Dass akademisch gebildete Täterinnen und Täter nach 1945 beste Chancen hatten, mit NS-Verbrechen ungestraft davonzukommen, ist bekannt. Aber die historischen Erfahrungen der Opfer werden bis heute in Deutschland zu wenig berücksichtigt.
Der Schriftsteller Christoph Heubner (1949–) hielt in seiner Funktion als Vertreter des Internationalen Auschwitz-Komitees dieser Tage der deutschen Justiz ein "Versagen und Versäumnis" vor, erst jetzt gegen Personen vorzugehen, die in nachrangigen Funktionen für den Betrieb der Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslager mitverantwortlich waren. Das ist keine allzu neue Botschaft.
Anlass zur Kritik Heubners , der als Vizepräsident des Auschwitz-Komitees befragt wurde, gab unter anderem das beim Landgericht Itzehoe angestrengte Verfahren gegen eine 95 Jahre alte Frau, die zwischen dem Juni 1943 und April 1945 als Sekretärin und Stenotypistin für den Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig gearbeitet hatte, und der erst jetzt Beihilfe zum Mord an mehr als 10.000 Menschen vorgeworfen wird.
Dass die Gesetzgebung ("Hat Dreher gedreht?") und die Rechtsprechung (BGH, Urt. v. 20.05.1969, Az. 5 StR 658/68) seit Ende der 1960er Jahre die Strafverfolgung von Täterinnen und Tätern namentlich in nachrangigen Positionen der NS-Mörderhierarchie stark limitierten und dass dies nach dem Fall Demjanjuk eine späte Wende nahm, ist rechtskundigen Beobachtern bekannt. Der Kritik blieb damit nur ein etwas unbefriedigendes moralisches Momentum.
Medizinische Forschung im Konzentrationslager
Aus dem Blick gerät bei diesem "Dreher"-Komplex, dass mitunter nicht nur die Strafverfolgung ausblieb, sondern bereits verurteilte NS-Verbrecher mit einem günstigen Urteil seitens der Justiz und jener akademischen Kreise rechnen konnten, denen sie vor 1945 angehört hatten.
Wer etwa aus tagesaktuellen Gründen in einer handelsüblichen Datenbank nach Entscheidungen zu seuchenmedizinischen Rechtsfragen sucht, wird neben gänzlich unverfänglichen Angelegenheiten auch auf einen eigentümlichen Beschluss des Bundesdisziplinarhofs vom 8. Januar 1962 (Az. II D 22/61) in der Sache eines früheren Abteilungsdirektors und Professors "bei dem Institut für Infektionskrankheiten 'Robert Koch' in Berlin" stoßen.
Es handelt sich um den Fall des Mediziners Gerhard Rose (1896–1992). Rose war am 19. August 1947 durch Urteil des amerikanischen Militärgerichtshofs in der Rechtssache "United States of America v. Karl Brandt, et al.", dem sogenannten Nürnberger Ärzteprozess, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe unter anderem wegen seiner Verantwortung für seuchenmedizinische Versuche an Gefangenen der Konzentrationslager Buchenwald und Natzweiler verurteilt worden.
Bereits 1951 zu einem Strafmaß von 15 Jahren begnadigt, entließen ihn die amerikanischen Behörden am 3. Juni 1955 aus der Haft. Seit dem 1. Juli 1955 erhielt Rose ein seiner vormaligen Stellung entsprechendes Übergangsgehalt nach dem "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" – kurz G131-Gesetz.
Der Bundesinnenminister – im Amt war der CDU-Politiker Gerhard Schröder (1910–1989) – leitete im Jahr darauf ein Verfahren nach § 9 G131-Gesetz ein, um dem vormaligen leitenden Beamten des Robert-Koch-Instituts die Vorzüge dieses Status zu entziehen.
Rehabilitation eines bereits verurteilten NS-Täters
Die Anschuldigungsschrift in diesem Disziplinarverfahren warf dem Mediziner vor, "in den Jahren 1942 und 1944 für Fleckfieber-Impfstoffversuche an Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald, die den Tod einer größeren Anzahl von Menschen zur Folge hatten, Impfstoff zur Verfügung gestellt und teils diese Versuche angeregt zu haben".
Das Urteil des US-Militärgerichts im Jahr 1947 hatte sich im Fall Rose auf Dokumente gestützt, die der KZ-Arzt Erwin Ding-Schuler (1912–1945, Tod durch Suizid) zu seinen Fleckfieber-Versuchen anfertigen ließ – erhalten durch Eugen Kogon (1903–1987), den in der jungen Bundesrepublik bekannten Soziologen und Politikwissenschaftler, der wegen seiner NS-Gegnerschaft selbst Häftling im KZ Buchenwald war und als Schreibkraft in der Fleckfieber-Versuchsstation des Lagers eingesetzt wurde.
In der ersten Instanz, der Bundesdisziplinarkammer VII (Hamburg), hatte der Bundesdisziplinaranwalt eine erneute Befragung des Zeugen Kogon beantragt sowie die Verwendung des im Nürnberger Prozess eingeführten Tagebuchs von Ding-Schuler, dessen Beweiswert von Seiten Roses angegriffen wurde – naheliegend, hatten Zeugen wie Eugen Kogon nicht erst durch die Existenz derartiger Dokumente in Lebensgefahr gestanden, sobald sich die alliierten Truppen dem Konzentrationslager näherten. Die Beweiskette sah angesichts der in verschärfter Lebensgefahr agierenden Zeugen medizinischer Experimente nicht selten etwas abenteuerlich aus.
Fleckfieber-Forschung im KZ
In seiner Marburger Dissertation (2004) zur "Fleckfieberforschung im Deutschen Reich 1914–1945" zitiert Thomas Werther die Nürnberger Aussage des französischen Entomologen Alfred Bachalowsky (1901–1983), der als KZ-Häftling Zeuge der Fleckfieber-Experimente in Buchenwald wurde:
"Man nahm z.B. für einen Versuch mit Impfstoff 100 Personen. 80 bekamen eine Präventivimpfung. 15 Tage nach der letzten Impfung spritzte man den gleichen Häftlingen intravenös fünf ccm virulentes Blut eines Typhuskranken" – gemeint ist hier Fleckfieber – "auf dem Höhepunkt seiner Infektion. Gleichzeitig erhielten die 20 übrigen Häftlinge, die nicht geimpft worden waren und ebenfalls als Versuchsobjekte dienten, dieselbe Menge. Nach vier oder fünf Tagen starben die Versuchsobjekte oder begannen zu sterben; denn niemand kann solches Quantum überleben. Gewöhnlich genügt 1/10 ccm, um den Tod herbeizuführen."
Aus Zahl und Zeitpunkt der Todesfälle sollte auf die Wirksamkeit der Fleckfieber-Impfstoffe geschlossen werden. Etwaige Überlebende der Experimente wurden teils als Pflegekräfte eingesetzt, teils mittels Phenolspritze ins Herz ermordet.
Bundesdisziplinarkammern Hamburg und Düsseldorf sprechen frei
Die Bundesdisziplinarkammer Hamburg hatte sich, was die Verwendung der Dokumente betraf, die zur Tätigkeit von Ding-Schuler angefertigt worden waren – des für die Fleckfieber-Experimente in Buchenwald vor Ort verantwortlichen Mediziners –, auf den Standpunkt gestellt, diese befänden sich in den USA und seien daher dem Zugriff des Gerichts entzogen.
Die Kammer befand, dass nicht bewiesen sei, dass der leitende, hoch vernetzte Infektionsmediziner Rose an den tödlichen Impfstoff-Experimenten in Buchenwald – insbesondere durch ein in Kopenhagen sowie ein in Bukarest entwickeltes Vakzin – beteiligt gewesen sei und sprach ihn auf Kosten der Bundeskasse frei.
Unter anderem weil sich die Kammer nicht die Mühe gemacht hatte, beim Auswärtigen Amt um Hilfe zu ersuchen, Zugriff auf die in den USA archivierten Beweismittel zu erhalten, hob der Bundesdisziplinarhof die Hamburger Entscheidung auf. Zeugen des Hamburger Prozesses wie der Arzt Alexander Mitscherlich (1908–1982) erklärten später, den Eindruck gewonnen zu haben, es sei den Richtern der Kammer mehr darum gegangen, seine kritische Haltung gegenüber dem medizinisch-industriellen Komplex des NS-Staats zu diskreditieren als an der Wahrheitsfindung in der Sache Rose zu arbeiten.
Doch auch die Bundesdisziplinarkammer Düsseldorf, an die der Bundesdisziplinarhof die Sache verwies, wollte keine Verantwortung Gerhard Roses für die medizinische Forschung in den Konzentrationslagern entdecken – bis er 1992 starb, alimentierte der deutsche Staat den in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Menschheitsverbrecher verurteilten Mediziner.
Historische Erfahrungen berücksichtigen
Thomas Werther bietet in seiner instruktiven Arbeit Erklärungen dafür, warum die Forschung zum Fleckfieber, einer bakteriellen, durch Kleiderläuse übertragenen bakteriellen Erkrankung, mörderische Züge annahm.
Der Gesetzgeber hatte sich, inspiriert durch die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, bereits 1920 zu detailfreudigen Regelungen entschlossen, wie dieser sozialmedizinisch gut beherrschbaren Erkrankung beizukommen sein würde, sollte sie denn im Inland auftreten – mit Hygiene und hinreichenden Wohnverhältnissen konnte Fleckfieber keine echte Herausforderung sein. In Ermangelung von Krankheitsfällen in Deutschland war die medizinische Forschung und pharmakologische Industrie – also die I.G. Farbenindustrie AG – jedoch schlecht auf die deutschen Kriegspläne und den Völkermord in Osteuropa vorbereitet.
Die sozialmedizinisch effektiven Mittel – Ernährung, Wohnraum, Möglichkeiten, Körper und Kleidung zu waschen – wurden dort nach 1939 namentlich den Angehörigen der jüdischen Minderheit, Sinti und Roma 'Zigeunern' oder sowjetischen Kriegsgefangenen systematisch entzogen. Zugleich wurden sie als Überträger der Laus und damit des Fleckfiebers dargestellt. Als etwa Josef Mengele (1911–1979) im Mai 1943 seinen Dienst in Auschwitz antrat, ließ er sogleich über 1.000 Sinti und Roma wegen Fleckfieber-Verdachts in den Gaskammern ermorden.
Dass aus den historischen Verbrechen unmittelbar etwas für die Gegenwart zu lernen wäre, darf man zwar bezweifeln. Ein Nebenbefund mag aber erwähnt werden: In Deutschland gibt es endlose Kontroversen um Vokabeln wie "Zigeunerschnitzel". Frauen laufen nach Überzeugung feministischer Linguisten Gefahr, "unsichtbar" zu werden, wenn die Stimme im Radio nicht drei Mal hintereinander "Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten" hechelt.
Während aber heute in den USA der Frage nachgegangen wird, welche Folgen die historischen Erfahrungen der afroamerikanischen Bevölkerung mit der unmenschlichen, indes nicht genozidalen medizinischen (Impfstoff-) Forschung der Jahre 1932–1972 für die Bereitschaft haben, in Sachen SARS-CoV-2 auf staatliche Maßnahmen zu vertrauen, bleiben vergleichbare Antworten für die Sinti und Roma ciganide Minderheit Europas sehr schmallippig oder sie fallen ganz aus. Es ist merkwürdig, wer im moralischen Urteil wirklich stets unsichtbar bleibt.
Der Fall Gerhard Rose: . In: Legal Tribune Online, 21.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44318 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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