Eine Frage an Thomas Fischer: Sollte der Staat "Über"- und "Zufalls­ge­winne" ab­schöpfen?

Kolumne von Prof. Dr. Thomas Fischer

05.09.2022

Sie soll kommen: Die Abschöpfung auf Übergewinne bzw Zufallsgewinne. Thomas Fischer beschäftigt sich mit Natur des Zufalls in der Marktwirtschaft und der Frage, ob die Abschöpfung adäquates Staatshandeln auf staatsgemachten Wucher ist? 

Seit einigen Wochen wird rechtspolitisch die Frage diskutiert, ob in Deutschland (und/oder anderen EU-Staaten) eine so genannte "Übergewinn-Steuer" eingeführt werden solle. Als solche wird eine "Steuer" bezeichnet, die von Unternehmen erhoben werden soll, die aufgrund des Ukraine-Kriegs einen so genannten "Übergewinn" realisiert haben oder demnächst realisieren. Seit der Wochend-Klausur der Koalition ist von "Steuer" nicht mehr die Rede, sondern von "Abschöpfung" von Zufallsgewinnen im Rahmen des Energierechts.  

In der Öffentlichkeit wird die Frage überwiegend im Zusammenhang mit Kategorien der "Gerechtigkeit" und der "Gleichmäßigkeit" diskutiert: Es sei, so die These, ungerecht, unmoralisch oder unfair, wenn einzelne Unternehmen oder Branchen aus dem Umstand eines Kriegs unternehmerische Gewinne erzielen, während andere Unternehmen diese Möglichkeit nicht haben oder gar Verluste erleiden und zudem die Masse der Bürger aufgrund des Kriegs und der von der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen unter wirtschaftlichen Einschränkungen leidet. Es handelt sich also um eine Frage im Zusammenhang mit den derzeit leidenschaftlich diskutierten "Be- und Entlastungen". 

Gerechtigkeit im Markt 

Gegen "Gerechtigkeit" kann (und will) niemand etwas sagen. Allerdings beschreibt der Begriff keinen fest umrissenen (Rechts-)Zustand, sondern nimmt ein komplexes Geflecht von Bedingungen, Bewertungen und Regelungen in Bezug, das seinerseits vielfältigen Abhängigkeiten unterliegt und Gegenstand permanenter Aushandlungen und Veränderungen ist. Ein Unternehmen, das rechtzeitige Investitionen in einem Marktsegment vorgenommen hat, das sich durch Umstände welcher Art auch immer besonders lukrativ entwickelt, wird es vermutlich höchst "gerecht" finden, hierdurch höhere Gewinnen als andere zu erzielen; aus Sicht der Verlierer am Markt kann dies aber "ungerecht" sein, etwa wenn es auf Zufällen oder sonstigen Umständen beruht, die nicht als üblicherweise honorierte Leistung anzusehen sind. Das ist – unabhängig davon, wie man es bewertet – das Wesen eines kapitalistischen, privatwirtschaftlichen Marktsystems. 

Wer behauptet, Marktgewinne von Unternehmen oder Einzelpersonen, die auf Umständen beruhen, welche bei anderen Unternehmen und Personen zu Bedrückungen, Verlust, gar zu wirtschaftlicher Not führen, seien "unmoralisch" und ungerecht, stellt damit eine Grundregel des Marktsystems in Frage, dessen Philosophie und Mechanismus ja gerade auf solchen Ungleichgewichten und Ungleichzeitigkeiten beruht. Das wird ganz besonders deutlich im Zusammenhang mit der so genannten Globalisierung, weil aufgrund der gravierenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklungen sich Gewinne erzielen lassen, die innerhalb entwickelter nationaler oder beschränkter Märkte nicht möglich wären. Karl Marx würde sagen: Der "Surplus-Profit" ist das Alpha und das Omega des rational handelnden Kapitalisten. 

Markt und Wucher

Aus Sicht von Kunden, die wegen kriegsbedingter Marktmangellagen plötzlich eklatant höhere Preise für Sprit, Strom, Gas und Öl, vielleicht auch für Sonnenblumenöl oder Backwaren zahlen müssen, mögen sich die Preiserhöhungen der vergangenen Monate allemal wie "Wucher" anfühlen, und bis in die Bundesregierung hinein werden sprachliche Signale gesetzt (vgl. "Volksaufstände", "heißer Herbst", "Massenproteste", "Gelbwestenbewegung"), die Fantasien und Befürchtungen vorrevolutionärer Zustände beflügeln (sollen), in denen die Massen der Armen sich erheben, um die Wucherer und Ausbeuter zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Bild beflügelt politische Bewegungen sehr unterschiedlicher Richtung, hat aber, soweit erkennbar, im Heimatland der ewig zaudernden Mäkler und Hamsterkäufer geringen Realitätsgehalt. 

Der "Wucher" als Straftatbestand ist aber einmal eine Hausnummer, über welche man nachdenken kann. In § 291 Strafgesetzbuch (StGB) wird Wucher mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht; in besonders schweren Fällen ist die Strafe sechs Monate bis zehn Jahre. "Wucher" liegt unter anderem vor, wenn der Täter die "Zwangslage" einer anderen Person dadurch "ausbeutet", dass er sich "für eine Leistung" Vermögensvorteile gewähren lässt, die in auffälligem Missverhältnis zu der Leistung stehen (§ 291 Abs. 1 Nr. 3 StGB); besonders schwer ist der Fall unter anderem, wenn das Ausbeuten "gewerbsmäßig" erfolgt. 

Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass die Strafvorschrift gegen den Wucher ein überaus stumpfes Schwert, wenn nicht gar eine bloße Schwert-Attrappe ist. Die weitaus meisten der (wenigen) Verurteilungen erfolgen wegen Mietwuchers. Taten, deren Erfolg im Ausland eintritt, obwohl die Handlung im Inland erfolgt, werden praktisch gar nicht verfolgt. Die Tatbestandsvoraussetzungen einer "Zwangslage" und des "Ausbeutens" verlangen mehr als bloße Marktknappheit, Erfordernis von Einschränkungen und Streben nach ("Über")Gewinn. Auch die Voraussetzung, dass die wucherischen Vermögensvorteile im "auffälligen Missverhältnis" zur Leistung – gemeint: zum Vermögenswert der Leistung – stehen müssen, ist nach Rechtsprechung und allgemeiner Ansicht nicht schon dadurch erfüllt, dass die gesamte Marktlage massive Preiserhöhungen nach sich zieht und durchsetzbar macht. Der Tatbestand des § 291 StGB findet daher regelmäßig nur dort Anwendung, wo innerhalb eines bestimmten Marktsegments eklatante Vergütungsunterschiede aufgrund konkreter Zwangslagen des Opfers durchgesetzt werden. 

Für die Gewinne von Gaslieferanten bei Ausfall von Quellen oder von Rüstungsunternehmen bei Ausbruch von Kriegen bietet § 291 StGB jedenfalls nach der derzeitigen Rechtslage und Praxis keine Handhabe. 

Staat und Wucher

Anders könnte es allerdings unter Umständen bei den Entgelten von Stromerzeugern sein, die durch gesetzliche Regelungen an den Gaspreis "gekoppelt" sind: Das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) von 2000 bestimmt – zur Förderung der Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen – die Einsatzreihenfolge von Kraftwerken bei der Stromerzeugung. Diese ergibt sich aus den unterschiedlichen Grenzkosten der Kraftwerke. Hieraus entsteht die sog. „Merit order“, also der Effekt, dass der teuerste noch nachgefragte Strom den Preis aller Anbieter bestimmt. 

Aufgrund der sanktionsbedingten Explosion des Gaspreises stellt sich die Berechnungsgrundlage von Kraftwerken aus anderen Quellen inzwischen als irrational dar; der Preis der Leistung "Strom" vervielfacht sich, obgleich dies – teilweise – in "auffälligem Missverhältnis" zu den Einstandskosten steht. Das Pikante an diesem Zustand ist, dass er sich aus den gesetzlichen Regelungen selbst ergibt, der Staat also die (im weiteren Sinn) wucherische Preisgestaltung vorschreibt. Die Bezeichnung als "Zufallsgewinn" durch die Bundesregierung ist daher nicht eben präzise. 

Übergewinn, Steuer und "Abschöpfung"

Um zu klären, was ein "Übergewinn" ist, muss man wissen, was ein "normaler" Gewinn ist. Das könnte der Gewinn sein, der von einem Unternehmen pro Einheit der verkauften Leistung berechnet und realisiert wird: Der Handelsgewinn pro Fass Öl steigt von 50 $ auf 100 $. Es könnte auch der Gewinn sein, der von einem Unternehmen aufgrund einer ungewöhnlichen Marktbelebung erzielt wird: Es werden nicht 20 Haubitzen pro Jahr verkauft, sondern 100. In beiden Fällen ist die Bezeichnung "Über"-Gewinn auf einen (angeblichen) "Normal"-Gewinn bezogen. Der Gewinn (grob gesagt: Einnahmen abzüglich Betriebsausausgaben) ist die Grundlage für die Berechnung der hier in Rede stehenden Steuern (Einkommensteuer/Körperschaftssteuer). Wer mehr Gewinn erzielt, zahlt (als Unternehmen) linear mehr. Umgekehrt: Wer einen nicht erwarteten "Über-Verlust" erleidet, zahlt weniger Steuern. 

Hier kommt die Gerechtigkeit ins Spiel: Machen "systemrelevante" Unternehmen krisenbedingte "Über-Verluste" (z.B. Banken in der "Finanzkrise 2008/2009; zuletzt der Gaslieferant "Uniper"), fordern sie regelmäßig nicht nur die – gesetzlich zwingende – Anerkennung als Gewinnminderung, sondern auch noch weitere, mit dem Verlust allenfalls mittelbar verbundene Steuerbefreiungen oder – unter Hinweis auf Bedeutung und Verantwortung ("Arbeitsplätze") – gleich die komplette Verlustübernahme durch den Staat. Hieraus könnte man ableiten, dass im glücklichen Fall des "Übergewinns" das Umgekehrte gelten müsse: Nicht nur linear höhere Gewinnbesteuerung, sondern gleich Abführung des gesamten Surplus-Profits. 

Gerechter Erfolg oder ungerechter Gewinn? 

Da stößt man allerdings in einem auf Privatvermögen und Gewinn angelegten Marktsystem schnell an normative Grenzen: Warum soll, weil Unternehmen A ein paar Milliarden Staatshilfe erhält, Unternehmen B dafür zahlen? Warum soll es rechtens sein, dass der Satz der Ertragssteuer bei bestimmten Gewinnhöhen rückwirkend bestimmt wird? 

Vor allem aber: Was ist ein überproportional solidaritätspflichtiger "Sonder"-Gewinn, wie grenzt man ihn vom allgemeinen Marktgeschehen ab, und wie berechnet man ihn? Hat – nur beispielhaft - das Unternehmen "Biontec" aufgrund der Covid-19-Pandemie einen abführungspflichtigen Übergewinn erzielt oder den verdienten Ertrag seines Bemühens eingefahren? Muss – wiederum beispielhaft – das Unternehmen Rheinmetall die Hälfte der gewünschten Panzer kostenfrei liefern? Sollen nur Aktiengesellschaften, alle Kapitalgesellschaften, auch Personengesellschaften, Inhaberunternehmen und Freiberufler "Übergewinne" abgeben? Wie viel Übergewinn wurde seit 2020 mit OP-Masken, Desinfektionsmitteln, Testgerätschaften, Computerspielen oder Home-Office-Möbeln erzielt? Wie soll man bei internationalen Konzernen den in Deutschland realisierten "Übergewinn" bestimmen? Warum darf ein in Asien produzierender Textilienhersteller seine Ware in Deutschland zum gleichen Preis verkaufen wie ein inländischer Hersteller mit viermal höheren Produktionskosten? 

"Übergewinn" am Energiemarkt 

Eine "Übergewinnsteuer" wurde derzeit vor allem oder nur für Energieunternehmen geplant/erwogen, die aufgrund des "Merit-Order-Prinzips" Gewinne erzielen, die sie ohne Gaspreisexplosion nicht hätten. Das Abschöpfen soll sich also auf einen Bereich beschränken, in welchem dem "Über"-Gewinn keine messbare "Über"-Leistung gegenübersteht. 

Ob man das Abschöpfen "Steuer", "Krisenabgabe" oder sonst wie nennt, klingt im Prinzip zunächst gleichgültig. Für die gesetzliche Umsetzung und die Systematik ist es allerdings hochbedeutend: Wenn man Einnahmen branchenbeschränkt "abschöpfen" will, kann man keine (für alle geltende) "Sonder-Körperschaftssteuer" einführen, sondern muss, einmal mehr, zum Mittel des selektiven Maßnahmengesetzes greifen. 

Das wirft dann doch noch einmal die Frage nach der Gerechtigkeit auf. Denn bei näherem Hinsehen ist zu konstatieren, dass ein "Zufallsgewinn" keineswegs eine Besonderheit des kriegsbedingten Energiemarktes (und daher besonders "ungerecht") ist, sondern einer der zentralen Antriebsmotoren des globalen Handels überhaupt. Aus Sicht eines Rüstungsproduzenten in Westdeutschland sind ein Krieg in Osteuropa oder ein Bürgerkrieg in Libyen, aus Sicht eines Pharmaunternehmens eine Virus-Pandemie kein bisschen weniger "zufällig" wie für einen Atomkraftwerksbetreiber die Nichtöffnung von "Nordstream 2". Überhaupt sind sehr viele oder gar die meisten außerordentlichen Profitmaximierungen auf Umstände zurückzuführen, die man "Zufall" nennen mag. Der Frage, welche Leistung es rechtfertigen soll, dass sich der Wert von Aktiendepots, Immobilien oder Auslandsvermögen "zufällig" vervielfacht, soll hier nicht näher nachgegangen werden. 

Ich bin weder Steuerrechtler noch Betriebswissenschaftler. Daher will ich mich nicht sehenden Auges aufs fachliche Glatteis begeben. Aus allgemeinem Blickwinkel scheint aber nahezuliegen, dass es sich beim Phänomen des "Übergewinns" eher um ein politisch-symbolisches und jedenfalls nicht um ein steuerrechtliches Problem handelt. Letzten Endes soll in einem "Markt", der diesen Namen eher zur Zierde als zur Beschreibung trägt und wesentlich auch der Umwandlung von öffentlichem in privates Vermögen dient, wieder ein wenig maßnahmenorientierte Wirtschaftslenkung betrieben werden. Man könnte – und will wohl auch – die Strompreisbindung auch einfach aufheben. Dann stellt sich die Frage nach dem "gerechten" Marktpreis neu. Auch damit kommt man allerdings nicht rückwirkend an die "Zufälle" heran, die man selbst geschaffen hat. 

Im Übrigen: Auch wenn die Lösung nicht mittels "Steuer" – und der Folge Jahrzehntelanger steuerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Streitigkeiten – gesucht wird, dürften für die Feststellung der "abzuschöpfenden Zufallsgewinne" Ausweichmöglichkeiten vorhanden sein oder gefunden werden.

Antwort, im Ergebnis: 

"Übergewinne" sind nach geltender Rechtpraxis in der Regel kein Wucher im strafrechtlichen Sinn. Sie sind in einem kapitalistisch-marktwirtschaftlichen System nicht per se unmoralisch oder illegitim, sondern eine systemisch notwendige Folge. Die weiter zunehmende Vermischung staatlicher Wirtschaftslenkung und privaten Wirtschaftens erhöht den "Gerechtigkeits"-Gehalt des Gesamtsystems nicht, sondern begünstigt Lobby- und sektorale Klientelwirtschaft. 

Die derzeit geplante Abschöpfung von "Übergewinnen" ausschließlich im Energiesektor, die keine "Steuer", sondern eine energiepolitische gesetzliche Maßnahme sein soll, enthält Folgeprobleme und Konfliktpotenzial. Die Hoffnung der Bundesregierung auf eine "rasche Einigung in der EU" klingt sehr optimistisch. Und die verfassungsrechtliche Klärung der Frage, wie sich eine die Bevölkerung beruhigende Abschöpfung nachträglich rechtfertigen und gestalten lässt, steht wohl noch aus.

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: Sollte der Staat "Über"- und "Zufallsgewinne" abschöpfen? . In: Legal Tribune Online, 05.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49527/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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