Todesstreifen und Sperrgebiete: Mehr als juris­ti­sche Grenz­zonen

von Martin Rath

23.02.2025

Ein zumindest polizeilich hochgerüsteter Schutz von Landgrenzen ist Gegenstand politischer Kontroversen. Die DDR, die Republik Polen der Zwischenkriegszeit und der NS-Staat bieten Beispiele gesetzlicher Grenzgestaltung.

In der Frage, ob eine menschliche Gesellschaft als Staat zu bezeichnen ist, verlassen sich deutsche Juristinnen und Juristen nach wie vor auf den bekannten Abzählreim des Staatsrechtslehrers Georg Jellinek (1851–1911).

Neben dem Staatsvolk und der Staatsgewalt macht nach der Drei-Elemente-Lehre Jellineks das Staatsgebiet die mehr oder weniger intensiv organisierte soziale Konstruktion namens "Staat" aus.

Während "Staatsgewalt" ein hoch voraussetzungsvoller und abstrakter Begriff ist und auch das "Staatsvolk" nicht frei von Metaphysik bleibt – denn es wechselt seine empirische Zusammensetzung jeden Tag durch Geburten und Sterbefälle –, wirkt das "Staatsgebiet" auf den ersten Blick wunderbar anschaulich.

Erdkundeunterricht bedingt vereinfachte Perspektiven

Spätestens der Erdkundeunterricht vermittelt schon Kindern eine Vorstellung davon, dass die Grenzen zwischen den Staaten mit mathematisch präzise vermessener Trennschärfe ausgeführt sind, also den jeweils eingeschlossenen Teil der Erdoberfläche gut definieren. Der wirtschaftliche Wert des Produktionsfaktors Boden sorgt vielerorts dafür, dass Katasterbeamte und ähnliche Behörden tatsächlich mehr als nur auf den Meter genau messen.

Trotz dieser empirischen Anschaulichkeit, an der nur problematisch ist, dass sie dazu verführt, die wechselseitigen Abhängigkeiten von Gebiet, Volk und Gewalt auszublenden und die Welt durch die Brille von Reihenhausbewohnern mit mehr oder weniger schwierigen Nachbarn zu betrachten, bleibt die konkrete Gestalt der Grenzen oft seltsam abstrakt.

Dabei genügt mitunter ein Blick ins Gesetzblatt, um sich jedenfalls eine erste Vorstellung von Möglichkeiten der Staatsgewalt an ihren geografischen Grenzen zu machen.

Logik der prekären Legitimität – DDR-Grenzregime

Mit Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 der DDR-Verfassung, Stand 1974, erklärte das Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) offen:

"Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."

Dass dieser Staat nicht auf der Souveränität des Volkes, sondern der SED und von ihr kontrollierter Blockparteien beruhen sollte, führten Artikel 2 und 3 näher aus, jeweils Absatz 1, Satz 1:

"Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt."

"Das Bündnis aller Kräfte des Volkes findet in der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik seinen organisierten Ausdruck."

Während das Konzept der Volkssouveränität den Vorzug hat, abstrakt und derart offen zu sein, dass keine inländische Partei behaupten kann, den Staat in Besitz genommen zu haben, ohne sich lächerlich zu machen oder eine staatsterroristische Politik zur Durchsetzung ihrer Privilegien oder zur Homogenisierung des Volkes in Angriff zu nehmen, war hier der monopolisierte Herrschaftsanspruch der SED klar durchdekliniert.

Mit entsprechend vorbildlicher Klarheit äußerte sich auch das materielle Recht der DDR zum Staatsgebiet bzw. dessen Grenzen.

§ 1 der "Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik" (Grenz-VO) vom 19. März 1964 dekretierte:

"(1) Entlang der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik besteht ein Grenzgebiet.

(2) Die Schutz- und Sicherheitsorgane und anderen zuständigen staatlichen Organe der Deutschen Demokratischen Republik haben alle Maßnahmen zu treffen, um die Staatsgrenze zu sichern, eine feste Ordnung in den bestehenden Grenzgebieten und den Territorialgewässern zu gewährleisten und einen reibungslosen grenzüberschreitenden Verkehr zu ermöglichen."

Nach § 5 Grenz-VO waren alle DDR-Bürger dazu verpflichtet, die sogenannten Sicherheitsorgane beim Schutz der öffentlichen Ordnung im Grenzgebiet zu unterstützen, insbesondere "Personen, die sich unberechtigt im Grenzgebiet aufhalten oder gegen die Grenzordnung verstoßen", den Grenztruppen der DDR-Streitkräfte oder der Polizei zu melden.

Breite Zone der DDR-Grenzüberwachung bis 1989/90

Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wurde bereits bedroht, wer sich ohne behördliche Genehmigung in einem festgelegten grenznahen Bereich auch nur aufhielt, dort unbefugt fotografierte, Skizzen anfertigte oder kartografische Arbeiten erledigte. Schon Papier und Bleistift genügten zur Verletzung von Souveränitätsansprüchen der SED und ihres Staates.

In einer späteren Erweiterung legte der DDR-Gesetzgeber konkret fest, dass entlang "der Staatsgrenze der DDR zur westdeutschen Bundesrepublik" ein "Schutzstreifen" von rund 500 Metern und eine "Sperrzone" von rund fünf Kilometern Breite besteht. Das Wohnen und Arbeiten, auch der bloß vorübergehende Aufenthalt in der Sperrzone waren engmaschig genehmigungspflichtig.

Die Grenzverordnung wurde in einem Zeitraum von nur 18 Jahren um immer neue, teils surreal anmutende Details ergänzt, schließlich vom "Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik" vom 25. März 1982 abgelöst, ohne dass damit eine normativ verbindliche Rücknahme der Überwachung einherging.

Erst auf das Ende des Souveränitätsanspruchs der SED, dann ihres Staates, folgte die schwierige juristische Auseinandersetzung jedenfalls mit der tödlichen Gewalt des DDR-Grenzregimes (vgl. u. a. Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 24.10.1996, Az. 2 BvR 1851/94 u.a.).

Grenzzonen der Zweiten Polnischen Republik

In der gesetzlichen Gestaltung von Grenzgebieten war die DDR nicht ohne Vorbild. Nach den Maßstäben liberalen Staatsdenkens problematische Regelungen traf auch schon die formal am 11. November 1918 gegründete Republik Polen.

Nachdem der polnische Gesetzgeber zunächst in den 1920er Jahren nur ausgewählte Aspekte geklärt hatte, wurde mit der Grenzzonenverordnung des Innenministers vom 22. Januar 1937 ein sehr detailliertes materielles Gesetz erlassen.

Abgesehen von Beamten des Grenzschutzes war ein Streifen von 15 Metern Breite entlang der polnischen Grenze jedem zu betreten verboten, abgesehen von amtlich zugelassenen Wegen. In einer kleinen Grenzzone von zwei bis sechs Kilometern Tiefe war unter anderem der Bau oder die Änderung von Gebäuden genehmigungspflichtig. Die zuständigen Behörden waren ermächtigt, dort auch die Benutzung von Telefonen und Fotoapparaten genehmigungspflichtig zu machen.

Eine Ausweispflicht – im personalausweisarmen Europa der Vergangenheit nicht selbstverständlich – bestand hier natürlich auch.

Die Regelungen waren teils seltsam und rigide. Beispielsweise konnte im Einzelfall oder für ganze Ortschaften angeordnet werden, dass Fenster zur Grenzseite hin nachts nicht beleuchtet werden dürfen. Um die Tiere des Grenzschutzes nicht zu irritieren, waren privat gehaltene Hunde anzuleinen. Der nächtliche Ausgang konnte vollständig verboten werden. In seiner Detailfreude war der polnische Innenminister 1937 preußischer als die Preußen.

Lassen sich diese Vorgaben noch mit einer polizeilichen oder militärischen Logik sog. Sicherheitsbehörden nachvollziehen, enthielt die Verordnung zur "großen Grenzzone" weit darüber hinausgehende Eingriffe in die bürgerlichen Freiheitsrechte.

Zur großen Grenzzone zählten alle Land- und Stadtkreise an der polnischen Staatsgrenze und, soweit dies nicht genügen sollte, auch weitere Gebiete bis zu einer Tiefe von rund 30 Kilometern. Der Erwerb von Grundstücken in diesem Gebiet war genehmigungspflichtig. Ausländern, aber auch verdächtigen inländischen Staatsbürgern konnte der Aufenthalt untersagt werden – und das in Friedenszeiten.

Als Sicherheitsrisiko kamen Angehörige der nationalen Minderheiten in Frage, also deutsche, litauische, ukrainische und jüdische Polen. Inwieweit die gesetzliche Ermächtigung genutzt wurde, ihnen zu untersagen, in der Grenzzone zu wohnen, ist unklar, denn bis zum Angriffskrieg Deutschlands gegen Polen hatte die Verordnung nur gut zweieinhalb Jahre Bestand.

Deutsche Grenzzonenverordnungen 1939 bis 1941

In der nationalsozialistisch gelenkten Presse Deutschlands fanden Maßnahmen, die in Polen gegen Angehörige der deutschen Minderheit u. a. aufgrund der Grenzzonenverordnung getroffen wurden, jedoch erhebliche Aufmerksamkeit. Denn im gemeinsamen Siedlungsraum von Polen und Deutschen, ethnischen Juden und Kaschuben war die Bodenfrage schon zu Zeiten Bismarcks zentraler Gegenstand der völkischen, damals deutschnational dominierten Propaganda und auch der preußischen Siedlungspolitik gewesen (vgl. Reichsgericht, Urt. v. 29.01.1910, Az. V 103/09 – Sicherungshypothek zum Schutz deutschnationaler Interessen).

Der NS-Gesetzgeber erließ mit Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa seine erste "Grenzzonenverordnung" vom 2. September 1939. Sie zählt namentlich die Land- und Stadtkreise an der deutschen Reichsgrenze auf, beispielsweise Karlsruhe und Lörrach, Emden und Aachen, Pirmasens und Zweibrücken.

Gesetzliche Grundlage war unter anderem das "Gesetz über die Sicherung der Reichsgrenze und über Vergeltungsmaßnahmen" vom 9. März 1937, das als ein reines Blanko-Ermächtigungsgesetz mit der polnischen Grenzzonenverordnung zusammenhängt.

Allerdings enthielt die deutsche Grenzzonenverordnung nur Vorgaben, die später als kriegsbedingte Normen des besonderen Polizeirechts gedeutet wurden. § 2 regelte, das sich Ausländer in den aufgezählten Kreisgebieten nicht mehr aufhalten durften, sofern sie nicht über eine polizeiliche Erlaubnis verfügten. Die Wandergewerbescheine wurden enger gefasst.

Staatsterroristische Konsequenzen hatte § 4: "Das Umherziehen von Zigeunern und nach Zigeunerart ist in der Grenzzone verboten." – Auf diese Norm wurde 1940 die Deportation von Sinti und Roma in das inzwischen besetzte, das sogenannte Generalgouvernement Polen gestützt.

Überlebenden Opfern des Völkermords an den "Zigeunern" wurde seit den 1950er Jahren eine Entschädigung unter anderem mit Verweis auf die angeblich polizeiliche Notwendigkeit verweigert, sie als unzuverlässige Menschen in Kriegszeiten aus dem Grenzbereich fernzuhalten (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 07.01.1956, Az. IV ZR 273/55).

Die detaillierten Vorgaben der polnischen Grenzzonenverordnung – vom Grundstücksrecht bis zur Genehmigung von Telefonen – kopierte die von Reinhard Heydrich (1904–1942) unterzeichnete deutsche Verordnung jedoch nicht. Die Führung des NS-Staates und weite Teile seiner Bevölkerung wollten sich bekanntlich mit den bestehenden Staatsgrenzen ohnehin nicht weiter aufhalten.

Eine vom Juristen Werner Best (1903–1989), Gestapo-Justitiar, bald darauf wichtiger Akteur im besetzten Dänemark, unterzeichnete Verordnung vom 30. Oktober 1939 weitete die Grenzzone auf das gesamte deutsche Staatsgebiet westlich des Rheins und des Dortmund-Ems-Kanals aus, in Teilen aufgehoben wurde diese durch Verordnung vom 3. März 1941. Das angrenzende Ausland war inzwischen deutsches Besatzungsgebiet geworden, andere militär- und geheimpolizeiliche Mittel hatten nun Vorrang.

Beleuchtungsstärke der ersten Lichtblicke nach dem Krieg

Erst vor dem Hintergrund dieser teils exzessiven staatlichen Gewalt im geografischen, besser gesagt im sozialen Raum der zwischenstaatlichen Grenzen lässt sich aber auch wieder eine humane Vorstellungskraft entwickeln – sogar am formalen, nüchternen Material einer amtlichen Drucksache.

Keine sieben Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs kamen die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und des Königreichs Belgien 1952 überein, den Grenzgängern zwischen den beiden Staaten ihren Zugang zu einem Arbeitsplatz jenseits der Landesgrenzen zu erleichtern und ihnen die gleichen Arbeitnehmerrechte wie ihren einheimischen Kolleginnen und Kollegen zuzusichern.

Der Frieden in Europa begann, zum Beispiel zwischen Belgien und Deutschland, mit 125 deutschen Arbeitnehmern in der belgischen, 122 belgischen Arbeitnehmern in der deutschen Grenzzone – so die amtliche Begründung zum deutschen Ausführungsgesetz.

Heute möchte man das nie wieder nachzählen müssen.

Zitiervorschlag

Todesstreifen und Sperrgebiete: . In: Legal Tribune Online, 23.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56654 (abgerufen am: 18.04.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen