Wenige Rechtsinstitute entwickelten im 20. Jahrhundert so viel Sprengkraft wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ein wichtiges, aber gründlich vergessenes Beispiel gab lange Zeit Südtirol. Es war Gegenstand einiger deutscher Prozesse.
Im Januar 1965 begann vor dem Landgericht (LG) München I ein Verfahren, das in der Geschichte der politischen Justiz Deutschlands keinen allzu prominenten Platz erhalten sollte – kein Wunder, ging es den drei Angeklagten doch um ein nur schwer bestimmbares, heute recht sonderbar anmutendes nationales Interesse.
Angeklagt waren zwei vormalige Studenten der Wirtschaftswissenschaften, die Österreicher Josef Zinkl und Peter Wittinger, geboren 1940 bzw. 1937, und der 1949 geborene Rudolf Hessler, deutscher Staatsangehöriger, Student der Technischen Hochschule München.
Nach den Feststellungen des Gerichts hatte Norbert Burger (1929–1992), ein deutschnationaler Akademiker aus Österreich, diese Studenten für den sogenannten "Befreiungsausschuss Südtirol" angeworben. Die Gelegenheit dazu ergab sich in den Kreisen der in München ansässigen Burschenschaft "Danubia", die noch im Jahr 2021 das Interesse des bayerischen Verfassungsschutzes genoss.
Das LG München I verurteilte Zinkl zu zehn, Hessler zu sechs Monaten und Wittinger zu einem Jahr Gefängnis wegen Geheimbündelei und Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung, §§ 128, 129 Strafgesetzbuch (StGB), Wittinger zudem wegen eines Sprengstoffverbrechens.
Auf das Revisionsurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12. Oktober 1965 (Az. 3 StR 15/65) und weitere Entscheidungen wird später zurückzukommen sein.
Selbstbestimmungsrecht bleibt taktisch motiviertes Postulat
Im Lauf des Ersten Weltkriegs hatten mit dem bolschewistischen Revolutionär Leo Trotzki (1879–1940) und dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) führende Vertreter der künftigen Supermächte des 20. Jahrhunderts ein "Selbstbestimmungsrecht der Völker" postuliert – naturgemäß zwar mit erheblichen weltanschaulichen Differenzen, jedoch durchaus einig in ihrem antiimperialistischen Selbstverständnis, damit die alten Reiche in Frage zu stellen: vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn bis zu den afrikanischen und asiatischen Kolonialimperien der europäischen Mächte.
Insbesondere Wilsons "14-Punkte-Programm", mit dem er am 8. Januar 1918 wesentliche Kriegsziele der USA formulierte, wurde nicht nur in seiner antiimperialistischen, vor allem gegen Österreich-Ungarn gerichteten Tendenz verstanden, sondern als übergreifendes neues Prinzip, ja als Rechtsanspruch ethnischer Minderheiten.
Südtirol gehörte zu den ersten Fällen, in denen es vorläufig ganz ohne Belang bleiben sollte.
Denn die Entente-Mächte, Frankreich und das Vereinigte Königreich, hatten 1915 in Geheimgesprächen zugesichert, dass der Brenner – die Wasserscheide der Alpen – die künftige Nordgrenze des Königreichs Italien werden sollte. Im Gegenzug war Italien aus dem bisher bestehenden Bündnis mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich ausgeschieden. Mit dem Friedensvertrag von Saint Germain en Laye wurden das deutschsprachige Südtirol und das italienischsprachige Trentino 1919 aus dem habsburgischen Kronland Tirol herausgelöst und Teil des italienischen Staates.
Nach der faschistischen Machtergreifung im Jahr 1922 begann in der Region eine rigide Politik der "Italianisierung". Die deutsche Amtssprache wurde verboten, deutschsprachiger Unterricht konnte nur noch in "Katakomben-", also Untergrundschulen gegeben werden. Sogar deutschsprachige Grabsteine wurden mitunter ins Italienische ummodelliert.
Nach der außenpolitischen Verständigung zwischen Hitler und Mussolini im Jahr 1939 wurden die deutschsprachigen Südtiroler vor die Wahl gestellt, für Italien zu optieren oder in den deutschen Machtbereich auszuwandern – von den 75.000 Menschen, die ins Deutsche Reich bzw. von ihm besetzte Gebiete migrierten, kehrten 30.000 nach dem Zweiten Weltkrieg zurück.
Südtirol als Raum politisch motivierter Gewalt
In dürren und damit auslegungsoffenen Worten regelte zwar 1946 ein Abkommen zwischen Italien und der wieder von Deutschland getrennten Republik Österreich die "volle Gleichberechtigung" der deutsch- und italienischsprachigen Einwohner Südtirols. Es sollte etwa Deutsch als Amts- sowie als Unterrichtssprache der Grund- und Mittelschule zugelassen werden. Doch wurde in den 1950er Jahren zum einen die Umsetzung dieses Abkommens in rechtlicher Hinsicht als mangelhaft wahrgenommen. Zum anderen sah sich eine beachtliche Zahl der deutschsprachigen Südtiroler von Modernisierungsprozessen abgehängt, etwa im öffentlichen Wohnungsbau oder bei der Aufnahme von Beschäftigungsverhältnissen außerhalb der Landwirtschaft.
Waren Wohnungen des öffentlichen Wohnungsbaus bisher schon beinahe ausnahmslos italienischen Bewerbern zugänglich gemacht worden, führte 1957 die Ankündigung, in Bozen weitere 4.000 Volkswohnungen zu errichten, zu einer Kundgebung von – gemessen an der Bevölkerung – außerordentlichen 35.000 Teilnehmern. Dabei mischten sich Forderungen nach einer Sezession von Italien in solche hinein, die im realistischen Rahmen blieben, z.B., das Monopol italienischsprachiger Beamter in der Provinzverwaltung zu beenden.
Bemühungen unter anderem des neuen österreichischen Außenministers Bruno Kreisky (1911–1990) führten dazu, dass sich die Vereinten Nationen mit der Sache befassten, dann kam es zu vorläufig ergebnislosen Verhandlungen zwischen Österreich und Italien. In der zeitlichen Folge verübten Angehörige der Untergrundorganisation "Befreiungsausschuss Südtirol" – jener Vereinigung, zu der sich die Angeklagten des Münchener Verfahrens gesellten – am 30. Januar und 2. Februar 1961 erste Sprengstoffanschläge gegen Symbole der faschistischen Herrschaft, unter anderem ein Mussolini-Denkmal.
In der sogenannten "Feuernacht" vom 12. Juni 1961 wurden 40 Hochspannungsmasten gesprengt, ein Zeichen gegen die Zuwanderung von italienischsprachigen Bürgern und die Vorenthaltung von Autonomierechten.
Bis es im Jahr 1969 zwischen Italien und Österreich zu Vereinbarungen über die praktische Ausgestaltung der Verwaltungsverhältnisse in Südtirol kam, reagierte die italienische Zentralregierung mit der beinahe üblichen Idiotie einer provozierten Staatsgewalt: Bis zu 40.000, vielfach sozial überforderte, paramilitärisch ausgerüstete Polizisten aus dem Süden wurden herangeschafft, Ausgangssperren verhängt. Im Rahmen der Verhaftungswellen kam es zu systematischen Misshandlungen und Folter an südtiroler Häftlingen sowie zu obskuren Todesfällen. Strafverfahren gegen mutmaßlich verantwortliche Carabinieri blieben fruchtlos und vergifteten die öffentliche Meinung.
Österreicher und Deutsche als Beihelfer der "Freiheitskämpfer"
Die von deutschsprachigen Südtirolern formulierten Anliegen – im weiten Spektrum von schlichten menschen- und bürgerrechtlichen Ansprüchen bis hin zu abwegigen deutschnationalen Großraumfantasien – fanden in Österreich und auch in Deutschland einigen Anklang.
Während nicht gänzlich geklärt ist, wie weit der österreichische Außenminister Kreisky in die ersten Sprengstoffanschläge eingeweiht war, bekannte Heiner Geißler (1930–2017) offen, er habe um das Jahr 1960 herum für den "Befreiungsausschuss" mehrfach Dynamit durch die Alpen geschmuggelt – wenngleich er 2015 auch behauptete, dabei nicht gewusst zu haben, was er tat.
Rund drei Jahre, nachdem der spätere CDU-Generalsekretär und Bundesfamilienminister Geißler neben seiner juristischen Doktorarbeit – "um 1960" – Zeit fand, Dynamit durch die italienischen Berge zu tragen, waren die drei späteren Münchener Angeklagten teils unter Mitführen von Sprengstoff, teils nur zum Zweck des Auskundschaftens von Anschlagszielen in Südtirol und in benachbarten italienischen Landschaften unterwegs gewesen. Zeichnungen der Ziele waren angefertigt, Outdoor-Kleidung beschafft worden.
Als Kopf des Unternehmens fungierte der deutschnationale österreichische Aktivist Nobert Burger, der in den einschlägigen akademischen Kreisen über "Die italienische Unterwanderung Deutsch-Südtirols" promoviert worden und so gut vernetzt war, dass er seine in Deutschland studierenden Gesinnungsfreunde in bar honorieren konnte.
Die Strafsache Zinkl, Wittinger, Hessler bot dem LG München I und schließlich dem BGH eine Reihe schwieriger Details. So stellte sich die Frage, ob der Tatbestand der Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB auch kriminelle Handlungen betraf, die nur im Ausland begangen wurden, was der BGH, ausführlich begründet, bejahte.
Der etwas archaische Straftatbestand der Geheimbündelei, § 128 StGB, warf unter anderem die Frage auf, ob der Schutz der deutschen Staatsgewalt vor Verschwörern, die sich überwiegend im Ausland betätigten, hier überdehnt würde. Zudem war das Problem zu lösen, ob eine Vereinigung, die durchaus auch öffentlich tätig geworden war, sich als "geheim" qualifizieren ließ. Auch dies bejahte der BGH, etwa mit Blick auf die bewusst verschlüsselte Kommunikation zwischen dem Aktivistenführer Burger und seinen Münchener Genossen.
(Vermeintliches) Selbstbestimmungsrecht ist kein gutes Abwägungsgut
Ergänzt um die feine rhetorische Spitze, dass es sich bei den Angeklagten noch nicht einmal um Südtiroler, sondern um österreichische und deutsche Staatsangehörige handelte, fertigte der BGH auch die Beschwerde ab, dass das LG München I nicht die von der Verteidigung gewünschten Völkerrechtsgelehrten zur Lage Südtirols angehört habe:
"Grundsätzlich kann niemand vor dem Gericht eines Rechtsstaates damit gehört werden, er habe das Selbstbestimmungsrecht mit Gewalt durchsetzen dürfen, mag dieses Recht auch vertraglich versprochen sein […]. Gewiss liegt in der Nichterfüllung des gewährten Rechts auf Autonomie völkerrechtliches Unrecht. Durchsetzung des Rechts mittels Gewalt und Terror, der sich bei Anschlägen oft sogar gegen Unbeteiligte und Unschuldige richtet und richten soll zwecks 'Weckung des Weltgewissens', erzeugt aber ebensolches Unrecht."
Weitere Verfahren: Pressedelikte, Auslieferung an Italien
Die politisch motivierte Gewalt in Südtirol – im Namen des "Selbstbestimmungsrechts" – beschäftigte den BGH, soweit erkennbar, zuletzt noch im Jahr 1981, als er zum italienischen Auslieferungsbegehren gegen den Österreicher Peter Kienesberger (1942–2015) dahingehend entschied, dass es im Ermessen der Verwaltung, nicht der Justiz stehe, ihn nach Italien auszuschaffen (BGH, Beschl. v. 11.03.1981, Az. 4 ARs 18/80).
Noch zu erwähnen ist das BGH-Urteil vom 17. Dezember 1968 (Az. 1 StR 161/68). Wegen Billigung der von den selbsternannten "Freiheitskämpfern" begangenen terroristischen Straftaten angeklagt, § 140 Abs. 1 StGB, war der Verleger eines Buches des schon erwähnten Norbert Burger. Der BGH erklärte hier, dass das inländische Rechtsbewusstsein auch durch die Billigung einer Straftat gefährdet werde, die im Ausland gegen ausländische Staatsgewalt verübt wurde. Die Richter fanden aber – im Anschluss an die alte, liberale Rechtsprechung zum Republikschutzgesetz der Weimarer Zeit – kein hinreichend ausdrückliches Billigen der fremden Tat. Denn "die zustimmende Kundgebung" müsse "aus sich selbst heraus verständlich sein", "als solche unmittelbar ohne Deuteln" erkannt werden können.
Öffentliche Wahrnehmung – fragwürdiger Spiegel-Humor
Sollte sich hier der Eindruck vermittelt haben, dass die Südtirol-Frage in Deutschland tendenziell als ein Problem behandelt wurde, mit dem "man" lieber nichts zu tun hatte, liegt man nicht falsch. So hielt sich die Bundesregierung deutlich zurück, auch wenn es nicht ausbleiben konnte, dass deutsche Touristen mit der italienischen Counter-Intelligence-Polizeiarbeit konfrontiert wurden.
Ähnliches gilt für die publizistische Öffentlichkeit. Nach dem Desaster der NSU-Ermittlungen gewinnt zwar heute die Verwicklung völkischer und deutschnationaler Kreise in terroristische Verbrechen eine gewisse neue Aufmerksamkeit: Inzwischen wird mit Verwunderung festgestellt, wie wenig nachhaltige Beachtung das Attentat gegen die Besucher des Münchener Oktoberfests oder der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke, 1980 in Erlangen, erhielten.
Doch am Tatkomplex "Südtirol" wäre womöglich noch eine Vorgeschichte der Verharmlosung aufzuarbeiten. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel leitete etwa 1967 das Interview mit dem einschlägig bewanderten Norbert Burger mit der sinnigen Frage ein: "Herr Burger, Sie haben Österreichs 'Nationaldemokratische Partei' gegründet – weil man Sie in Südtirol nicht mehr bumsen läßt?"
Auch im zugehörigen Bericht mochte die Redaktion gar nicht davon ablassen, die Sprengstoff-Anschläge – nach österreichischem Vorbild – infantil als "Bumsen" zu bezeichnen.
Dabei hatte der Regisseur Florian Trenker (1930–2003) gegen die launige Berichterstattung nach den ersten Attentaten schon 1963 in einem Leserbrief geschrieben:
"Sie fassen die ganze Bombenlegerei scheinbar als Gaudi auf, rechtfertigen sie und billigen das Tun dieser Dummköpfe, die drauf und dran sind, unser Land wirtschaftlich zu ruinieren. Sie kommen zu uns, legen Bomben, säen Furcht und Terror und werden in Deutschland quasi als Helden gefeiert. Damit erweisen Sie uns aber gar keinen guten Dienst, wir leben nun einmal in Italien und müssen die deutsche und österreichische Pressehetze gegen Italien ausbaden. Sie haben leicht reden und schreiben, in Hamburg und im deutschen Gebiet überhaupt, denn die Konsequenzen dieser Hetze tragen ja die dummen Schrofentrottel in Südtirol. – Ich kann Ihnen nur sagen, uns geht es gut unter den Italienern, und ich wünsche ehrlich und aufrichtigen Herzens allen armen Deutschen in der sogenannten DDR einen Bruchteil jener Presse-, Rede-, Reise- und Kulturfreiheit, die wir Südtiroler von den 'bösen Welschen' seit Kriegsende erhalten."
"Freiheitskämpfe" in Südtirol: . In: Legal Tribune Online, 08.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50681 (abgerufen am: 03.11.2024 )
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