Der Rechtsstaat in der Eurokrise: Normalität war gestern

von Daniel Martienssen

27.12.2012

Beschädigte Verfassungsorgane warnten vor einer Verfassungskrise

Hinzu kommt, dass sich die deutschen Verfassungsorgane im Sommer 2012 nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Als Bundespräsident Joachim Gauck gewillt war, ESM und Fiskalpakt bereits nach der Abstimmung im Bundestag und Bundesrat direkt zu unterzeichnen, dröhnte es aus Karlsruhe, wenn Gauck vor Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unterzeichne, drohe eine Verfassungskrise. Gauck machte bekanntlich einen Rückzieher und die Karlsruher Verfassungsrichter prüften während des ganzen Sommers  ESM und Fiskalpakt in einem Prozess zwischen Eilrechtsschutz und Hauptsacheverfahren.

Am 12. September 2012 gab das BVerfG für den ESM und den Fiskalpakt schließlich vorläufig grünes Licht. Nachdem die Europäische Zentralbank seit Herbst 2012 Staatsanleihen krisengeschüttelter Eurostaaten aufkauft, hat der Stabilitätsmechanismus aber an Bedeutung schon eingebüßt, noch bevor er seine operative Arbeit aufnehmen konnte.

Umso ärgerlicher, dass nach diesem Drahtseilakt um den ESM vor allem beschädigte Verfassungsorgane zurückbleiben. Bundesregierung und Verfassungsrichter haben sich in der Eurorettung mehr oder weniger überworfen und versuchen nun notgedrungen, zerschlagenes Porzellan aufzukehren.

Während Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Sommer 2012 öffentlich mit einem Verfassungsreferendum und der damit einhergehenden Entmachtung des höchsten deutschen Gerichts drohte, musste Karlsruhe dem Bundestag seit 2009 mehrmals in Sachen europäische Mitwirkungsrechte zu Lasten der Bundesregierung auf die Sprünge helfen. Das täuscht allerdings nicht darüber hinweg, dass auch die Karlsruher Korrekturen nicht ändern konnten, dass sich die Kräfteverhältnisse von der Legislative zur Exekutive verschoben haben.

Abschied vom schönen Schein statt Ruf nach dem Recht

Der Bundestag hinkt nämlich in der Eurorettung regelmäßig hinterher. Eine Debatte findet praktisch nicht statt. Das liegt vor allem daran, dass die komplexen Rettungsinstrumente für einen durchschnittlichen Abgeordneten schlicht nicht mehr zu begreifen sind und der eingeschlagene Weg aus der Krise kaum mehr umkehrbar ist. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich mit ihrer Regierung auf ihren Rettungskurs längst festgelegt. Wenn aber das Parlament nicht mehr der Ort des repräsentativen Diskurses ist- wo sonst sollte dieser Diskurs geführt werden?

Die Mehrheit der Deutschen, so scheint es, setzt lieber auf eine starke Bundesregierung, die wiederum alles tut, in der Eurokrise zumindest den Schein eines normalen Alltags aufrechtzuerhalten. Dieser Schein strahlt auch nach Südeuropa und vermittelt den Eindruck von Recht und Ordnung, Ruhe und Normalität. Je mehr die Eurokrise an Fahrt aufnimmt, desto größer ist die Gefahr, dass hinter der Fassade auch unsere rechtsstaatlichen Strukturen aufzuweichen beginnen.

Anders aber als der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof in einem Beitrag "Verfassungsnot!" für die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Sommer 2012 argumentierte, wird es nicht ausreichen, einfach das gesetzte Recht auf Biegen und Brechen wieder einzuhalten.

Das Recht allein bewirkt gar nichts. Vor allem gegenüber ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen ist es machtlos. Das Recht gibt die Regeln vor, es regelt die gesellschaftliche Ordnung, nach der wir leben wollen. Wie diese Ordnung aber auszusehen hat, wird  anderswo entschieden. Es wird darauf ankommen, gesamteuropäisch in den Diskurs über unsere gegenwärtige und zukünftige Ordnung zu treten. Und sich vom schönen Schein von Ruhe und Normalität zu verabschieden.

Der Autor Daniel Martienssen ist Rechtsanwalt und freier Journalist. Er schreibt u.a. für die Online-Ausgabe des Magazins Cicero und lebt in Berlin.

Zitiervorschlag

Daniel Martienssen, Der Rechtsstaat in der Eurokrise: Normalität war gestern . In: Legal Tribune Online, 27.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7866/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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