"Ein Schrei in der Dunkelheit": Eine australische Hexenjagd

von Jochen Thielmann

28.07.2012

1980 verschwindet im australischen Outback ein Baby. Es ist der Beginn einer schier endlosen Geschichte, die erst im März 2012 ihr Ende fand. In der Sterbeurkunde des Kindes trugen die Behörden nun als Todesursache den Angriff eines Dingos ein, wie es die Eltern seit über dreißig Jahren fordern. Ein australisches Justizdrama, das 1988 mit "Ein Schrei in der Dunkelheit" von Fred Schepisi verfilmt wurde.

Es sind solche Geschichten, die einen den Kopf schütteln und "unglaublich" flüstern lassen. "Verschleppt von einem Dingo?" So erklärten jedenfalls die Eltern das Verschwinden ihrer neun Wochen alten Tochter Azaria Chamberlain im australischen Outback. Die Blutspuren deuteten darauf hin, dass das Kind zu Tode gekommen sein musste. Zu Beginn der Ermittlungen gaben die Eltern den Medien bereitwillig Auskunft. Als Mitglieder der christlichen Glaubensgemeinschaft "Adventisten des siebten Tages" beäugte die Öffentlichkeit sie jedoch recht schnell argwöhnisch. Zweifel an der Geschichte wurden laut.

Es folgte ein Strafprozess gegen die Eltern, der Jahre dauern sollte. Auf einen Freispruch folgte eine Wiederaufnahme des Verfahrens und eine Anklage wegen Mord. In einem Prozess, der in Australien ein Medienspektakel sondergleichen war, sprach ein Geschworenengericht 1982 die zum damaligen Zeitpunkt erneut schwangere Lindy Chamberlain des Mordes schuldig. Das höchste australische Gericht bestätigte 1984 die Verurteilung mit drei zu zwei Richterstimmen.

Ein Jahr später fand man dann das bis dahin vermisste Strickjäckchen des Kindes, was zur unverzüglichen Freilassung von Lindy Chamberlain führte. Erst 1988 sollten die Chamberlains von aller Schuld am Tod ihres Kindes freigesprochen werden und eine Entschädigung für die Zeit ihrer Inhaftierung erhalten.

Verfilmung aus Sicht der Familie

Zu diesem Zeitpunkt war der Film "Ein Schrei in der Dunkelheit" bereits abgedreht. Der australische Regisseur Fred Schepisi verfilmte die Geschichte, die in Australien bis heute jedes Kind kennt. Der Film zeigt die Geschehnisse ganz aus Sicht der Familie Chamberlain; es wird von Beginn nicht daran gezweifelt, dass Azaria einem Dingo zum Opfer gefallen ist.

"Ein Schrei in der Dunkelheit" ist daher weniger ein Kriminalfilm, als vielmehr eine Studie darüber, wie die sensationslüsternen Medien, die australische Gesellschaft und die Strafjustiz mit diesem tragischen Unglücksfall umgingen.

Schepisi zeigt in vielen kurzen Szenen, wie sich die gesamte australische Öffentlichkeit – unabhängig von sozialer Herkunft oder gesellschaftlicher Stellung – mit dem Fall beschäftigte und sich jeder seine eigene Meinung bildete. Während er die Bevölkerung und die Medien gesichtslos lässt, konzentriert sich der Filmemacher ganz auf Lindy Chamberlain und ihre Familie, die nach dem Tod von Azaria eine weitere Tragödie ertragen müssen.

Der australischen Gesellschaft wird ein Spiegel vorgehalten

Der Strafprozess gegen das Ehepaar Chamberlain ist ein Paradebeispiel für die alte Weisheit, dass gegen eine Lüge, die gerade in Mode ist, keine Wahrheit eine Chance hat. Der Film verdeutlicht sehr genau, dass Lindy Chamberlain durch ihre spezielle Art die gegen sie bestehenden Vorurteile geradezu schürt und auch nicht bereit ist, sich für die Öffentlichkeit zu ändern. Eine Szene während des Prozesses zeigt ein typisches Dilemma der Strafverteidigung: Die Anwälte versuchen, ihrer Mandantin klar zu machen, dass ihr Verhalten bei den Geschworenen nicht gut ankommt; die Angeklagte lehnt es aber ab, sich zu verstellen.

Aus dem Film geht auch sehr gut hervor, welch großen Anteil die gerichtlichen Sachverständigen an der öffentlichen Meinung und dem ersten Fehlurteil hatten. Es ist grotesk zu sehen, wie Wissenschaftler aus Geltungsdrang oder weil ihnen eine kritische Distanz zu ihren Ergebnissen fehlt, den Prozess in eine völlig falsche Richtung führen können. Auch die Geschworenen störte es nicht weiter, dass die Frage nach dem Motiv unbeantwortet bleiben musste.

"Ein Schrei in der Dunkelheit" will den eigenen Landsleuten einen Spiegel vorhalten.  Eine ähnliche Hexenjagd könnte sich aber genauso gut bei uns abspielen. Die Komponenten sind zu gut: ein unglaublich anmutendes Ereignis, ein totes Baby und die Eltern, als Anhänger einer Freikirche, gesellschaftliche Außenseiter.

Ein Happy End bleibt unmöglich

Der Film war in seiner Heimat ein großer Erfolg und erhielt in etlichen Kategorien den australischen Filmpreis. Aber auch außerhalb von Australien erreichte der Film Aufmerksamkeit, wofür insbesondere die herausragende Hauptdarstellerin Meryl Streep sorgte.

Die Eltern werden sicherlich zufrieden sein, dass die Sterbeurkunde von Azaria nun nicht mehr von einer unbekannten Todesursache spricht, sondern endgültig den Vermerk enthält, dass das Kind dem Angriff eines Dingos zum Opfer gefallen ist. Von einem Happy End ist die Geschichte dennoch weit entfernt.

Der Autor Jochen Thielmann ist Fachanwalt für Strafrecht im "Strafverteidigerbüro Wuppertal". Daneben verfasst er neben Fachpublikationen Beiträge über Kinofilme.

Zitiervorschlag

"Ein Schrei in der Dunkelheit": . In: Legal Tribune Online, 28.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6725 (abgerufen am: 03.10.2024 )

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