Der 8. März ist der "Internationale Frauentag". In der DDR wurden zu diesem Anlass Pralinen an die Arbeitnehmerinnen verschenkt. Die für Gleichstellung zuständige Bundesministerin findet, dass es mit Konfekt heute nicht getan ist: die anatomische Ausstattung von Aufsichtsräten ist nun Gesetzgebungsgegenstand. Das mahnt an ein schon älteres rechtspolitisches Schreckgespenst: das Gender Mainstreaming.
"Ich finde", sagte die Ministerin, "es gibt in Deutschland kein gleichberechtigtes Leben von Männern und Frauen". Diese traurige Selbstauskunft stammt nicht etwa von Elisabeth Schwarzhaupt, die zwischen 1961 und 1966 als erste Frau überhaupt das Amt einer Bundesministerin bekleidete. Dabei hatte die ausgebildete Juristin in ihrem langen Leben (1901-1986) mit dem Kaiserreich und der Weimarer Republik, der NS-Diktatur und der frühen Bundesrepublik Rechtsordnungen zu Gesicht bekommen, in denen es – teils gelinde gesagt – um die Gleichberechtigung von Mann und Frau wirklich nicht zum Besten stand.
Nein, die Auskunft, dass es nach ihrem Empfinden "in Deutschland kein gleichberechtigtes Leben von Männern und Frauen" gebe, stammt von der amtierenden Bundesministerin Manuela Schwesig, geäußert im Herbst 2014. Wohl um sich nicht der Frage auszusetzen, ob sie mit Blick auf die Rechtslage unserer Verfassung noch ganz bei Trost sei – gleiches Recht gibt das Grundgesetz immerhin seit 1949 vor – ergänzte die Ministerin: "Viele Probleme, die für Frauen wichtig sind, sind ungelöst."
Begriffsverwirrung Gleichstellung/Gleichberechtigung
Zu den Problemen, die für Frauen wichtig sind und neuerdings gelöst werden, gehört bekanntlich die Verteilung von Aufsichtsratsmandaten in großen deutschen Unternehmen. Immerhin wird das neue Recht, nach dem Spitzenmanager mit dem anatomischen Merkmal X bei der Vergabe von Mandaten gegenüber solchen mit dem Merkmal Y solange zu bevorzugen sind, bis ein Verhältnis von X und Y von mindestens 3 zu 7 erreicht wird, nicht als Vorhaben der Gleichberechtigung, sondern der Gleichstellung verhandelt. Damit ist nun für etwas weniger rechtspolitische Sprachverwirrung gesorgt.
Für viel Verwirrung und Empörung sorgte in den vergangenen Jahren ein Instrument der Gleichstellungspolitik, von welchem bis heute behauptet wird, dass es nicht nur "viele Probleme, die für Frauen wichtig sind" lösen, sondern die sozialen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern überhaupt angreifen würde. Das "Gender Mainstreaming", unter dem laut Jan Bergmanns "Handlexikon der Europäischen Union" (5. Auflage 2015) in der am weitesten verbreiteten Definition des Europarats das Folgende zu verstehen ist: "Gender Mainstreaming besteht in der (Re-) Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen."
Gender Mainstreaming zwischen Abendländerei und Feminismus
Das ist ein ziemlich radikaler Ansatz. Entsprechend findet man – dieser Eindruck ist sicher nicht frei von subjektiven Wahrnehmungen – in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik zurzeit zwei radikal gegensätzliche Haltungen zum "Gender Mainstreaming", vereinfacht gesagt eine abendländische und eine feministische. Grob formuliert: Anhängern des Abendlands gilt das Mainstreaming als neue gleichmacherische Scheußlichkeit, während die Feministen schon in sachlicher Kritik am Mainstreaming eine reaktionäre bis verfassungsfeindliche Tendenz entdecken möchten. Zwischen beiden Lagern bewegt sich die öffentliche Verwaltung. Weil "Gender Mainstreaming" in Sätzen des positiven Rechts untergebracht wurde, muss sich die Verwaltung damit befassen, was ihr der Gesetzgeber damit eigentlich sagen möchte.
Ein Indiz dafür, dass Gender Mainstreaming – im Guten wie im Bösen – den Arbeitsalltag der Ämter erreicht hat, könnte es nun sein, wenn sich die mit seiner Umsetzung betrauten Amtsträger recht häufig vor Gericht über Geltung und Grenzen "der (Re-) Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen" stritten.
Und hier kommt ein bemerkenswerter Befund. Genau das tun sie offenbar sehr selten: sich über Gender Mainstreaming streiten. Nichtjuristen unter den Leserinnen, Lesern und Lesenden mögen den nun folgenden Buchstaben- und Zahlensalat einfach bis zur nächsten Überschrift überspringen:
VG Berlin (Beschl. v. 19.11.2004 – Az. 25 A 181.04), VG Hamburg (Urt. v. 24.3.2006 – Az. 8 K 4902/04), VG Frankfurt (Beschl. v. 6.6.2006 – Az. 9 G 5340/05) VG Schleswig (Urt. v. 5.7.2006 – Az. 1 A 51/04), OVG Berlin-Brandenburg (Urt. v. 24.1.2008 – 4 B 27/07), OVG Lüneburg (Beschl. v. 27.5.2008 – Az. 5 ME 111/08), VG Arnsberg (Beschl. v. 22.12.2009 – Az. 20 K 1205/09), VG Magdeburg (Beschl. v. 23.6.2010 – Az. 5 B 9/10; Beschl. Az. 5 B 10/10; Beschl. Az. 5 B 11/10), OVG Münster (Beschl. v. 15.3.2011 − Az. 1 A 634/09), LAG Schleswig-Holstein (Urt. v. 19.9.2011 – Az. 3 Sa 182/11), VG Magdeburg (Urt. v. 28.2.2012 – Az. 5 A 41/11), OVG Schleswig (Beschl. v. 9.11.2012 – Az. 12 LB 1/12), OVG Magdeburg (Beschl. v. 12.6.2013 – Az. 6 L 2/12), VG Köln (Urt. v. 22.8.2013 – Az. 15 K 5790/11), BVerwG (Beschl. v. 16.10.2013 – Az. 6 PB 20.13), VG Bremen (Urt. v. 2.4.2014 – Az. 1 K 920/12) und SG Detmold (Urt. v. 28.10.2014 – Az. S 2 SO 103/12).
2/2: Heiße Luft? – 19 Entscheidungen in über 10 Jahren
Der Buchstaben- und Zahlensalat steht für insgesamt nicht mehr als 19 Gerichtsentscheidungen, beginnend mit einem Beschluss des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin vom 19. November 2004 (Az. 25 A 181.04) und vorläufig endend mit dem Urteil des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 28. Oktober 2014 (Az. S 2 SO 103/12). Sie enthalten überhaupt die Wortfolge "Gender Mainstreaming". Gesucht wurde in einer unter Juristen für alltägliche Recherchebedürfnisse beliebten Datenbank, die ein großer rechtswissenschaftlicher Verlag pflegt.
In Worten: neunzehn Entscheidungen in gut zehn Jahren! Einerseits ist dies mehr ein Fingerzeig denn eine statistisch saubere Auskunft. Natürlich hängt die Aussagekraft der Ziffer "19" von der Mitteilungsfreude der Gerichte und der Aufnahmefreude der Datenbank-Redaktion ab. Andererseits ließe sich die Zahl sogar noch reduzieren: Das zuletzt genannte SG Detmold sinniert beispielsweise mehr allgemein und nicht entscheidungserheblich über die sozialpolitischen Moden der Gegenwart: "Der Ganztag trägt dazu bei, die verwandten Ziele der Integration, der Inklusion und des Gender Mainstreaming im Sinne einer geschlechtergerechten Förderung zu erreichen […]."
Gab es zumindest umstürzende Entscheidungen?
Selbstverständlich kann die für einen Zeitraum von gut zehn Jahren erstaunlich kleine Zahl von Gerichtsentscheidungen, die das "Gender Mainstreaming" jedenfalls erwähnen, für sich genommen nicht die Bedeutungslosigkeit des Konzepts beweisen. Was seine Befürworter an Hoffnung, was die Widerwilligen an Verachtung fürs Mainstreaming übrig haben, sie wären berechtigt, wenn sich unter den Entscheidungen "hard cases" befänden, also jener Typ umstürzender Veränderungen juristischer Auffassungen, die Richterinnen und Richter im angelsächsischen Raum vermeiden sollen: "hard cases make bad law".
Ob eine der genannten Entscheidungen "bad law" enthält, liegt im Auge des Betrachters. Der Beschluss des OVG Münster (v. 15.3.2011, Az. 1 A 634/09) behandelt beispielsweise das Begehren einer Gleichstellungsbeauftragten, an einem Disziplinarverfahren – ausgelöst möglicherweise durch sexuelle Verfehlungen am behördlichen Arbeitsplatz – beteiligt zu werden. Ihr erfolgloses Begehren stützte die Beauftragte hilfsweise auch auf das gesetzliche Gender-Mainstreaming-Prinzip. Normative Forderungen konnte das Gericht im Mainstreaming-Postulat indes hier nicht entdecken.
Gender Mainstreaming – mehr als ein "Schein"?
Eine gewisse Wirkung scheint das "Gender Mainstreaming" allenfalls in beamtenrechtlichen Auswahlverfahren zu entfalten, hier aber als Ausbildungsnachweis, den Bewerberinnen und Bewerber beizubringen haben. So findet sich im Urteil des LAG Schleswig-Holstein (v. 19.9.2011, Az. 3 Sa 182/11): Einer schwerbehinderten Bewerberin um das Amt einer kommunalen Frauenbeauftragten wird hier vorgehalten, sich nicht hinreichend mit "Gender Mainstreaming" und "Gremienarbeit" – zwei Hauptaufgaben von Frauenbeauftragen offenbar – befasst zu haben.
Auch in der Ausschreibung von Stellen des öffentlichen Dienstes, die mit "Familie und Gedöns" (Gerhard Schröder) gar nichts zu tun haben, taucht die Gender-Mainstream-Kompetenz als von Bewerberinnen und Bewerbern gefordertes Merkmals des Öfteren auf. Ein wenig merkwürdig ist es hier zwar schon, wenn "Mainstreaming"-Kompetenz in den Ausschreibungen vor Qualitäten genannt wird, die man bei Bewerbern vielleicht noch mehr schätzen sollte: strategische Kompetenz und hohe Selbstreflexionsfähigkeit. Im Sprengel des Verwaltungsgerichts Magdeburg (drei Beschlüsse vom 23.06.2010, Az. 5 B 9/10, 5 B 10/10 und 5 B 11/10) findet sich diese etwas befremdliche Reihenfolge in der Kompetenzaufzählung.
Wirklich interessant würde es aber wohl erst werden, wenn einmal folgende, bislang wohl fiktive Situation einträte: Um die Stelle in einem Gesundheitsamt einer Großstadt, für das epidemiologisch-statistische Hellsichtigkeit wünschenswert ist, bewerben sich zwei Personen: Person X hat neben Statistikkenntnissen einen Genderstudien-Bachelor, sagen wir: der Universität Duisburg-Essen. Person Y hat einen solchen Genderstudien-Bachelor nicht, dafür die etwas besseren Kenntnisse auf dem Gebiet der Epidemiologie. Welche Kompetenz sollte nach der Bestenauslese – "Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte", Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz – das Amt erhalten? Sollte ein Fortbildungsnachweis, ein Bachelor- oder Mastergrad in Genderstudien hier den Ausschlag geben?
Ein Lektürevorschlag, um sich über die analytische Schärfe der Genderstudien selbst ein Bild zu machen: "Widersprüche und Widerstände: Soziologische Perspektiven auf Gender, Management, Diversity und Mainstreaming" von Katja Sabisch (PDF, Seiten 101-113). Die Autorin ist Professorin für Gender Studies an der Universität Duisburg-Essen. Die Kombination aus Quellenbasiertheit und Reichweite des Werturteils ist hier durchaus erstaunlich. Andere Sozialwissenschaften sind weniger leistungsfähig. Wer dann noch die übrigen rund 100 Seiten der Broschüre "Wissenschaft und Politik gehen Hand in Hand – Gender Mainstreaming im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis am Beispiel der Stadt Bochum" studiert, hat vermutlich ein Judiz, ein Rechtsgefühl, dafür, welchen Rang das Gender Mainstreaming beispielsweise in der beamtenrechtlichen Bestenauslese haben sollte.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Internationaler Frauentag: Verwehtes Schreckgespenst - Gender Mainstreaming . In: Legal Tribune Online, 08.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14873/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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