Ferdinand von Schirachs neuer Roman: "Rechtsbrüche, zu denen unsere Gesellschaft bereit ist"

von Dr. Markus Sehl

12.10.2013

2/2: "Schreiben ist für mich keine Therapie"

LTO: Immer wieder erleben ihre Figuren für einen Moment einen feinen Riss in ihrem Alltag. Es braucht nur ein Augenblick, um zum Mörder zu werden. Als Anwalt kommen sie erst ins Spiel, wenn alles vorbei ist. Interessiert Sie deshalb das Schreiben? Ist es eine Möglichkeit näher an diesen Moment zu rücken?

von Schirach: Es ist komplizierter. Ich glaube nicht, dass Schreiben eine Therapie ist, zumindest ist es das für mich nicht und ich mag auch keine Bücher lesen, die danach klingen. Alle Kunst, so scheint mir, entsteht daraus, dass der Künstler sich der Welt unsicher ist. Diese Welt passt nicht zu ihm und er passt nicht in sie, er fühlt sich fremd, er glaubt, er gehöre nicht dazu. Er versucht, das alles einmal zu verstehen, die Welt für sich zu ordnen und die Wahrheit zu finden. Balzac erklärte das gut. Er sagte über den Schriftsteller: "Aber hätte ein glücklicher, harmonisch in eine Welt nach seinem Maß eingebetteter Mensch je das Bedürfnis, andere Menschen zu schaffen, eine Vielzahl von verschiedensten Menschen aus sich herauszuholen? Warum sollte man das Leben anderer leben wollen, wenn man sicher und ohne Aufruhr in sich selber ruht?"

LTO: Besitzen Sie so etwas wie einen Karteikartenkasten mit Fällen, die einmal zu Geschichten werden könnten?

von Schirach: Nur meinen Kopf. Ansonsten notiere ich natürlich Redewendungen, Gedanken oder Bilder.

LTO: Wenn Sie immer mehr in den Literaturbetrieb eintauchen, also auf Lesereise gehen und Interviews geben, wie versorgen Sie sich weiter mit dem Stoff aus dem diese abgründigen Geschichten entstehen? Oder liefert der Literaturbetrieb davon selbst auch genug?

von Schirach: Ich mache keine Lesereisen. Interviews gebe ich meistens schriftlich, ich gehe auf keine Veranstaltungen von Schriftstellern, ich unterschreibe keine Aufrufe und ich beteilige mich nicht an irgendwelchen Seminaren. Ich bin also kein bisschen "in den Literaturbetrieb eingetaucht" – im Gegenteil: Die meisten Feuilletonisten und die meisten Schriftsteller betrachten mich als Fremdkörper in ihrer Welt. Das ist auch ganz in Ordnung so. Über den "Literaturbetrieb" werde ich also nie schreiben, ich kenne ihn kaum und er interessiert mich auch nicht besonders. Mich interessieren die Leser.

"Wichtig sind nur die Leser, nur für sie schreibe ich"

LTO: "Tabu" enthält zum Schluss einen ironischen Haftungsausschluss: "Die Geschehnisse beruhen auf wahren Begebenheiten – Wirklich, fragte Biegler?“ Wirklich?

von Schirach: Wirklich?

LTO: Der Kritiker Denis Scheck hat über ihre Stories mal gesagt, sie seien "geborgtes Leben, das Gegenteil von Literatur". Ist die Frage von Biegler eine Antwort darauf?

von Schirach: Ich kritisiere keine Kritiker. Aber diese Aussage ist, fürchte ich, doch ein Irrtum: Ich schreibe ja nicht über wahre Fälle – über "geborgte Leben" – das darf ich schon aus Gründen der Schweigepflicht nicht tun. Andererseits bin ich mir, ohne Kritiker zu sein, ganz sicher, dass Truman Capotes "Kaltblütig" Literatur ist – und es gibt doch wenig Bücher mit mehr "geborgtem Leben". Aber der Vorwurf ist nicht neu, er wurde viel Größeren als mir schon gemacht, etwa Thomas Mann bei den Buddenbrooks. Und umgekehrt beschwerte sich Hemingway einmal bei Scott-Fitzgerald darüber, dass er die wahre Biographie der Menschen in seinen Büchern verändert habe, also über zu wenig "geborgtes Leben".

LTO: Haben es Schriftsteller mit juristischem Hintergrund wie Bernhard Schlink, Juli Zeh oder Sie schwerer, sich in den Feuilletons zu behaupten? Gibt es eine besondere Skepsis gegenüber den schreibenden Juristen?

von Schirach: Es stimmt, dass es Bernhard Schlink mit seinem Welterfolg "Der Vorleser" in den deutschen Feuilletons nicht gerade leicht hatte. Er ist von beinahe dem gesamten "Hochfeuilleton" verrissen worden. Ich erinnere mich an eine Überschrift: "Warum der Vorleser ein wirklich schlechter Roman ist". Ob das daran lag, dass er Hochschullehrer ist, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass seine Bücher so erfolgreich sind. Geschadet haben dem Buch diese Verrisse nicht, heute ist es Schullektüre. Im Ausland wurden Schlinks Bücher immer besser besprochen, meine übrigens auch. Aber im Grunde sind die Besprechungen ohnehin gleichgültig – wichtig sind nur die Leser, nur für sie schreibe ich, nicht für das Feuilleton.

LTO: Vielen Dank für das Interview, Herr von Schirach.

Ferdinand von Schirach ist seit 1994 als Strafverteidiger tätig. Im September 2013 erschien sein zweiter Roman "Tabu".

Die Fragen stellte Markus Sehl.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, Ferdinand von Schirachs neuer Roman: . In: Legal Tribune Online, 12.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9787 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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