Neben den Mönchen und den Uhrmachern machen Historiker die Juristen für die alltägliche Hektik verantwortlich. Strikt gegliederte Tages-, Wochen- und Jahresverläufe waren einst keine Selbstverständlichkeit – sie mussten erst von Rechts wegen etabliert werden. Dabei erfanden die Juristen Fristen, die noch heute gelten, aber auch solche, die längst vergessen sind. Ein Entspannungsbeitrag von Martin Rath.
Ein Nachtflugverbot hätten die Bürger der alten Reichsstadt Straßburg, heute Sitz mancher europäischen Zentraleinrichtung, wahrscheinlich ins Reich der Alpträume oder des Hexereirechts verbannt. Die Policeyverordnung der Stadt verbot es 1628 allerdings recht lebenspraktisch, abgesehen von lebensbedrohenden Notfällen, nach neun Uhr am Abend mit Pferd und Wagen durch die Stadt zu fahren. Für Ruhe und Ordnung sorgte das ganztägige Verbot von "Unfuegen vnnd Schwermereyen, auff den Gassen vnd an anderen Orten der Statt", während die "Nachtdäntz" ab sieben Uhr abends untersagt wurden, Gastwirtschaften hatten Sperrstunden am frühen Abend zu beachten.
Angesichts dieser gastronomieschädlichen Regelungen hätte man sich im 17. Jahrhundert den anwaltlichen Kraftausdruck: "Damit gehen wir bis nach Karlsruhe, und wenn die nicht helfen, bis nach Strasbourg!", wohl zweimal überlegt, zumal man das "Gehen" nach neun Uhr abends wörtlich nehmen musste.
Juristen etablieren Uhr- und Kalenderzeit
Aber im Ernst. Zu den großen historischen Erzählungen des Abendlandes gehört die Geschichte der Zeitordnung. Nicht erst beim Blick ins Fristenbuch, auf Papier oder elektronisch geführt, dürfen sich heutige Juristinnen und Juristen daran erinnert fühlen – zum Jahresende oder zwischendurch. Holzschnittartig formuliert geht die Geschichte so: Während der finstren Jahrhunderte des Mittelalters ordneten nur die Ordensleute in den Klöstern die (Tages-) Zeiten strikt: Ora et labora, das Gebet diente auch als Zeit-Messinstrument. Erst ab dem 16. Jahrhundert stellten die Uhrmacher immer bessere Uhrwerke zur Verfügung. Das Narrentum der Taschenuhren kam, aus Kostengründen, weit weniger schnell übers Volk als jenes der Mobiltelefonie heute.
Die juristischen Beamten der frühneuzeitlichen Städte und Fürstenhöfe brachten die stundengenaue Zeitabrechnung über Land und Leute. Am Anfang stand die Pflicht der Gemeinden, eine zentrale Uhr zu installieren. Auf die Technik folgten die juristischen Verordnungen darüber, was alles nach der Uhr zu regeln war. Tag- und Nachtzeiten, für die uhrenlose Gesellschaft bis dahin eine Ansichtssache des Tageslichts, wurden zur rechtlichen Angelegenheit: Ging der zur Fronarbeit verpflichtete Bauer vor dem Glockenschlag vom Feld, wurde dies als eine Art Diebstahl jener Zeit definiert, die seinem Grundherrn zustand. Umgekehrt wollten die Juristen den Bauern auch nicht zu spät auf dem Acker sehen: Nächtliche Aufenthalte in Forst und Flur galten als Indiz für Wilderei und Holzdiebstahl.
Wenn sich heutige Juristinnen und Juristen, zum Jahresende vielleicht ganz besonders, Gedanken über einzuhaltende Fristen machen, kurz vor Mitternacht vor Faxgeräten stehen oder sich vor den Nachtbriefkästen der Gerichte tummeln – folgt man Blogs mancher Anwälte, ist beides offenbar ein beliebter Juristensport – könnte man das für eine Form ausgleichender Gerechtigkeit halten. Vielleicht funktioniert Generationengerechtigkeit ja so.
Fristen, die man vergessen darf
Während es keine gute Idee ist, von Staats wegen Fristen zu vergessen, gibt es glücklicherweise eine Anzahl von Fristen, die man vergessen darf. Weil es den Staat, der sie verordnete, jedenfalls so nicht mehr gibt. Einem schmalen Bändchen aus dem Jahr 1903, der "Reichsrechtlichen Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel", entnehmen wir Fristen und andere Zeitordnungen, die von Rechts wegen in Vergessenheit geraten sind.
An italienische Lebensart erinnert beispielsweise ein Eintrag zum Stichwort "Vogelschutz". Hier heißt es, dass "das Fangen u. Erlegen von Vögeln mit Leim, Netzen, Schlingen u. Waffen zur Nachtzeit" verboten ist, wobei das Fristenbüchlein "Nachtzeit" hier definiert als "die Zeit, die eine St(unde) vor Sonnenuntergang beginnt u. 1 St(unde) vor Sonnenaufgang endet". Hingewiesen wird auf das Verkaufsverbot von Wildvögeln zum Verzehr zwischen dem 1. März und 15. September. "Nachtzeit" wurde 1903 mindestens vier Mal anders definiert: strafprozessual, vogelschutzrechtlich, weinrechtlich und branntweinrechtlich.
Fremd erscheint heute auch die "Anzeigefrist bei Zuckerfabriken": Die "erstmalige Betriebseröffnung ohne Rübenbearbeitung" sowie "jede Betriebsperiode bei Rübenbearbeitung" waren Wochen, die sechs Wochen vorher den Behörden angezeigt werden mussten. Hintergrund war die 1992 abgeschaffte Zuckersteuer.
2/2: Kondensierte Sozialgeschichte
Manche Fristen und Zeiten sprechen für sich selbst, beispielsweise der Eintrag zu "Arbeitsstunden in Fabriken:
1) für Kinder unter 13 J. unzulässig,
2) für Kinder unter 14 J.: höchstens 6 St. tägl.
3) für junge Leute zwischen 14 u. 16 J.: höchstens 10 St. tägl.
4) für Arbeiterinnen über 16 J.: höchstens 11 St. tägl., an den Vorabenden der Sonn- u. Festtage: 10 St.,
5) für Wöchnerinnen während 4 W. nach Niederkunft unzulässig u. während der folgenden 2 W. nur nach ärztlicher Erlaubnis zulässig"
Rätselhafter dagegen schon das Stichwort zu Fristen bei "Dampf". Es verweist nicht etwa auf die Fabriken, in denen die Urgroßeltern heutiger Steampunk-Freunde damals höchstens zehn Stunden täglich arbeiteten, sondern auf ein bis zum Jahr 2002 einschlägiges Gewährleistungsproblem: "Dampf, Dämpfigkeit beim Verkauf von Pferden, Eseln, Mauleseln zur Nutzung oder Zucht: Hauptmangel mit Gewährleistungsfrist von 14 T." Gemeint sind mit "Dampf" Lungenemphyseme bei den nützlichen Vierbeinern, die Schuldrechtsreform 2002 räumte damit auf.
Beamte, zum Ruhestand sanft genötigt
Viele Fristen handeln vom Militär, überraschend wenige von Beamten. Nach der "Feststellung der Entschädigung" in "Rayonsangelegenheiten" stand z.B. der Rechtsweg "90 T. seit Empfang des Beschlusses" offen. Das ergab sich aus dem "Gesetz, betreffend die Beschränkungen des Grundeigenthums in der Umgebung von Festungen". Um den Feind vor den Mauern einer Festung mit Schüssen "bestreichen" zu können, waren Bauwerke ringsum militärischen Beschränkungen unterworfen. Friedhofssteine durften hier z.B. nicht senkrecht angelegt werden. Die dokumentierten Fristen betreffen hier den Ausgleich von Wertminderungen an Grundstücken in Festungsnähe.
Zu den Fristen des Militärrechts, die – anders als jene zur unerlaubten Abwesenheit oder Fahnenflucht – in Vergessenheit geraten sind, zählen jene zum "Einjährig-Freiwilligen": "Zum Dienst Berechtigte haben die Verpflichtung, sich spät. zum 1. Oktober d.J., in dem sie das 23. Lebensj. vollenden, zum Dienstantritt zu melden." Junge Männer konnten sich durch Schulbildung und Vermögen eine verkürzte Militärdienstzeit und Zugang zur Offizierslaufbahn verschaffen: Im Vergleich mit Abiturstress der Jahre vor 1914 – hing vom Ergebnis auch eine vergleichsweise angenehme Militärdienstzeit ab – dürfte jeder Prüfungsstress der Gegenwart ausgesprochen zivil ausfallen.
Frist- und andere Zeitangaben aus dem Beamtenrecht: Das "Gnadenquartal" bezeichnete jenes Vierteljahr, in dem den Hinterbliebenen von Reichsbeamten "die volle Besoldung des Verstorbenen" zufloss. Eine so wenig ruhmreiche Angelegenheit, dass man konkrete Fristen der Diskretion der Beteiligten überließ, war der "Ruhestand". 1903 kannte die deutsche Rechtsordnung, glaubt man dem Fristenbüchlein, nur die "(un)freiwillige Versetzung richterl. Militärjustizbeamten in den (Ruhestand)", der eintrat, "durch körperl. Gebrechen oder wegen Schwäche der körperl. oder geistigen Kräfte zur Erfüllung der Amtspflichten". Da wurde mit Fristvorgaben sanft genötigt, früher Ruhestand war offenbar wenig erstrebenswert.
Zeitverständnis statt Sprachkritik
Historische Fristen wirken oft possierlich: Zehn Tage nach der Ernte der Blätter waren die Tabakpflanzen zu vernichten. Für die Branntweinbrennerei legte die deutsche Rechtsordnung einst die "Einmaischungszeit" für "Oktober bis März von 6 morgens bis 10 Uhr abends, sonst von 4 bis 10 Uhr" fest, was nicht zuletzt dem Schlafbedürfnis von Finanzbeamten gedient haben wird. Dass Fahrkarten der Bahn nur "auf Abgangsstation bis 5 Min. v. Zugabfahrt" umgetauscht werden konnten, soweit sie noch nicht gelocht waren, zählt ebenso zu den vergessenen Fristen wie eine weitere bahnrechtliche Regelung: "Leichen, Abholung von, hat binnen 6 St. nach Zugankunft zu geschehen; sonst Beisetzung. Kommt die L(eiche) nach 6 Uhr abends an, so zählt die Abholungsfrist vom nächsten Morgen 6 Uhr ab". Da hat die Kühlkette der Bestattungslogistik den Spaten aus der Hand genommen.
Bemerkenswerter als alle Possierlichkeiten ist ein anderes Datum: Insgesamt kam die Sammlung von Fristen im Jahr 1903 auf vielleicht 700 Einträge. Sie erweckt den Anschein, einigermaßen vollständig die von Staats wegen vorgegebenen Fristen zu dokumentieren. Man darf zweifeln, ob ein ähnliches Werk heute noch zu leisten wäre.
Wenn die "Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel" von H. Körner seinerzeit in einer führenden juristischen Fachzeitschrift für die "Zeitersparniß, welche es dem Practiker gewährt" gelobt wurde, greift das zu kurz, denn mit "Practiker" meinte der namenlose Rezensent nur Juristen. Aufmerksamkeit verdient der weitgreifende Anspruch der Fristensammlung: "Ein Wegweiser für jedermann durch das ganze Gebiet der Gesetzgebung" wollte diese juristische "Zeittafel" sein.
Man hat sich daran gewöhnt, dass die Unverständlichkeit der Juristensprache kritisiert wird. Gegen die Masse gesetzlicher Normen zu polemisieren, ist so selbstverständlich geworden, dass selbst beim legendären Umfang des deutschen Steuerrechts kaum jemand stutzig wird.
Als Zielgröße für juristische Verständlichkeit dürfte das nützlicher sein als jede Kritik an Juristensprache und Normendurcheinander: 700 Fristen kennenlernen und das ganze Recht erfassen können.
Martin Rath, "Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel": 700 Fristen, die man vergessen darf . In: Legal Tribune Online, 29.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10479/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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