Eine Leiche unter dem Landtag führt zurück in die triste deutsche Politik- und Rechtsgeschichte, in der so gar nichts im Licht der Aufklärung glänzte. Wem an einem gut sortierten Staat liegt, wird in der Gegenwart fündig, meint Martin Rath.
Vorab eine Bitte: Ganz bestimmt kennen Sie, verehrte Leserin, lieber Leser, den Fernseh-Journalisten Rolf Seelmann-Eggebert? Der Mann hat fast 40 Jahre lang nahezu jede Sendung über den europäischen Hochadel verantwortet (manche sagen: verbrochen) und uns in seinem unnachahmlichen (manche sagen: unerträglichen) Plauderton von den hohen Damen und Herren von edelstem Geblüt erzählt.
Bitte stellen Sie sich vor, es sei Seelmann-Eggebert, der Ihnen diesen Artikel vorliest.
Aber nicht sofort. Für diejenigen, denen diese Vorstellung eher unangenehm ist, folgt zunächst eine Angelegenheit aus bürgerlichen, ja sogar niederen Kreisen – wir sagen aber Bescheid, wann es hier unbedingt Zeit für den Plauderton für Adelsdinge ist.
In den Himmel durch Mord, Hinrichtung = Selbstmord
Für den 15. September 1786 hielt das Gericht unter dem Titel „Votum in Causa Criminale Fiscalis contra Anton Lorenz Ammon, pto. infantic“ protokollarisch fest, dass der Angeklagte, der arbeitslose Krautkrämergeselle Anton Lorenz Ammon, durch das Schwert hinzurichten sei.
Am 19. Juni 1786 war Anna Maria Mallenberg, die Lebensgefährtin Ammons, bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben. Der verzweifelte Kindsvater tötete seine neugeborene Tochter. Vor der "herbeygerufenen Wache" sowie vor Gericht gestand Ammon seine Tat "ohne Zurückhaltung, und bat um Beschleunigung der Todesstrafe, der er absichtlich entgegengeeilt war".
Hamburger Justiz tötet todessüchtigen Melancholiker
In Hamburg, dem Schauplatz dieses düsteren Falls, kam es nach den Feststellungen des Historikers Jürgen Martschukat in den 1770er und 1780er Jahren zu sechs Vorgängen dieser Art: "Mit dem Ziel, auf dem Schafott zu sterben, töteten die Täter oder die Täterinnen ein kleines Kind, da ein solches noch frei von Schuld und somit dessen Seelenheil auch ohne Beichte und Buße vor dem Tod gewiß war."
Die Hamburger Richter notierten in der Akte Ammon, dieser habe mit seiner Tat "im eingewurzelten Vorurtheil des Pöbels“ eine „weniger strafbare Art des Selbstmordes" begangen. Vor seiner Hinrichtung, am 18. Dezember 1786 in der damaligen Vorstadt St. Georgen, erhielt der – nach heutiger Diktion wohl psychisch kranke Mann – eine "rührende Vorbereitung durch Geistliche".
Mit dem öffentlichen Ritual der Strafe ehrte die Gesellschaft den Verbrecher und gab ihm die Hoffnung, vielleicht doch dermal einst ins Himmelreich zu gelangen.
Korruption ist doch kein Verrat? – die seligen Preußen
In den Staaten des Königreichs Preußen hätte mancher Untertan das traurige Ereignis wohl gerne wie eine Adelshochzeit gefeiert, moderiert von Rolf Seelmann-Eggebert. Doch war man zu arm und durch die Kriege des Verstorbenen zu geschunden, außerdem verboten Gesetz und Pietät die öffentliche Freudenbekundung: Drei Monate, bevor der Hamburger Senat den Krautkrämergesellen Ammon aufs Schafott bringen ließ, war in Potsdam der Preußenkönig Friedrich II. (1712–1786) endlich eines natürlichen Todes gestorben.
Mit letzterem war eigentlich nicht zu rechnen gewesen. Nicht allein, dass sich "der Alte Fritz" während der Kriege, in die er seinen Soldatenstaat gegen Österreich führte, wiederholt selbst in lebensgefährliche Situationen brachte. Zehn Jahre vor seinem Thronantritt am 31. Mai 1740, war er in der bekannten Katte-Affäre von der Todesstrafe bedroht.
Die Katte-Affäre, kurz rekapituliert: Friedrich, der von seinem Vater brutal misshandelte, musisch veranlagte Kronprinz, versucht erfolglos, mit seinem Freund, dem Leutnant Hans Hermann von Katte (1704–1730) zu fliehen. Beide werden im Schloss Köpenick vor ein Kriegsgericht gestellt, das Katte zu lebenslanger Festungshaft verurteilt, sich mit Blick auf den Kronprinzen aber für unzuständig erklärt.
Kabinettsjustiz und Reichsverfassungsfrage
König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) verfügt mittels "Allerhöchster Kabinettsorder", dass das Verdikt gegen Katte in ein Todesurteil zu ändern sei. Gegen seinen Sohn verhängt er Festungshaft – die milde Sanktion ist hier nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die "Peers" des Kronprinzen, deutsche Reichsfürsten, beim königlichen Richter-Vater intervenierten.
Denn eine Todesstrafe gegen einen künftigen Reichsfürsten wäre auch ein Verfassungsproblem jenes Heiligen Römischen Reichs geworden, das Friedrich II. mit seinen Kriegen später derart gründlich destabilisierten sollte, dass es der Französischen Revolution kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte.
Soweit, so übel. Nicht zum nostalgischen Bild Friedrichs II. zählt: Der junge Kronprinz war, wie ein Gutteil der preußischen Minister und hohen Beamten, in hohem Maße korrupt. In der Katte-Affäre spielte es aber keine Rolle, dass der Thronfolger sich vom – feindlichen – Hof in Wien mit erheblichen Beträgen ‚schmieren‘ ließ. Als König sollte Friedrich später selbst einiges Geld in französische Philosophen investieren, die sein Bild vom aufgeklärten Fürsten propagierten. Korruption und Public-Relations-Arbeit – schon damals nur unter politischem Vorbehalt eine Sache der Justiz.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20608 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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