Konflikte durch politische Machtkämpfe und an ihrem Ende durch rechtsförmige Befehle einer Behörde oder eines Gerichts zu klären, ist merkwürdig unpopulär geworden. Statt dessen wird immer öfter ihre Mediation verlangt. Das geht vom schwäbischen Bahn- bis zum gesamtdeutschen Schulhof. Als wichtiges Hilfsmittel gilt die sogenannte "Gewaltfreie Kommunikation". Nicht mit mir, meint Martin Rath.
Straßenbahnnutzer kennen die Situation. Ermattet von der brutalen Anstrengung, vier oder fünf Stunden in einer öffentlichen Schule erlebt zu haben, besteigen junge Menschen den Waggon. Soweit es die Raumsituation zulässt, wandert erst der eine regennasse Turnschuh auf den gegenüberliegenden Sitzplatz, dann der andere. Der unbefangene Beobachter erkennt, dass hier von Anstandsregeln unbefleckte Menschen eine bequeme Haltung beim SMS-Tippen suchen oder einfach nur lässig aussehen müssen. Juristisch geschulte Fahrgäste ärgern sich über den Verstoß gegen die Beförderungsrichtlinien sowie darüber, dass die fahrlässige Sachbeschädigung fremder Kleidung durch Straßenkot kaum je einen Richter finden wird.
Wer glaubt, seinem Unmut Luft machen zu sollen, etwa mit dem barschen Hinweis, dass ein solches Verhalten schlichtweg widerlich und der Schmutzfüßler kriminell rücksichtslos sei, wird in erstaunte Augen blicken. Leider beruht das Unverständnis nicht auf bloßem Unverstand. Der Einsichtsmangel kann regelmäßig einen Grund haben – in Gestalt einer Doktrin, die hierzulande als "Gewaltfreie Kommunikation" bekannt geworden ist, längst ihren Weg in die Lehrerausbildung gefunden hat und in diesem Fall lehrt, dass der belästigte Fahrgast seinen Unmut nicht durch direkte aggressive Äußerungen kundtun sollte.
Nun wird auch für die Jurisprudenz vermehrte Mediation gefordert. Als Konterbande könnte sie die "Gewaltfreie Kommunikation" weiter verbreiten helfen. Denn sollten Juristen über allzu viel Vermittlungsarbeit ihre Tradition vernachlässigen, Konflikte nach alter Robenträger Sitte auszutragen – ob im harschen rhetorischen Schlagabtausch oder in den zarten Schmelz sanft-aggressiver Schriftsätze gehüllt – droht die "Gewaltfreie Kommunikation" auch eine der Wurzeln des Rechts zu zersetzen. Doch bevor diese zugespitzte These verteidigt wird, zunächst die Frage:
Was ist "Gewaltfreie Kommunikation" überhaupt?
Man sollte annehmen, "Gewaltfreie Kommunikation" sei schlicht eine Diskussion, deren Teilnehmer sich weder schlagen noch ihre Standpunkte mit anderen als rhetorischen Waffen ausfechten – ein Gespräch also, bei dem niemand an die §§ 223 ff. Strafgesetzbuch (StGB) denken müsste. Das ist natürlich juristisch und daher ausnahmsweise zu einfach gedacht.
Bei der "Gewaltfreien Kommunikation", von ihren Anhängern oft auch nur kurz "GFK" genannt, handelt es sich vielmehr um eine Doktrin, die zuerst vom US-amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg (geb. 1934) propagiert wurde – als "machtvolles Instrument" zum Umgang mit Konflikten vom völkerrechtsrelevanten Gewaltverhältnis bis zur Auseinandersetzung zerstrittener Eheleute. Seine Doktrin trug Rosenberg ein von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gestiftetes Ehrenamt ein. Diese hatte für die Jahre 2001 bis 2010 eine "Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit für die Kinder der Welt" ausgerufen – unter der Kuratel eines Gremiums, dem neben religiösem Führungs- und Jetset-Personal eben auch der Erfinder der "Gewaltfreien Kommunikation" angehörte. Es fragt sich, ob man derlei noch als völkerrechtsrelevantes Handeln sehen oder gleich zum Sarkasmus übergehen will.
Das "Hauptwerk" Marshall B. Rosenbergs ist zwar erst 2011 in deutscher Sprache unter dem Titel "Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens" [sic!] erschienen, fand aber zuvor schon breite Wahrnehmung durch die kleinteiligen Distributionsverfahren der Erwachsenenbildung, Friedenspädagogik und – nicht zu vergessen – der mählich wachsenden Mediationsbranche.
2/3: Erbauliche Sammlung einfachster Kommunikationsstrategien
Bei der Doktrin der "Gewaltfreien Kommunikation" handelt es sich nun, wenn das genannte "Hauptwerk" als Zeugnis genügen darf, um eine erbauliche Sammlung einfachster Kommunikationsstrategien, die als Angebot für die Lösung aller zwischenmenschlichen Konflikte freilich etwas einfältig wirkt. Ein Beispiel liest sich wie folgt:
"Statt anderen Leuten die Schuld für unsere Gefühle zu geben, akzeptieren wir unsere Verantwortung, indem wir unsere Bedürfnisse, Wünsche, Werte oder Gedanken erkennen und akzeptieren. Achten Sie auf die Unterschiede zwischen den nun folgenden Beschreibungen einer Enttäuschung: […] A: ‚Du hast mich enttäuscht, weil du gestern abend nicht gekommen bist.‘ B: ‚Ich war enttäuscht, als du nicht gekommen bist, weil ich ein paar Dinge mit dir besprechen wollte, die mir Sorgen machen.‘"
Die "Gewaltfreie Kommunikation nach Marschall B. Rosenberg" besteht aus vier Komponenten: Beobachten, "was in einer Situation tatsächlich geschieht" verbunden mit der "Kunst", "unsere Beobachtung dem anderen ohne Beurteilung mitzuteilen". Sodann: "Gefühle … sprechen wir aus, wie wir uns fühlen, wenn wir diese Handlung beobachten." – "Im dritten Schritt sagen wir, welche Bedürfnisse hinter diesen Gefühlen stehen." Schließlich soll im vierten Schritt der Kontrahent mit einer Bitte dazu gebracht werden, etwas zu tun, das "unser beider Leben schöner macht".
Universale Einsetzbarkeit der GFK
Rosenberg gibt einige Beispiele für den Einsatz der "GFK", in teils rechtlich relevanten Falllagen. Dem Häftling eines schwedischen Gefängnisses will er etwa bei der Analyse seiner Aggressionsprobleme geholfen haben. Auf die Frage nach den Umständen seiner Wut befragt, habe der Häftling geantwortet: "Vor drei Wochen habe ich bei der Gefängnisleitung einen Antrag eingereicht, und sie haben darauf nicht geantwortet." Der US-amerikanische Berater will dem Häftling nun beigebracht haben, dass dies nur eine Beschreibung des "Anlasses" seiner Wut, nicht aber ihrer "Ursache" gewesen sei. Das Zerlegen von Konflikten in vermeintliche "Anlässe" und angeblich "eigentliche Ursachen" ist eines der propagierten Universalprinzipien "Gewaltfreier Kommunikation". Der Jurist würde hier wohl eher nach amtlicher Abhilfe binnen angemessener Frist fragen.
Eine geradezu slapstickartige Wundergeschichte zur Wirkungsmacht "Gewaltfreier Kommunikation" spielt sich in einer Palästinensersiedlung bei Betlehem ab. Rosenberg hält einen Vortrag zu seiner Doktrin, wird aber von einem arabischen Zuhörer als "Mörder" beschimpft, weil er US-Bürger ist und einige Tränengasgranaten, die unlängst im Dorf Verwendung durch die Besatzungsmacht gefunden hatten, erkennbar aus US-amerikanischer Produktion stammten. Dem schimpfenden Palästinenser begegnet Rosenberg mit der Frage, ob die US-Regierung das Tränengas besser anderenorts hätte einsetzen sollen, worauf der Araber mit dem Wunsch nach Kanalisation für sein Dorf kontert – was so weitergeht, bis der amerikanische Dozent als Gast in der palästinensischen Familie aufgenommen wird.
"Und, was soll dieser sozialtechnologische Quark?"
Eine wichtige Technik der "Gewaltfreien Kommunikation" ist das so genannte Paraphrasieren. Wenn Sie, lieber Leser, verehrte Leserin dieses LTO-Feuilletons also gerade laut denken sollten: "Dieser esoterische Quark irgendeines US-Gelehrten hat doch nichts mit dem deutschen Recht zu tun!", würde ich Ihnen antworten: "Sie fragen sich gerade, was dieser Artikel mit dem deutschen Recht zu tun hat? Darauf möchte ich Ihnen antworten mit…."
…der sicherlich simplen Erkenntnis, dass das paraphrasierende Aufnehmen einer fremden Aggression in eine eigene, fragende Wiedergabe ein ganz nützliches Instrument ist. Juristen lernen das möglicherweise schon als Technik, um im mündlichen Staatsexamen eine kleine Denkpause zu gewinnen. Rechnen Sie also einfach damit, dass Ihnen diese schlichte Technik, andere Menschen den Kakao trinken zu lassen, durch den sie gerade gezogen werden, auch noch einmal als wertvolle Kunst der Mediation verkauft werden wird.
Eingebettet sind solche etwas einfältigen Kommunikationstechniken übrigens in ein Weltbild, in dem die Vorstellung, dass "bestimmte Handlungen Lob und andere Strafe verdienen", als "lebensentfremdete Kommunikation" gilt. Ein juristischer Berater müsste demnach beispielsweise einem an seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beschädigten Klienten vermitteln, dass er seinem Gegner den Schriftsatz über strafbewehrte Unterlassung nebst Kostennote und/oder Schadensersatzforderung nicht etwa ins Haus schicken dürfe, weil der andere diese Sanktion "verdient", sondern um moralisch zu wachsen, im O-Ton Rosenbergs: "Ich bin davon überzeugt, daß Menschen sich ändern, aber nicht, um Strafen zu entgehen, sondern weil sie sehen, daß eine Veränderung ihnen selbst nutzt."
3/3: Bescheidenes Lob der Gewalt
Gewalt ist juristisch eigentlich eine gute Sache, solange sie von Rechts wegen verübt wird. Ohne Staatsgewalt wären zum Beispiel Verfassungsgerichtsurteile zu lesen, wie es mancher Polizeigewerkschaftsfunktionär wohl gerne hätte, also als unverbindliche Moraltraktate. Vielleicht hat das der gewöhnliche Anwalt auch nicht so im Ohr, schließlich plädiert er selten in Karlsruhe.
Mag auch sein, dass die endlosen Überdrehungen des Gewaltbegriffs im Strafrecht zu seiner schwindenden Popularität beigetragen haben: Wer "Sitzen als Gewalt" definiert, muss Nichtjuristen arg viel erklären. Und wann haben schon Strafverteidiger Gelegenheit, friedensbewegte Kasernenblockierer zu vertreten?
Dass der Begriff der "Gewalt" nicht den positiven Klang hat, den er in Juristenohren haben sollte, dürfte aber vor allem an der sprachkulturellen Verwirrungsarbeit des Gesetzgebers liegen. Heute findet sich das Wort "Gewalt" im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ja vor allem in Sphären, die jeder menschlichen Verantwortung entzogen sind, als "höhere Gewalt" etwa, von der man in anderen Ländern lyrisch als "Act of God" spricht. Weitere Gewalt-Reste finden sich im Recht der Besitzverhältnisse.
Ein Recht ohne Liebe und die gute, alte Gewalt
Dabei hatte der historische Gesetzgeber, als er das BGB ins Reichsgesetzblatt brachte, doch einen viel abstrakteren, weiteren und auch positiven Gewaltbegriff. Um nur § 4 BGB in der Fassung vom 1. Januar 1900 zu zitieren, es geht um die vorzeitige Volljährigkeit noch nicht 21-jähriger Personen:
"(1) Die Volljährigkeitserklärung ist nur zulässig, wenn der Minderjährige seine Einwilligung ertheilt.
(2) Steht der Minderjährige unter elterlicher Gewalt, so ist auch die Einwilligung des Gewalthabers erforderlich, es sei denn, daß diesem weder die Sorge für die Person noch die Sorge für das Vermögen des Kindes zusteht. Für eine minderjährige Wittwe ist die Einwilligung des Gewalthabers nicht erforderlich."
Mit der Reduzierung des Volljährigkeitsalters auf 18 Jahre wurde diese Norm aufgehoben, in anderen Zusammenhängen tauschte der Gesetzgeber der 1970er- und 1980er-Jahre die "elterliche Gewalt" leider gegen die farblose "elterliche Sorge" aus.
Das war gut gemeint, stahl dem Juristen aber seinen guten, alten Gewaltbegriff. Damit geht ein Verlust an juristischem Realismus einher. Der ostpreußische Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) konnte beispielsweise noch den Ehevertrag als ein Rechtsverhältnis beschreiben, das notwendig sei, "wenn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen" ("Geschlechtsgemeinschaft … ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht…").
Mit so eindeutigen Worten war beschrieben und ist bis heute jedem Juristen und jeder Juristin klar, dass es im Ehe- und Familienrecht letztlich um Vermögensfragen geht, sogar um "wechselseitigen Gebrauch" höchstpersönlicher Mittel. Klar ist selbst im Beispiel des Jahres 1900: Ein Kind ist zwar kein Eigentum, die Klärung seiner Verhältnisse geschieht aber doch bis heute weitgehend in possessiven Kategorien: Wann hat es unter der Aufsicht von wem wo zu sein? Man spricht es nur heute nicht mehr so deutlich aus.
Auch dass etwa "Liebe" kein Rechtsbegriff ist, müsste man nicht erklären, wäre "Gewalt" als die ehrliche Vokabel in der possessiven Regulierung auch ehe- und familienrechtlicher Fragen nicht durch "Sorge" ersetzt worden.
Ihr ganzes Leben immer nur verstanden worden
Matthias Beltz (1945-2002), der an Carl Schmitt geschulte Kabarett und nur durch die Weltrevolution von 1968 am Rechtsreferendariat gehinderte Spötter, erklärte manches Problem zarter Kinderseelen in der friedfertigen Bundesrepublik so: "…und mit 18 müssen sie dann zum Therapeuten, weil sie ihr ganzes Leben immer nur verstanden worden sind."
Dagegen wird hoffentlich auch noch in Zukunft die Juristenausbildung helfen.
Denn mich freut es ja – als der vergleichsweise kleinwüchsige Straßenbahn-Nutzer, der ich bin – wenn sich großgewachsene Jungjuristen gegen die eingangs angezeigten Nachwuchsverbrecher mit ihren Straßenkotschuhen zur Wehr setzen. Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen. Scharfkantiges Juristendeutsch und ein freundliches Verständnis für die sprachlich legitimierte Staatsgewalt helfen jedenfalls jungen Juristen ganz sicher bei der Verteidigung der Rechtsordnung.
Das will ich keinesfalls durch zu viel "Gewaltfreie Kommunikation" forttherapiert sehen.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: Ein bescheidenes Lob der Gewalt . In: Legal Tribune Online, 06.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7910/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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