiner Meinung nach Männer, nennen wir sie ruhig Alpha-Tiere, die auch nicht leugnen können, dass sie unter ihrer Rolle leiden und dass auch sie einen Wunsch nach Veränderung hegen. Das Problem, das daraus resultiert, ist, dass die jungen Männer bei der großen Bandbreite von Männerbildern, von den Machos bis hin zu den wirklich gleichberechtigten Männern, Orientierungsschwierigkeiten und Rollenkonflikte bekommen.
"Herausforderung auch an die Frauen"
LTO: Ist Ihr Manifest eine Herausforderung an die Frauen? Müssen sie nun mehr leisten?
Lehmann: Das Manifest ist eine Herausforderung an die Gesellschaft insgesamt. Es ist in erster Linie an die Männer adressiert. Aber gleichzeitig bringt es Herausforderungen an die Frauen mit sich. Die Forderung nach gleichen Rechten und gleichen Pflichten, die Frauen zu Recht erheben, bedeutet auch, Verantwortung abzugeben. Und insofern haben Frauen da noch eine Aufgabe vor sich. Beispiel Umgangs- und Sorgerecht. Das ist ein sehr konfliktbeladener Bereich, in dem Männer bis heute stark diskriminiert werden, wie selbst der Europäische Gerichtshof festgestellt hat. In diesem Bereich müssen Frauen Verantwortung teilen.
LTO: Frauen müssen aber nicht nur abgeben, sondern auch einbringen. Wenn der Mann den Status des Alleinversorgers aufgibt, müssen sie logischerweise Mitverantwortung für den Familienunterhalt übernehmen.
Lehmann: Ja, natürlich. Unser Ziel ist es einfach, eine selbstbestimmte Wahl für Familien und Partnerschaften zu ermöglichen. Ich habe kein Problem damit, wenn Partner entscheiden, dass die Frau eine Auszeit vom Beruf nimmt und das Kind großziehen wird. Wichtig ist nur, dass diese Entscheidung frei von Erwartungen und gesellschaftlichen Zwängen gemeinschaftlich getroffen wird. Die Frage soll sein: Was ist das Beste für uns? Das kann natürlich auch mal bedeuten, dass die Frau zuhause bleibt und der Mann arbeitet.
Nina Anika Klotz, Grünen-Politiker Sven Lehmann im Interview: . In: Legal Tribune Online, 14.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/723 (abgerufen am: 14.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag